Sibyllen

[921] Sibyllen. Bei den Alten waren Sibyllen weissagende mit dem Apollokultus im Zusammenhang stehende Frauen, von denen die sogenannten sibyllinischen Bücher herrühren sollen. Die Zahl dieser Sibyllen wurde verschieden angegeben, bloss eine oder drei, vier, zehn. Seit dem Ende des ersten Jahrhunderts ist unter den Kirchenschriftstellern auch von christlichen Sibyllen und sibyllinischen Büchern die Rede, und zwar wieder in verschiedener Zahl; erhalten sind mehrere von jüdischen und christlichen Schriftstellern verfasste weissagende Bücher unter dem alten Titel, welche von[921] den Kirchenvätern häufig citiert werden. Im Mittelalter kommen namentlich bei Franziskanern zwei neue Sibyllensagen auf; die erste berichtet, Kaiser Augustus habe die Pythia befragt, wer nach ihm herrschen werde, worauf sie anfangs keine Antwort, dann aber die Weisung gegeben: er solle schweigend von ihren Altären sich entfernen, da ein hebräisches Kind, welches über die unsterblichen Götter herrsche, ihr heisse von dem Sitz zu weichen und in den Orkus zurückzukehren. Darauf habe Augustus auf dem Kapitol einen noch stehenden Altar errichtet mit der Inschrift; haec est ara primogeniti dei, dieses ist der Altar des erstgebornen Gottes. Die andere Sage erzählt, Augustus habe die tiburtinische Sibylle zu sich kommen lassen, um über einen Antrag des Senats, der ihm göttliche Ehre erweisen wolle, sie zu befragen; sie aber habe geantwortet: »vom Himmel wird der König kommen, der es in Ewigkeit sein wird.« Sogleich öffnete sich der Himmel und er sah dort eine Jungfrau in herrlicher Schönheit, auf einem Altar stehend, mit einem Knaben auf dem Arm und hörte eine Stimme: haec ara filii dei est, dieses ist der Altar des Sohnes Gottes. Der Kaiser betete darauf an und that dem Senat die Vision kund. Dieselbe ereignete sich in dem Gemach des Augustus, wo jetzt die Kirche St. Maria in Capitolio ist.

Auf den Grund solcher sagenhafter Voraussetzungen sah sich die Kirche veranlasst, die Sibyllen neben den Propheten in den Kreis christlicher Kunstvorstellungen zu ziehen, was aber nicht vor dem 12. Jahrhundert geschah. Und zwar stellte man entweder die Sibylle vor, wie sie dem Kaiser Augustus das Kommen des Sohnes Gottes offenbart, oder die Sibyllen überhaupt, sowohl in Fresko- und Glasmalereien, als in Staffelei- und Miniaturbildern, als in Werken der Skulptur; so enthalten die Chorstühle im Münster zu Ulm neun Sibyllen. Sie dienen als Trägerinnen des »Lichtes, welches im Finstern scheint.« Daher ihnen etwa eine Laterne oder ein Licht in die Hand gegeben wird, als Träger evangelischer Vorverkündigung in der Heidenwelt, mit den Propheten und Kirchenlehrern zusammen als Zeugen der Wahrheit aus dem Heidentum, Judentum und Christentum. Von den Sibyllen handelt auch ein zuerst in Frankfurt 1531 erschienenes Volksbuch: »Zwölf Sibyllen Weissagungen vil wunderbarer Zukunft von Anfang bis End der Welt besagende. Der Königinn von Saba König Salomeh gethane Propheceien.« Hier ist in Holzschnitten jede Sibylle einzeln dargestellt; ihre Namen lauten hier: persische Sibylle, Libica, Delphica, Chimeria, Samia, Cumana, Hellespontia, Phrigia, Europea, Tiburtina, Erithrea, Agrippa und Nichaula, Königin von Saba »welche eine rechte Sibylla gewesen sei, eine Prophetin und Wahrsagerin der heimlichen Räthe zukünftiger Dinge Gottes.« Piper, Mythologie der christlichen Kunst, I, 472–507.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 921-922.
Lizenz:
Faksimiles:
921 | 922
Kategorien: