[576] Unterscheidung (distinctio, diakrisis, diorismos) ist eine Function der Apperception (s. d.), bestehend in der mehr oder weniger deutlichen Abgrenzung von Bewußtseinsinhalten, in der activen Feststellung, Klarlegung von Unterschieden, Verschiedenheiten, Andersheiten. »Unterschied« ist etwas Primäres, nicht weiter Zurückzuführendes, es gehört mit der Gleichheit (s. d.) zum Wesen des Bewußtseins. Von dem bloßen »Erleben von Unterschieden« ist das klare »Bewußtsein des Unterschiedes« und von diesem die Reflexion auf den »Act des Unterschiedes« als höhere Stufe zu sondern. Ferner muß nicht alles, was objectiv, d.h. denkend-wissenschaftlich, zu unterscheiden ist, auch subjectiv-individuell unterschieden werden, und es kann umgekehrt das Einzelsubject Unterschiede setzen, wo sie objectiv nicht zu Recht bestehen: psychologisches und logisches Unterscheiden (Urteile über Verschiedenheiten, Trennungen von Begriffen). Das Unterscheiden als solches ist immer ein subjectiver Act, der aber objectiv fundiert sein kann, so daß schließlich den festen, durch das Denken nicht zu eliminierenden Unterschieden der Dinge und Eigenschaften bestimmte Verhältnisse im Transcendenten (s. d.) entsprechen müssen. Die Ur – Unterscheidung ist die, durch welche das Bewußtsein sich in Subject[576] (s. d.) und Objectenwelt (s. d.) und diese in Einzeldinge mit Einzeleigenschaften sondert.
Ein Unterscheidungsvermögen (kritikon) kommt nach ARISTOTELES der Seele zu (De an. III 9, 432 a 16). Quantitativen und qualitativen Unterschied giebt es: Diaphora legetai hos' hetera esti to auto ti onta, mê monon arithmô, all' ê eidei ê genei ê analogia (Met. V 9, 1018 a 12 squ.). – Die Scholastiker unterscheiden »distinctio essentialis, realis, formalis, quidditatis«. So insbesondere die Scotisten. Die »formale« Unterscheidung ist nicht real, aber doch in den Dingen selbst begründet, ist »ex natura rei«: DUNS SCOTUS, In l. sent. 1, d. 2, 7. vgl. FR. MAYRONIS (In 1. sent. 1, d. 8, 1. GOCLEN, Lex. philos. p. 595). Nach den Scotisten besteht zwischen dem allgemeinen Wesen der Dinge und deren Individualität, Einzelheit nur eine »distinctio formalis« (DUNS SCOTUS, In 1. sent. 2, d. 3, 6). daher heißen sie »formalizantes«, Formalisten. – »Distinctio realis dicitur etiam distinctio rei et distinctio praecisa ab omni operatione intellectus, qua nempe conceptus obiectivus est alius a conceptu formali i.e. qua res praeter mentis operationem sunt differentes.« Sie ist entweder »essentialis« (»eorum, quae essentia distinguuntur«, z.B. Körper und Geist) oder »causalis«, »subiectiva«, »accidentalis«, »generica«, »specifica«. Die »distinctio rationis« ist jene, »qua in mente nostra rebus imponitur distinctio« (z.B. von rechts und links). »Distinctio formalis est, quorum unum sumitur in definitione alterius« (z.B. Mensch und Lebewesen). »Distinctio virtualis est cum ex operationibus diversis arguitur in eadem re distinctio«. »Distinctio modalis est, quae sit secundum diversos modos« (MICRAELIUS, Lex. philos. p. 338 f.).
DESCARTES erklärt: »Distinctio triplex est: realis, modalis et rationis. Realis proprie tantum est inter duas vel plures substantias. Et has percipimus a se mutuo realiter esse distinctas, ex hoc solo, quod unam absque altera clare et distincte intelligere possimus« (Princ. philos. I, 60). »Distinctio modalis est duplex. alia scilicet inter modum proprie dictum, et substantiam, cuius est modus. alia inter duos modos eiusdem substantiae« (l. c. I, 61). »Denique distinctio rationis est inter substantiam et aliquod eius attributum, sine quo ipsa intelligi non potest. vel inter duo talia attributa eiusdem alicuius substantiae« (l. c. I, 62). Nach HUME sind alle Vorstellungen, welche verschieden sind, trennbar (Treat. I, sct. 7, S. 39). Die »distinction of reason« (gedankliche, begriffliche Unterscheidung, z.B. zwischen Gestalt und gestaltetem Körper) schließt weder eine Verschiedenheit noch eine Trennung ein, sondern beruht auf der Betrachtung eines und Desselben nach verschiedenen Gesichtspunkten (l. c. S. 39 f.), beruht darauf, »daß dieselbe einfache Vorstellung diesen Vorstellungen in dieser, jenen in jener Hinsicht ähnlich sein kann« (l. c. II, sct. 6, S. 91). Nach CONDILLAC ist die Unterscheidung eine Wirkung der Aufmerksamkeit (Trait. d. sens. I, ch. 2, § 42). – KANT betont: »Es ist ganz was anderes, Dinge voneinander unterscheiden, und den Unterschied der Dinge erkennen. Das letztere ist nur durch Urteilen möglich.« »Logisch unterscheiden heißt erkennen, daß ein A nicht B sei, und ist jederzeit ein verneinendes Urteil. physisch unterscheiden heißt, durch verschiedene Vorstellungen zu verschiedenen Handlungen getrieben werden« (Von d. falsch. Spitzfind. § 6).
J. G. FICHTE definiert: »Gleichgesetztes entgegensetzen heißt, sie unterscheiden« (Gr. d. g. Wissensch. S. 29. vgl. Ich). Nach CALKER ist Unterscheidung »das gleichzeitige Zusammenfassen mehrerer Vorstellungen und die [577] Wahrnehmung des Unähnlichen und Ungleichen in denselben« (Denklehre, S. 270f.. vgl. BACHMANN, Syst. d. Log. S. 411, u. andere logische Lehrbücher). – Nach K. ROSENKRANZ ist der Unterschied »das Anderssein überhaupt«, wie es auf die Identität bezogen wird als a. unbestimmter, b. bestimmter Unterschied (Syst. d. Wissensch. S. 51 f.). – Nach W. ROSENKRANTZ kommt es zum Wissen erst dann, »wenn wir uns selbst von dem Ding außer uns unterscheiden und das Ding als uns vorgestellt anschauen. Wir müssen also uns und das Ding voneinander trennen und beide in unserem Bewußtsein wieder miteinander verbinden« (Wissensch. d. Wiss. I, 10 f.). Als die Grundtätigkeit der Seele, die Urbedingung alles Bewußtseins, die Quelle der Kategorien (s. d.) der Trennung von Object- und Selbstbewußtsein (s. d.) u.s.w. betrachtet das Unterscheiden ULRICI (Leib u. Seele, S. 324. vgl. Log. S. 86 ff.). – Nach HAGEMANN ist die logische Unterscheidung »die Abgrenzung eines Begriffes nicht gegen alle, sondern nur gewisse, ihm nahe verwandte Begriffe« (Log. u. Noët. S. 83. vgl. Met.2, S. 23).
FECHNER betont, es sei die »Empfindung eines Unterschiedes nicht zu verwechseln mit Unterschieden von Empfindungen« (Elem. d. Psychophys. II, 83). VOLKMANN erklärt: »Zwei Vorstellungen als solche, d.h. als Qualitäten unterscheiden, hat einen doppelten Sinn, den bloß negativen des Bewußtwerdens ihrer Nichtidentität und den positiven des Bewußtwerdens der Vorstellungen in ihrer Doppelheit und Geschiedenheit, oder kurz: des Gegensatzes und des Entgegengesetzten. Als unterschieden in der ersten Bedeutung erscheinen uns alle Vorstellungen, deren Hemmung uns zum Bewußtsein kommt, was wieder dann der Fall ist, wenn die Hemmung eine solche Größe erreicht und unter solchen Umständen sich vollzieht, daß sie Gegenstand der innern Wahrnehmung wird.« »Die zweite Form des Unterscheidens führt auf die Herstellung und Anwendung von Raumreihen zurück. Wird nämlich ein Gesamteindruck gleichzeitiger Vorstellungen vorwiegend im Sinne einer der Vorstellungen bestimmt, und wiederholt sich die besondere Begünstigung dieser Vorstellung constant, während die übrigen Vorstellungen wechseln, so eliminiert sich die betreffende Vorstellung infolge der Verschmelzungen und Hemmungen zu einer selbständigen, mehr oder weniger reinen Qualität.« »Man ersieht hieraus, daß das eigentliche Unterscheiden des Gleichzeitigen auf einem Auseinanderlegen desselben in die Raumform beruht, wie umgekehrt nur, was im Nebeneinander vorgestellt wird, bestimmt unterschieden wird« (Lehrb. d. Psychol. II4, 61 ff.). STUMPF bemerkt: »Unterschieden wird nur, was getrennt wahrgenommen worden ist« (Üb. d. psychol. Urspr. d. Raumvorstell. S. 32). Zur Unterscheidung bedarf es der Erinnerung (l. c. S. 139). Nach REHMKE ist das Unterscheiden die »eigenartige Wirksamkeit des Bewußtseins überhaupt, auf Grund deren die Seele... das Bewußtsein von einer Mehrzahl oder von mehreren Besonderen hat« (Allgem. Psychol. S. 481). Sie ist die erste Denktätigkeit (l. c. S. 485). Nach SCHUPPE ist die Unterscheidung Negation. »Um die Verschiedenheit, oder daß das eine nicht das andere ist, im Bewußtsein zu haben, ist sozusagen die Fixierung der positiven Bestimmtheit oder ihre Aufnahme unerläßlich, aber man darf das Fixieren und Aufnehmen nicht als eine subjective Tätigkeit denken, sondern nur als das Bewußtsein von dieser positiven Bestimmtheit, durch welche eben erst Unterscheidbarkeit von anderem möglich wird« (Log. S. 39). Auch nach SCHUBERT-SOLDERN ist die Unterscheidung kein besonderer Act »Was vorhanden ist, ist immer nur voneinander unterschiedener Inhalt. Diese Beziehung des Unterscheidens[578] von Daten, insofern sie unter bestimmten Bedingungen eintretend gemacht wird, natürlich mit den unterschiedenen Daten selbst, ist dann das Unterscheiden oder die Unterscheidung« (Gr. ein. Erk. S. 101). Nach WUNDT ist die Unterscheidung eine Teilfunction der Vergleichung (s. d.), »Feststellung von Unterschieden«. »Natürlich bestehen in unseren psychischen Vorgängen Übereinstimmungen und Unterschiede, und ohne daß sie vorhanden wären, würden wir sie nicht bemerken können. Immer aber bleibt die vergleichende Tätigkeit, die diese Verhältnisse der Empfindungen und Vorstellungen feststellt, eine von ihnen verschiedene Function, die zu ihnen hinzutreten kann, aber nicht notwendig hinzutreten muß« (Gr. d. Psychol.5, S. 305). Nach R. AVENARIUS ist der »Unterschied« eine Setzungsform des Aussagens (Krit. d. rein. Erfahr. II, 99).
