Leges barbarorum

[573] Leges barbarorum, Volksrechte, heissen die ältesten Rechtsaufzeichnungen der germanischen Stämme nach der Völkerwanderung. Vor der Völkerwanderung hatten die Germanen keiner geschriebenen Gesetze bedurft; erst als sie sich nach den Kämpfen mit den Römern teilweise auf römischem Boden niedergelassen und neue Staaten gebildet hatten, in welchen Deutsche und Römer nebeneinander lebten und die Verhältnisse verwickelter geworden waren, trat das Bedürfnis ein, neben der Feststellung des von früher her bestehenden Rechtes zugleich die neuen Verhältnisse rechtlich zu fixieren. Die Volksrechte sind darum nicht bloss Aufzeichnungen des Gewohnheitsrechtes, sondern zum Teil Ergebnisse der Vereinbarung des gesamten Volkes über dasjenige, was es als Recht befolgen wollte, oder der Gesetzgebung des Königs. Die besondere Entstehung dieser Rechtsaufzeichnungen und der späteren ist meist in tiefes Dunkel gehüllt; doch enthalten manchmal die Prologe oder Epiloge mehr oder minder beglaubigte Nachrichten über den Ursprung des Gesetzes. Das wichtigste Motiv für die Aufzeichnung des Rechtes scheint die Berührung mit den Römern abgegeben zu haben, deren Recht mit demjenigen der eingewanderten Deutschen gegenseitig zu vereinbaren war; man erkennt das daraus, dass die ersten leges solchen Stämmen angehören, welche am frühesten auf römischem Boden einwanderten. Eine fernere Veranlassung zu Rechtsaufzeichnungen trat dann ein, wenn mehrere bisher voneinander unabhängige Gemeinden oder Staaten durch Eroberung miteinander vereinigt wurden, wobei dann eine Vereinbarung über gewisse Rechtsverhältnisse,[573] namentlich über das Wergeld und die Bussen, zum Bedürfnis wurde. Für diejenigen Volksstämme, welche ihre einmal eingenommenen Wohnsitze nicht mehr verliessen, trat erst mit der Unterwerfung unter das fränkische Reich ein Bedürfnis der Rechtsaufzeichnung ein; derart sind im 6. und 7. Jahrhundert die leges der Bayern und Alemannen entstanden. Karl der Grosse endlich liess die Rechte aller derjenigen Volksstämme verzeichnen, welche bisher nur nach ihren Gewohnheiten und den ungeschriebenen Vereinbarungen über das Recht gelebt hatten: die Rechte der Friesen, Sachsen und Thüringer. Auch der Übertritt zum Christentum war ein Anlass, die Rechte der Kirche und der Geistlichkeit festzusetzen und die mit der heidnischen Religion zusammenhängenden Gebräuche christlich umzuändern. Nur das salische Recht ist noch vor der Einführung des Christentums abgefasst worden. Überall scheinen es einige ausgewählte, mit der Anwendung des Rechtes vertraute Männer gewesen zu sein, denen man das Geschäft der Aufzeichnung übertrug; wo aber durch die Aufzeichnung ein neuer Grundsatz aufgestellt werden sollte, war es der König, der auf der Reichsversammlung mit den weltlichen und geistlichen Grossen und unter Zuziehung des Volks das neue Recht verkündete.

Der Inhalt der Volksrechte ist mannigfaltig und ihr Umfang ungleich. Immer nehmen die Busssätze für die verschiedenen Rechtsverletzungen und die Wergeldbestimmungen für die Stände die wichtigste Stelle ein. Daneben erscheinen Bestimmungen über Verfassung und Kirche, über die Stellung der Römer zu den Deutschen, dann findet man Verhältnisse des Grundbesitzes und die Formen seiner Übertragung berücksichtigt, das Erbrecht, das Güterrecht der Ehegatten und das Familienrecht überhaupt, die Leistung des Schadenersatzes und die Verfolgung des Eigentums an beweglichen Sachen. Rechtssätze, welche in der Überzeugung und der Kunde aller lebten und täglich geübt wurden, überging man bei der Aufzeichnung. Vielfach sind einzelne Bestimmungen und ganze Abschnitte aus einem Recht in das andere hinübergenommen worden. Die Darstellung ist bald breiter, bald knapper; manche Volksrechte haben mehrere Überarbeitungen erfahren.

