Unzucht

[1036] Unzucht. Eheliche Keuschheit galt dem Römer als ein Hauptmerkmal germanischer Sitte. »Die Ehe, sagt Tacitus Germ. 18 und 19, wird bei den Germanen streng gehalten, und wohl in keinem Stücke haben die Germanen mehr Anspruch auf Hochachtung; denn von allen Barbarenvölkern sind sie fast die einzigen, welche sich mit einem Weibe begnügen. Sehr wenige machen davon eine Ausnahme und zwar nicht von Sinnlichkeit geleitet, sondern weil sie ihres Ansehens wegen mit mehreren Anträgen angegangen werden. Die Frauen führen ihr Leben in den Schranken keuscher Sittlichkeit, frei von den Verlockungen üppiger Schauspiele, unberührt von dem Sinnentaumel sittenloser[1036] Gelage. Von geheimen Liebesbriefen weiss weder Mann noch Frau; Ehebruch kommt bei dem so zahlreichen Volke sehr selten vor, und die Strafe, welche der Bestimmung des Gatten überlassen bleibt, folgt ihm auf dem Fusse nach. Für verlorene Keuschheit gibt es keine Gnade; weder Schönheit noch Jugend noch Reichtum werden ihr je einen Gatten zuführen. Denn da ist niemand, der über das Laster scherzte, niemand, der verführen und verführtwerden den Lauf der Welt nennte. Gewiss steht es mit einem Staate, wo nur Jungfrauen sich vermählen, und wo die Gattin mit ihrer Hoffnung und ihrem Gelübde ihr Leben für immer bestimmt, besser als mit dem unsern. Einen Gatten erhält das Weib, wie sie nur einen Körper und nur ein Leben empfing, und kein Gedanke, kein Gelüst soll diese Schranken übertreten, sie soll in ihrem Gatten nicht den Mann, sondern die Ehe lieben.« Schon Tacitus erwähnt an dieser Stelle der, politischer Rücksichten wegen, vorkommenden Vielweiberei; dieselbe, ohne Zweifel aus frühern rohen Zuständen überkommen, war im Geschlechte der Merovinger gewöhnlich; bei den Nordgermanen dauerte sie noch lange fort und war z.B. in Schweden im 11. Jahrhundert allgemein verbreitet. Auch Konkubinat war den Germanen nicht fremd; die Kebse, mhd. kebese, kebeswîb, frîundinne, gelle, zuowîp, bîslâfe, bîslaeferinne, slâfwîp, slâffrouwe, war dem Manne nicht vermählt, lebte aber in dauernder Verbindung mit ihm. Ursprünglich scheinen es unfreie Weiber gewesen zu sein, die in diesen Stand eintraten; doch war das Verhältnis während des ganzen Mittelalters von den Vornehmen gepflegt, ohne dass die öffentliche Meinung besonderes Ärgernis daran nahm; so hatten Karl d. Gr. und Ludwig der Fromme ihre Beischläferinnen. Die Kinder der Kebsen erbten bloss von der Mutter und gehörten nicht zur Sippe des Vaters, waren also, wo der Vater Fürst war, von der Thronfolge ausgeschlossen, wenn nicht besondere Umstände und persönliche Vorzüge ihren Stand verdeckten. Oft erhielten uneheliche Fürstensöhne hohe geistliche Stellen.

