Nichts

[730] Nichts (nihil mê on non ens) ist das contradictorische Gegenteil des Etwas, das Nicht-Etwas, der Ausdruck der Verneinung, Negation (s. d.) aller Merkmale, event. auch des Merkmals des Seins (absolutes Nichts). »Aus nichts wird nichts«: Grundsatz der Causalität (s. d.). Die »Schöpfung (s. d.) aus nichts« bedeutet die Unabhängigkeit des göttlichen Schaffens von einer außer Gott vorhandenen Wesenheit.

Der theoretische Nihilismus (s. d.) des GORGIAS erklärt: ouk estin es ist nichts (in Wahrheit). Ein relatives Nichts mê on ist nach PLATO (und PLOTIN) die Materie (s. d.). Das Nichtsein mê einai, mê on bedeutet das Anderssein als das Sein (Sophist. 257 B, 258 B). – Das Nichts, aus dem nach der Lehre der Heiligen Schrift Gott die Welt geschaffen (vgl. AUGUSTINUS, De civ. Dei XII, 2), ist nach SCOTUS ERIUGENA das eigene Wesen Gottes (De div. nat. III, 19; 21). »Ex igitur nomine q. e. nihilum, negatio atque absentia totius essentiae vel substantiae, immo etiam cunctorum, quae in natura creata sunt, insinuantur« (l.c. III, 5). FREDEGISUS erklärt, das »Nichts« sei, da jeder Name etwas bezeichne, ein Etwas (Migne, Patrol. T. 105, p. 752). Ähnlich lehren die Motaziliten. Absolutes und relatives Nichts unterscheidet DUNS SCOTUS. Als das Nichts wird Gott (s. d.) von der Kabbalâ bezeichnet (s. Ensoph). Nach ECKHART war das Nichts eher als das »Ichts«, sich selber unbekannt (Deutsche Myst. II); im Verhältnisse zu Gott sind die Einzeldinge nichts. – Nach CAMPANELLA besteht jedes endliche Wesen aus Sein und Nichtsein; Gott ist Überseiendes, nichts von allem Endlichen. Jedes Ding ist »compositio entis et non-entis« (Univ. philos. II, 6). R. FLUDD nennt die formlose Materie ein Nichts (Philos. Mos. I, 3, 2). – ERH. WEIGEL erklärt das Nichts als »id, quod[730] cogitamus, quando plane non cogitamus« (Philos. math. sct. I, def. 2). CHR. WOLF definiert: »Was weder ist, noch möglich ist, nennet man nichts« (Vern. Ged. I, § 28). »Nihilum dicimus, cui nulla respondet notio« (Philos. rat.). Nach BOUTERWEK erzeugt das Denken das »reine Nichts«, wenn es von allen Gegenständen der Sinne abstrahiert (Lehrb. d. philos. Wissensch. I, 101).

Nach SCHELLING wird das Absolute zuerst als nichts, als ohne gegenständliches Sein, als reine Wesenheit gedacht (WW. I 10, 100). HEGEL behauptet die inhaltliche Einerleiheit des reinen Seins (s. d.) und seines Gegensatzes, des Nichts; beide sind »reine Abstraction, damit das Absolut-Negative«. Das reine Sein ist das Nichts wegen seiner »reinen Unbestimmtheit« (Encykl. § 87). Aus diesem Nichts des reinen Seins geht dialektisch (s. d.) die Welt hervor. L. FEUERBACH erklärt: »Das Nichts ist das absolut Gedanken- und Vernunftlose. Das Nichts kann gar nicht gedacht werden« (WW. II, 223). »Der Gegensatz des (allgemeinen) Seins... ist nicht das Nichts, sondern das sinnliche, concrete Sein« (l.c. S. 206). HAGEMANN erklärt: »Der Begriff des Nichts setzt... den des Seins voraus und ist nur als Gegensatz zu diesem denkbar. Beide Begriffe kommen aber darin überein, daß sie ohne alle Bestimmtheit sind« (Met.2, S. 13). »Nichtdasein« ist »ein bestimmtes Sein, welches unabhängig vom Denken nicht wirklich ist, aber als solches gedacht und erkannt wird, das existieren kann« (l.c. S. 14). Nach TWARDOWSKY ist das »Nichts« ein synkategorematischer (s. d.) Ausdruck, es bedeutet keine Vorstellung (Inh. u. Gegenst. d. Vorstell. S. 35). Nach H. COHEN ist der Begriff des Nichts nicht ein Correlatbegriff zum Sein, sondern nur ein Durchgang zum Sein (Log. S. 77). Vgl. Sein.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 730-731.
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