Mit Ausnahme der angelsächsischen Gesetze sind alle Volksrechte in lateinischer Sprache geschrieben; doch findet man zerstreut viele deutsche Worte, zum Teil deutsche Redensarten. Erst im 9. Jahrhundert sind einzelne Rechtsquellen deutsch übersetzt worden.

Der Name der Volksrechte lautet in den Quellen selbst ahd. êwa = Gesetz, Recht, oder pactus, pactum = Vertrag. Edictus heissen die langobardischen Königsgesetze, auch der Name leges kommt vor.

Die einzelnen Volksrechte sind:

1. Lex Salica, im nördlichen Frankreich heimisch, wurde noch in heidnischer Zeit nach einem Beschlüsse der Häupter des Volkes von vier dazu erwählten Männern, welche an drei Malbergen zusammenkamen, niedergeschrieben, später aber von Chlodewich und einigen Nachfolgern überarbeitet. Das Gesetz war noch zu Karls des Grossen Zeit in Gebrauch. Einige Handschriften enthalten häufig mitten im Text unter der Bezeichnung Malberg oder Malb. altdeutsche Glossen, gewöhnlich Malbergische Glossen genannt, die, von den Abschreibern frühe nicht mehr verstanden, bis zur Unkenntlichkeit entstellt und allmählich ganz weggelassen wurden. Ihr Name Malberg stammt von mal = Gerichtsversammlung, und berg, d.i. der Platz, an welchem dieselbe abgehalten wird; sie wurden[574] früher aus dem Keltischen erklärt, sind aber von Jacob Grimm als der deutschen Sprache angehörig erkannt worden. Vgl. darüber Sohm, Beilage II zur Fränkischen Reichs- und Gerichtsverfassung.

2. Lex Ripuariorum, das Recht des zweiten fränkischen Hauptstammes, der ribuarischen Franken, aus dem 6. Jahrhundert, galt in den ost- und rheinfränkischen Gegenden und war zugleich das Recht des fränkischen Königshauses.

3. Lex Wisigotorum, besteht weniger aus dem bisherigen Gewohnheitsrecht der Westgoten, sondern aus Konstitutionen, welche die westgotischen Könige mit ihren geistlichen und weltlichen Grossen auf den Reichstagen berieten, wobei überall auf das römische Recht Rücksicht genommen ist. Durch die unerträgliche rhetorische Breite und den gezierten Wortreichtum wird dieses Rechtsbuch bisweilen dunkel. Es hat sich aber sehr lange erhalten, und ist noch im 13. Jahrhundert in das Castilianische übersetzt worden.

4. Edictum Theodorici, ein kurzes und dürftiges, von Theodorich, dem König der Ostgoten, um 500 ganz und gar dem römischen Recht entnommenes Gesetzbuch, welches wahrscheinlich von einem Römer im Auftrage des Königs entworfen wurde und welchem Barbaren und Römer gleichmässig unterworfen sein sollten. Es hatte nur kurze Dauer.

5. Lex Burgundionum, um 500 durch König Gundobald gegeben, ist weniger aus einer Aufzeichnung des Gewohnheitsrechtes hervorgegangen, als aus der Abfassung einzelner Gesetze, welche der König unter Genehmigung und Beirat der Grossen des Reiches und mit Berücksichtigung des römischen Rechtes erliess. Dieses Recht war in Burgund noch im 9. Jahrhundert gültig. Für die burgundischen Römer war als Ergänzung der für Römer und Burgunder bestimmten lex ein besonderes Gesetzbuch, die lex Romana, Burgundionum verfasst worden.

6. Edicta regum Langobardorum. Dieses Gesetzbuch besteht ursprünglich aus den von König Rothari, 636 bis 652, gesammelten und bloss für die deutschen Unterthanen gültigen Bestimmungen des langobardischen Gewohnheitsrechtes mit den als notwendig erkannten Ergänzungen. Seinem inneren Gehalt nach ist es die vollkommenste Schöpfung deutscher Gesetzgebung in dieser Periode und zeichnet sich nicht bloss durch den Umfang, durch Klarheit und Bestimmtheit in der Fassung, sondern ebensosehr durch den humanen und aufgeklärten Geist aus, der es durchzieht. In der folgenden Zeit kamen zu diesem Edictum Rotharis die Gesetze der späteren Könige hinzu. Auch nach Beseitigung der langobardischen Könige erhielt dieses Recht seine Gültigkeit und wurde nicht bloss von der späteren Doktrin wissenschaftlich bearbeitet, sondern auch durch besondere Kapitularien der fränkischen Könige ergänzt und fortgebildet.

7. Lex Alamannorum. Der älteste Bestandteil dieses Volksrechtes wurde unter dem Namen Pactus um 550 aufgeschrieben; dieser wurde wiederholt und mit bisher ungeschriebenem Gewohnheitsrecht sowohl als mit neuer Legislation erweitert durch Chlotar II. um 620, der besonders die staatlichen und kirchlichen Verhältnisse Alemanniens im Auge hatte. Eine Revision dieses Gesetzes nahm im 8. Jahrhundert Herzog Lantfrid mit Genehmigung der Grossen seines Herzogtums und des gesamten Volkes vor. Endlich brachte Karl der Grosse oder Ludwig der Fromme dieses Volksrecht in verbesserte Abschriften.

8. Lex Bajuvariorum. Es ist dies eine Kompilation aus teils bayerischem, teils fremdem, nämlich alemannischem[575] und westgotischem Recht und enthält Bestandteile aus verschiedenen Zeiten, welche nie zu einem wirklich einheitlichen Gesetzbuch verarbeitet worden sind. Die Redaktion der verschiedenen zum Teil viel älteren Bestandteile zu einem Ganzen scheint um die Mitte des 8. Jahrhunderts stattgefunden zu haben.

9. Lex Angliorum et Werinorum, hoc est Thuringorum. Dieses kleinste Volksrecht, für dessen Zeit der Entstehung alle sicheren Anhaltspunkte fehlen, scheint in der Zeit Karls des Grossen entstanden zu sein. Als Heimat des Gesetzbuchs nimmt man Thüringen an, wo einst auch Angeln und Weriner, die man später in Holstein und Schleswig findet, sich niedergelassen hatten. Andere weisen das Gesetz den am Niederrhein wohnenden Thüringern zu.

10. Lex Frisionum. Es enthält ausschliesslich Bussbestimmungen für die einzelnen strafbaren Handlungen, wobei es in detailliertester Weise zu Werke geht, über Tötung, Diebstahl, Beschädigung, Missheirat, Brandstiftung, Raub, Unzucht, Meineid, Bann, Körperverletzungen und Beleidigungen. Auch dieses Gesetz ist wahrscheinlich unter Karl dem Grossen entstanden, als 802 auf dem Reichstage zu Aachen die Volksrechte aufgezeichnet und revidiert wurden. Auffallend sind die deutlichen Spuren heidnischer Rechtsgebräuche.

11. Lex Saxonum, besteht aus drei gegen Ende des 8. Jahrhunderts aufgeschriebenen Bestandteilen, welche von Karl dem Grossen auf dem Reichstage zu Aachen 802 miteinander vereinigt wurden.

Die angelsächsischen Gesetze übergehen wir als nicht zum fränkischen Reiche gehörig. Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, und Walter, Rechtsgeschichte.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 573-576.
Lizenz:
Faksimiles:
573 | 574 | 575 | 576
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.

230 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon