Naturalismus

[713] Naturalismus, 1) überhaupt die nicht durch ein strenges Studium der Regeln, sondern lediglich durch natürliche Anlage u. subjective Neigung geleitete Beschäftigung mit einer Wissenschaft od. Ausübung einer Kunst; daher hat das Wort die tadelnde Nebenbedeutung eines Mangels an Disciplin u. Vertiefung, welche durch ein strenges schulmäßiges Studium erworben wird; 2) in der Theologie u. Philosophie die Ansicht, daß über religiöse Fragen nach denselben Grundsätzen u. mit denselben Hülfsmitteln des Denkens entschieden werden könne od. müsse, wie über Fragen der Naturwissenschaften; daher bald die Ansicht, daß der religiöse Glaube im Gegensatze zur Offenbarung auf die Ergebnisse des natürlichen Vernunftgebrauchs beschränkt sei (die entgegengesetzte Ansicht ist dann Supernaturalismus, s.d.); bald die, daß die Natur als Ganzes die Bedingungen ihrer Existenz in sich selbst habe, u. es zu ihrer Erklärung der Annahme einer über ihr stehenden Intelligenz nicht bedürfe; 3) in der Ästhetik die Richtung der Kunst, welche das höchste Ziel derselben durch die möglich treueste Nachahmung der Wirklichkeit erreichen zu können glaubt. Da hierin die Aufgabe einer möglich weitest geführten Individualisirung der Darstellung liegt, die gemeine Natur aber mehr u. schärfere Eigenthümlichkeiten zeigt, als die durch Schönheit u. Bildung veredelte, so bewegt sich der künstlerische N. vorzugsweise auf dem Gebiete jener. Die geistreichsten Naturalisten waren im 17. Jahrh. in Italien Caravaggio u. seine Genossen; vorzugsweise huldigten der naturalistischen Richtung die niederländischen Maler; in neuerer Zeit gehören hierher die vielfachen zum Theil sehr glücklichen u. geistreichen Darstellungen von Scenen des gewöhnlichen Lebens, welche die deutsche, französische u. niederländische Malerei hervorgebracht hat. Der künstlerische N. findet oft vielen Beifall, weil seine Darstellungen der großen Mehrzahl am faßlichsten sind; aber während namentlich die bildende Kunst ohne einen gefunden N. kaum ein kräftiges Leben führen kann, ist ein roher N. eine gefährliche Klippe für sie.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 713.
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