Sibyllen

[180] Sibyllen nannte man im griech.-röm. Alterthume gewisse gottbegeisterte Jungfrauen, welche im Zustande des Ergriffenseins vom Gotte Weissagungen aussprachen, denen man einen hohen Werth beilegte. Es werden zehn verschiedene Sibyllen angegeben. Am berühmtesten ist die kumanische, so genannt nach der ital. Stadt Kumä. Dieselbe soll zum röm. Könige Tarquinius Superbus gekommen sein und ihm neun Bücher zum Kauf angeboten haben. Der König wollte den gefoderten hohen Preis nicht zahlen, da warf die Sibylle drei jener Bücher ins Feuer und bot ihm die übrigen sechs für denselben Preis, den sie erst für alle neun verlangt. Abermals weigerte sich Tarquinius, und abermals übergab die Sibylle drei Bücher den Flammen, worauf sie zum dritten Male den frühern Preis für die drei letzten Bücher foderte. Damit nicht auch die letzten drei der ihm auf so geheimnißvolle Weise gebotenen Bücher geopfert würden, zahlte ihr nun der König die verlangte Summe und nahm die Bücher. Er fand, daß sie wichtige Prophezeiungen der künftigen Schicksale Roms enthielten. Sie wurden von ihm der Aufsicht zweier Männer übergeben, deren Würde als eine priesterliche betrachtet wurde, und im Tempel des Jupiter auf dem Capitol aufbewahrt. Später wurden jene zwei Hüter auf zehn, und endlich auf funfzehn vermehrt. Bei wichtigen Gelegenheiten schlug man die Schicksalsbücher nach, welches jedoch nach deshalb förmlich gefaßtem Beschluß auf feierliche Weise von den Hütern des geheimnißvollen Schatzes geschah. Diese selbst durften unbeauftragt die Bücher nicht lesen, noch weniger von ihrem Inhalte etwas verrathen, bei Todesstrafe. Mit dem Tempel des Jupiter verbrannten die sibyllinischen Bücher zur Zeit des marsischen Krieges. Der Senat ließ nun, 77 v. Chr., Alles sammeln, was sich in griech., sicil. und ital. Städten von sibyllinischen Sprüchen noch vorfand und das echt Erscheinende aussondern, welches 1000 Verse gab. Augustus legte eine nochmals revidirte Sammlung dieser Orakel in zwei goldenen Kapseln unter das Fußgestell des palatinischen Apollo, mit dessen Tempel auch diese Sammlung, 363 n. Chr., verbrannte. Auch sie wurde durch eine neue ersetzt. Nach andern Behauptungen sollen die von Augustus niedergelegten Bücher gerettet und erst von Stilicho vernichtet worden sein. Es waren übrigens im Volke viele Sammlungen sibyllinischer Orakel verbreitet, welche für echt ausgegeben wurden. Mehrmals ließ der Senat diese Bücher als verfälscht und zu gefährlichen Meinungen und Auslegungen im Volke Veranlassung gebend, aufsuchen und verbrennen. – Auch in der christlichen Kirche wurden im 2. Jahrh. ihres Bestehens von begeisterten Menschen, Sibyllisten genannt, Orakel nach Weise der sibyllinischen ausgesprochen, gesammelt und diese Sammlungen für sibyllinische Bücher ausgegeben. Noch bis in die neueste Zeit sind alte sibyllinische Sprüche gesammelt und herausgegeben worden, aber nur im Interesse der Gelehrsamkeit.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 180.
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