[454] Naturalismus (lat.), die Betreibung einer Kunst oder Wissenschaft nicht infolge und im Sinn eines strengen, regelrechten Studiums, sondern auf Grund natürlicher Anlage oder Begabung, also in tadelndem Sinn ohne Anleitung und Schulung. Im philosophischen Sinne bezeichnet N. die Verwerfung aller Glaubenssätze, von deren Gültigkeit man sich nicht durch eignes Denken überzeugt hat. Er unterscheidet sich vom (theologischen) Rationalismus dadurch, daß er die Tatsache der Offenbarung selbst leugnet, während dieser sich nur das Recht zur Prüfung der geoffenbarten Lehren gewahrt wissen will. In der Malerei nennt man N. als Gegensatz des Idealismus die Kunstrichtung, die in der möglichst treuen Nachahmung der Natur und des wirklichen Lebens die höchste Aufgabe der Kunst sieht und auf jede Abweichung von der Natur durch Stilisierung oder Idealisierung verzichtet. Wenn man unter N. nur den engen Anschluß an die Natur, ohne persönliche Zusätze des Malers, versteht, so waren schon die van Eyck und ihre Schüler und Nachfolger, die Meister der kölnischen Schule, Dürer und Holbein, Naturalisten. Zu einem künstlerischen Prinzip wurde der N., mit entschiedener Neigung zum Charakteristischen und oft zum Häßlichen, im 17. Jahrh. in Italien durch Caravaggio, in den Niederlanden durch Rubens, vornehmlich aber durch Jordaens und durch Rembrandt und seine Schule ausgebildet. In der modernen Kunst bezeichnet man unter N. im Gegensatz zum Realismus (s. d.), mit dem er sich oft berührt, und der ebenfalls ein treues Abbild der Wirklichkeit geben will, die Darstellung der alltäglichsten Gegenstände, besonders aus dem Leben der untern Volksschichten. Sein bedeutendster Vertreter war der Franzose Gustave Courbet (s. d.). Durch französische und holländische Einflüsse hat der N. auch in Deutschland viele Anhänger gewonnen, besonders in M. Liebermann, F. v. Uhde und ihren Nachfolgern. Während die geringern Künstler oft in eine völlig triviale Naturnachahmung verfielen, haben es die bedeutenden Vertreter des N. verstanden, durch geistvolle Verwendung der Farbe und des Lichtes auch aus ganz unscheinbaren Vorwürfen ergreifende Kunstwerke zu gestalten. Genau dieselbe Rolle wie in der bildenden Kunst hat der N. in der Poesie gespielt; auch hier ist er vorwiegend in neuester Zeit zur Geltung gelangt, hat aber bereits seinen Höhepunkt überschritten. Er hat sich über die gesamte Literatur Europas verbreitet und sich in allen Gattungen (Roman, Drama, Lyrik) kundgegeben; als das größte naturalistische Talent darf Zola betrachtet werden; in Deutschland haben sich Gerhart Hauptmann, Sudermann u.a. in manchen Dichtungen dem N. angeschlossen. Es ist aber zu beachten, daß der Begriff des N. fließend ist, und daß zu manchen Zeiten das als naturalistisch verschrieen wurde, was zu andern als besonders lebenswahr und charakteristisch erschien; soweit sich der N. auf eine bloße Wiedergabe des Zufälligen, Alltäglichen und Häßlichen beschränkt, ist er als Gegensatz künstlerischer Neuschöpfung des Lebens unbedingt zu verurteilen. Vgl. Valentin, Der N. und seine Stellung in der Kunstentwickelung (Kiel 1891); Reißmann, Der N. in der Kunst (Hamb. 1891); L. Berg, Der N. (Münch. 1892).