Norm

[733] Norm (norma) ist eine Regel, die für eine Sphäre von Geschehnissen, Handlungen Gültigkeit, Befolgung verlangt, ein Maßstab, den wir an die Beurteilung, Wertung von Gegebenem heranbringen. Die logischen, ethischen, ästhetischen Normen sind im Wesen, in der Gesetzmäßigkeit unseres Geistes, unseres Denkens, Wollens, Fühlens gegründet. Die Normen stammen daher nicht aus der Erfahrung, sondern sind a priori (s. d.), als subjective Bedingungen von Urteilen, die auf Allgemeingültigkeit Anspruch machen, für jeden Geist, für jede Vernunft gelten wollen; durch innere Erfahrung werden sie uns bewußt.

MICRAELIUS definiert: »Norma est regula, ad quam aliquid constituitur seu efficitur« (Lex. philos. p. 716). – BENEKE leitet die Allgemeingültigkeit der praktischen Normen aus den bei allen gleichartigen psychologischen Processen ihrer Bildung ab (Lehrb. d. Psychol.3, § 257 ff.). Nach WINDELBAND ist die Norm »eine bestimmte, durch die Naturgesetze des Seelenlebens herbeizuführende Form der psychischen Bewegung«. Eigentümlich ist ihr »die Beziehung auf den Zweck der Allgemeingültigkeit« (Prälud. S. 224 f.). »Normen sind diejenigen Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen, welche unter Voraussetzung des Zwecks der Allgemeingültigkeit gebilligt werden sollen« (l.c. S. 226). Das normative Bewußtsein verhält sich auswählend (ib.). »Mit unmittelbarer Evidenz knüpft sich an das Bewußtwerden der Norm eine Art von psychologischer Nötigung, sie zu befolgen« (l.c. S. 237). Der Ablauf der Vorstellungen selbst führt zum Bewußtsein der Normen, und dann »wird die Norm zu einer ordnenden und bestimmenden Macht in dem mechanischen Ablauf selbst und führt in vollkommen naturgesetzlicher Weise ihre eigene Realisierung herbei«. Darin besteht ihre Freiheit. Diese ist »Herrschaft des Gewissens«,[733] »die Bestimmung des empirischen Bewußtseins durch das Normalbewußtsein« (l.c. S. 238 f.). Nach WUNDT sind Normen »Regeln, welche für bestimmte Erscheinungen gültig sein sollen, ohne daß diese ihnen in allen Fällen wirklich folgen« (Log. II, 513). »Den drei... einfachen Willenstätigkeiten, dem logischen Denkart, der willkürlichen Phantasievorstellung und der willkürlichen Handlung, entsprechen dreierlei Normen, welche das logische, künstlerische und sittliche Denken ttliche Denken in allen ihren Gestaltungen beherrschen.« Diese Normen machen sich in Gefühlen geltend, bevor sie begrifflich formuliert werden. Die Einheitlichkeit des Willens bedingt den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Normen (l.c. S. 513 f.). In der Forderung einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit des Seins überträgt unser logisches Denken seinen eigenen normativen Charakter auf seine Gegenstände (Eth.2, S. 8). Im weiteren Sinne ist Norm jeder »Satz, den wir irgend einem Gebiet von Tatsachen als eine Forderung entgegenbringen«. Im engeren Sinne ist sie eine »Willensvorschrift«, »sie bezeichnet unter verschiedenen Arten möglicher Handlungen diejenige, die bevorzugt werden soll« (Eth.2, S. 539 f.). Es gibt »Grundnormen« und »abgeleitete Normen«, »gebietende« und »verbietende« Normen (l.c. S. 541). Die sittlichen Normen zerfallen (nach den Zwecken) in individuale, sociale, humane Normen (subjectiv und objectiv) (l.c. S. 557). »Sobald Normen verschiedener Gattung in Widerstreit treten, ist der Vorzug jener zu geben, die dem umfassenderen Zwecke dient: dem individuellen geht der sociale, dem socialen der humane Zweck vor« (l.c. S. 548). Nach SIMMEL sind die (logischen) Normen »nichts als die Arten und Formen der Relativitäten selbst, die sich zwischen den Einzelheiten der Wirklichkeit, sie gestaltend, entwickeln. Eben deshalb können sie als das Absolute auftreten, da sie freilich selbst nicht relativ, sondern die Relativität selbst sind« (Philo(s. d.) Geld. S. 77). Nach C. STANGE entstehen ethische Normen dadurch, daß wir »Musterbilder der ethischen Verhältnisse entwerfen« (Einl. in d. Eth. II, 140). H. CORNELIUS erklärt: »Da die Bestimmung unseres Strebens durch höhere Werte ihrerseits als die wertvollere gegenüber jeder Bestimmung durch minderwertige Ziele charakterisiert ist, so ist die erstere Bestimmung stets diejenige, nach welcher wir unser Verhalten richten sollen. Jede allgemeine Bestimmung eines Rangunterschiedes höherer und geringerer Werte ist daher zugleich eine normative Bestimmung für unser praktisches Verhalten, d.h. für unser Streben und Handeln« (Einl. in d. Philos. S. 345). Nach HUSSERL setzt jeder normative Satz eine Werthaltung voraus (Log. Unt. I, 43). Jeder Satz ist normativ, der »irgend welche notwendige oder hinreichende, oder notwendige und hinreichende Bedingungen für den Besitz eines solchen Prädicats ausspricht« (l.c. S. 44). Vgl. SCHUPPE, Die Normen des Denkens, Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. 7. Bd., S. 385 ff.; SIGWART, Log. II2, 730. – Vgl. Sittlichkeit, Denkgesetze, Imperativ, Idee, Normativ.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 733-734.
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