FOUILLÉE erklärt: »Le sentiment de différence est dynamique: c'est celui de la passion provoquant réaction, de la résistance provoquant une exertion de puissance.« »Dire: telles choses different, revient à dire: il y a efforts de telle classe à telle classe.« Das Bewußtsein des Unterschiedes ist »sensori-moteur«, ein »sentiment interne et central«. Das unterscheidende Urteil ist »la réflexion sur le sentiment de différence« (Psychol. d. id.-forc. I, 287 ff.). »Tout sentiment de relation est dans la conscience un sentiment de transition« (l. c. p. 283. vgl. BARATT, Physical Ethics, App. 3). Nach RIBOT ist die »perception d'une différence« Grundtatsache des Bewußtseins (Psychol. Angl.2, p. 423). Das ist die Ansicht besonders englischer Psychologen, zunächst von A. BAIN. »Discrimination or feeling of difference is an essential of intelligence« (Ment. and Mor. Sc. II, p. 82 f.). Das begründet die »law of relativity« (s. d.. l. c. p. 83). Danach beruht alle Wahrnehmung auf Veränderung, Unterschied unserer Erlebnisse. »In order to make us feel, there must be a change of impression. whence all feeling is two-sided. This is the law of discrimination or relativity« (Log. I, 2). Ähnlich lehrt H. SPENCER (vgl. E. Pace, Das Relativitätsprincip in H. Spencers psychol. Entwicklungslehre, Philos. Stud. VII, 487 ff.), HÖFFDING (Psychol.2, S. 149 ff., 383 ff.), LADD (Psychol. descript. p. 661 ff.), welcher das Unterscheiden als »primary intellection« bezeichnet, u. a. Nach W. JAMES ist die Unterscheidung (discrimination) eine Grundeigenschaft des Bewußtseins neben der der »conception« (Zusammenfassung). Außer der directen Unterscheidung gibt es Sonderung der Elemente aus einem Bewußtseinscomplexe, Abstraction als »singling out«. Es besteht eine »law, of dissociation by varying concomitants« (Princ. of Psychol. I, 483 ff., 505 ff.). Die synthetische Function ist die »conception«, d.h. »the function by which we thus identify a numerically distinct and permanent subject of discourse« (l. c. I, 461 ff.). E. DÜHRING spricht von einem »Gesetz der Differenz«, vermöge dessen sich der Kräftegegensatz und die zugehörige Empfindung steigern. Jede Empfindung beruht auf Differenz. »Wie jede wirkliche Kraftentwicklung eine Differenz voraussetzt und in Beziehung auf eine Gegenkraft, je nach der Größe des Unterschiedes, eine mehr oder weniger intensive Veränderung hervorbringt, so ist auch im Bereich des Bewußtseins die Abweichung der Zustände, die Aufeinanderfolge, ein Maß des dadurch entstehenden Lebensgefühls« (Wert d. Leb.3, S. 84). Vgl. Verschiedenheit, Unterschiedsempfindlichkeit.
Buchempfehlung
Nach einem schmalen Band, den die Droste 1838 mit mäßigem Erfolg herausgab, erscheint 1844 bei Cotta ihre zweite und weit bedeutendere Lyrikausgabe. Die Ausgabe enthält ihre Heidebilder mit dem berühmten »Knaben im Moor«, die Balladen, darunter »Die Vergeltung« und neben vielen anderen die Gedichte »Am Turme« und »Das Spiegelbild«. Von dem Honorar für diese Ausgabe erwarb die Autorin ein idyllisches Weinbergshaus in Meersburg am Bodensee, wo sie vier Jahre später verstarb.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro