[419] Sibyllen (Sibyllae), im Altertum von einer Gottheit (gewöhnlich Apollon) begeisterte, weissagende Frauen. Sie werden in sehr verschiedenen Gegenden genannt, am frühesten in dem ionischen Erythräa, dessen Sibylle (Herophile) mit der Zeit vor allen andern berühmt ward; auf Samos, zu Delphi, zu Cumä und Tibur in Italien und anderwärts. Sie werden als Jungfrauen geschildert, die in einsamen Grotten oder auf Quellen wohnen und, vom Geist Apollons ergriffen, in wilder Entzückung wahrsagen. Sie heißen bald Apollons Priesterinnen, bald seine Geliebten, Schwestern oder Töchter. Von der cumäischen Sibylle sollten die Sibyllinischen Bücher, eine Sammlung von Weissagungen in griechischen Versen, herstammen, die nach bekannter Sage einst Tarquinius um ungeheuern Preis ankaufte und in einem Gewölbe des Jupitertempels auf dem Kapitol verwahren ließ, und die nur von eigens dazu bestellten Beamten und nur auf Befehl des Senats befragt werden durften. Beim Brande des Kapitols 83 v. Chr. gingen diese Bücher zugrunde, und man veranstaltete eine neue Sammlung in asiatischen und griechischen Städten, die später von Augustus gesichtet und im Tempel des Apollon auf dem Palatin niedergelegt wurden; erst Anfang des 5. Jahrh. n. Chr. wurden sie auf Befehl Stilichos verbrannt. Da diese Sprüche griechische und asiatische Gottheiten und Kulte voraussetzten, sind sie Hauptanlaß zur Einführung fremder Gottheiten u. Bräuche in den römischen Staatskult und zur Verschmelzung einheimischer Gottheiten mit ähnlichen fremden gewesen. Auch eine chaldäisch-jüdische Sibylle namens Sabba oder Sambethe wird erwähnt, die mit einer babylonischen, auch ägyptischen identifiziert ward. Die noch vorhandenen 14 Bücher »Sibyllinischer Orakel« in griechischen Hexametern sind eine von einem Christen hergestellte Sammlung angeblicher Prophezeiungen aus sehr verschiedenen Zeiten, von der Mitte des 2. Jahrh. v. Chr. bis zum 5. Jahrh. n. Chr., teils von alexandrinischen Juden, teils von Christen verfaßt (hrsg. von Friedlieb, mit Übersetzung, Leipz. 1852, 2 Bde.; Rzach, Wien 1891; Geffcken, Leipz. 1902; Heitz, Straßb. 1903). Vgl. Maaß, De Sibyllarum indicibus (Greifsw. 1879); Ewald, Über Entstehung, Inhalt und Wert der Sibyllinischen Bücher (Götting. 1858); Diels, Sibyllinische Blätter (Berl. 1890); Geffcken, Komposition und Entstehungsart der Oracula Sibyllina (Leipz. 1902). Da die Weissagungen der S. von einigen Kirchenvätern auf das Erscheinen Christi gedeutet wurden, nahm sie die christliche Kunst in den Bereich ihrer Darstellungen auf. Es gibt deren von Giotto, den Brüdern van Eyck (Genter Altar), Roger van der Weyden u. a. und auf Kupferstichen des 15. Jahrh. Die berühmtesten sind die fünf S. von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle und die vier S. von Raffael in Santa Maria della Pace zu Rom.