[715] Naturalismus: Natur-Standpunkt, Auffassung, Wertung der Natur als das Ursprüngliche, allein Seiende, als die Mutter, die Urquelle alles Geschehens, auch des geistigen (metaphysischer Naturalismus). Die Natur (s. d.), hier als Inbegriff der raum-zeitlichen Objecte, gilt als die einzige, als die wahrhafte Realität, das Geistige als die secundäre, abgeleitete, abhängige Daseinsweise. Der ethische Naturalismus erklärt das Sittliche (s. d.) aus[715] natürlichen Bedingungen, nicht aus (idealen) Normen, und neigt zur ausschließlichen Wertung des aus den Naturtrieben Entspringenden, des »Auslebens« aller Naturanlagen ohne Hemmung durch den Socialwillen. Der sociologische (geschichtsphilosophische) Naturalismus faßt die Geschichte als Naturproceß, als streng causal (nicht teleologisch) bestimmten Ablauf von Ereignissen. Der ästhetische Naturalismus hält die peinliche Wiedergabe des »Natürlichen«, unmittelbar Vorgefundenen, ohne »Idealisierung« für die wahre Kunst. Der religiöse Naturalismus identificiert die Natur (bezw. Naturobjecte) mit der Gottheit (bezw. mit Göttern).
»Naturalist« bedeutet bei J. BODIN einen die natürliche Erkenntnis als primäre Erkenntnis setzenden Denker (EUCKEN, Terminol. S. 172). G. F. MEIER erklärt: »Ein Naturalist leugnet überhaupt alle übernatürlichen Begebenheiten in der Welt« (Met. IV, 487). Nach KANT ist Naturalismus die Ableitung alles Geschehens aus Naturtatsachen (WW. IV, 111). »Naturalist der reinen Vernunft« ist der, »welcher sich zutraut, ohne alle Wissenschaft in Sachen der Metaphysik zu entscheiden« (Prolegom. § 31). – KÜHNEMANN stellt Naturalismus und Idealismus einander gegenüber. »Der Gegensatz ist schon im Theoretischen wichtig genug. Hier sieht der Naturalismus im Erkennen nichts als die aus der Erfahrungsschulung sich natürlich ergebende Gestaltung unserer Vorstellungen. Der Idealismus aber erweist die – ganz abgesehen von jeder subjectiven Entwicklung – objectiv und notwendig oder logisch gültigen Ideen. In der Lehre vom sittlichen Leben aber kommt der Gegensatz der Ansichten eigentlich zum Austrag. Der Naturalismus sieht auch in den sittlichen Gebilden nur eine irgendwie geartete Gestaltung des natürlichen Geschehens« (Schill. philos. Schrift. S. 22).
Zum metaphysischen Naturalismus gehören die Lehren der ionischen Naturphilosophen, des STRATON aus Lampsacus, der alles aus Naturkräften erklärt und betont: »Omnem vim divinam in natura sitam esse censet« (Cicer., De nat. deor. I, 13, 35). Er leugnet, »opera deorum se uti ad fabricandum mundum, quaecunque sit, docet omnia esse effecta naturata« (Cic., Acad. pr. II, 38,121; s. Seele). Naturalisten sind die Stoiker, Epikureer, LUCREZ. Seine Renaissance erfährt der Naturalismus bei G. BRUNO und andern Naturphilosophen (s. d.), ferner bei VANINI (De admir. naturae regin. 1616), teilweise bei HOBBES, SPINOZA, GASSENDI u. a., ferner im Materialismus (s. d.), welcher eine extreme Form des Naturalismus ist. HOLBACH erklärt: »L'homme est l'ouvrage de la nature« (Syst. de la nat. I, ch. 1, p. 1). Einen naturalistischen Pantheismus lehrt TH. THORILD. Naturalistisch gefärbt ist auch HERDERS Beziehung der Geschichte auf die Naturentwicklung (Ideen zur Philo(s. d.) Gesch.), ist ferner GOETHES Weltanschauung. – Consequenter Naturalist ist L. FEUERBACH, für den die Natur (s. d.) der »Inbegriff des Wirklichen« ist. »Die Rückkehr zur Natur ist allein die Quelle des Heils« (WW. II, 231). Die Natur ist die »Basis des Geistes«, sie bringt den Menschen hervor (WW. II, 236; VIII, 26 ff.). Übernatürliches gibt es nicht. Zum Naturalismus sind ferner zu rechnen CZOLBE, E. DÜHRING, NIETZSCHE, E. HAECKEL, BÜCHNER, LOEWENTHAL (Syst u. Gesch. d. Naturalism.6, 1897) u. a. Einen »naturalistischen Monismus« vertritt F. MACH (Religions- u. Weltprobl. I, 464).
Den praktischen Naturalismus vertreten die Cyniker, die Stoiker mit ihrer Maxime: »naturam sequi« (s. Ethik, Sittlichkeit). Naturalist ist ROUSSEAU, der den »Naturzustand« vor jeder (Pseudo-) Cultur wertet. »L'homme[716] qui médite est un animal dépravé« (Disc. sur l'orig. et les fond. de l'inégal., Oeuvr. 1790, p. 63). »Tout est bien sortant des mains de l'auteur des choses, tout dégenére entre les mains de l'homme« (Emile). Ähnlich lehrt TOLSTOI die Vorzüge des »natürlichen Lebens« gegenüber den Schäden der Cultur. Ethischer Naturalist ist NIETZSCHE, insofern er die natürliche Moral in der »Herrenmoral« erblickt, welche dem »Starken« das Ausleben der Persönlichkeit gewährt (s. Sittlichkeit).
Den Naturalismus bekämpfen die Kantianer, Idealisten, Spiritualisten (s. d.). Vgl. A. J. BALFOUR (The Foundations of BelS. ROYCE (The Idea of Immortality 1900).