Öffentliche Weiber sind dagegen den Deutschen erst durch die untergehende römische Welt zugekommen; doch zeigt schon die Fülle der ihnen angehörenden Namen, wie diese Menschenklasse auch in Deutschland um sich griff; mittelhochdeutsche Namen sind z.B. gemeine frowen fröuwelîn oder wîp; armiu valschiu boesiu wîp, varende frouwen, veil frouwen; irriu, swachiu, übeliu wîp, wandelbare vrouwen, unwîp, üppige frouwen, wildiu wîp, gilwerin, hübscherinne, knaberin, lennelîn. Zwar für die Blütezeit des Rittertums wird man annehmen müssen, dass der ideale Zug der Zeit, die hohe Stellung, die namentlich die deutschen Ritter dem Weibe einräumten, die zerstörende Macht der gemeinen Buhlerei beschränkt habe; der Geist der höfischen Dichtungen Walthers, Hartmanns, Wolframs legt dafür Zeugnis ab. Anderseits lag es in der Natur der romantischen Frauenverherrlichung, dass dieselbe geradezu einem natürlich derberen Verhältnis der geschlechtlichen Verbindungen zu rufen geeignet war; dann war der Ritter, seiner Lebensart zufolge, die ihn hauptsächlich körperlich entwickeln liess, durch Jagd, Spiel, Kampf, Reisen, mit einer Leibeskraft ausgestattet, die gewiss gern über die Schranken es Gesetzes hinauslangte, und endlich war die kosmopolitische Weltbildung des Ritters und seine Abhängigkeit von der Denk- und Handelsweise des französischen Rittertums einer gesellschaftlichen Prüderie nicht zugethan, wie man zum Teil wieder aus den Dichtungen[1037] der genannten besten höfischen Dichter erkennen kann. Als dann aber bald nach dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts der ideale Sinn der ritterlichen Gesellschaft schnell erblasste und eine allgemeine Auflösung der gesellschaftlichen Pflichten und Rücksichten eintrat, da verwilderte namentlich auch das Verhältnis des Mannes zum Weibe in auffallendem Grade. Zeugnis davon gibt schon Gottfried von Strassburg, ebenso Nithart von Riuwental und die andern höfischen Dorfdichter, noch mehr aber die zahlreichen Novellen und Erzählungen, unter denen nach dieser Seite hin namentlich Von der Hagens Gesamtabenteuer sich auszeichnen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Ansicht des Mittelalters von Sitte und Sittlichkeit überhaupt eine laxere war und die öffentliche Meinung vieles ohne weiteres gestattete, was später als strafwürdig oder schlecht galt; der Verkehr mit feilen Weibern brachte den Männern des ausgehenden Mittelalters keinen Makel. So liest man denn, dass den französischen Kreuzheeren ganze Schaaren von Dirnen folgten, im Jahre 1180 z.B. 1500 miteinander. Am französischen und englischen Hofe gab es einen besondern Marschall zur Beaufsichtigung jener Personen. Auch in Deutschland zogen den Söldnertruppen und Landsknechten ganze Schaaren gemeiner Weiber nach, die einem eigenen Amtmann unterworfen waren und demselben eine wöchentliche Abgabe zahlten. In Magdeburg setzte 1279 ein Bürger bei einem von ihm veranstalteten Turnier ein Mädchen als Siegespreis aus; der Kaufmann von Goslar, der es gewann, stattete es aus und brachte es zu einem tugendhaften Wandel zurück. Am Konzil zu Konstanz wurden 1500 Freudenmädchen gezählt. Solche waren es auch, die dem einziehenden Herrscher auf Veranstaltung der Obrigkeiten Kränze und Blumen zu überreichen pflegten. Von den kleinen und grossen Höfen verbreitete sich diese Unzucht in die Kreise der städtischen Bevölkerungen, wo die Frauenhäuser, siehe den besondern Artikel, zu den notwendigen städtischen Anstalten und Stiftungen zählten. Um das Bild dieser Seite des sozialen Lebens zu vervollständigen, ist noch des Verhaltens der Geistlichkeit zu erwähnen. Klagen über Unzucht des geistlichen Standes beginnen schon in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters und bilden bis zur Reformation eine ununterbrochene Kette, deren Zeugnisse und Urkunden unzählbar sind; sie liegen vor in Ratsprotokollen, Zeitbüchern, Verordnungen und namentlich auch in den Fastnachtspielen, Fazetien und Novellen des 14. und 15. Jahrhunderts, deren Inhalt zum allergrössten Teile die Verführung einer Frau durch einen liederlichen Pfaffen ist. »Man duldete die Sünde der Hurerei, als eine nicht zu beseitigende menschliche Schwäche, um derenwillen der Betreffende sich, vermittelst der kirchlichen Gnadenmittel, lediglich mit Gott und seinem Gewissen abzufinden habe.« Auf diesem Gebiete hat der Geist des Humanismus keine Änderung, vielleicht eher eine Verschlimmerung hervorgebracht; denn nie war die Unzucht auf einen höhern Grad gestiegen, als am Ende des 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts, und es bedurfte der gründlichsten Massregeln von Seite der protestantischen Obrigkeiten, um hier eine nur langsam wirkende Umkehr zu erreichen. Weinhold, deutsche Frauen, II., Abschnitt 7 und 8. Schultz, höfisches Leben, I., Kap. 7; Kriegk, deutsches Bürgertum, II, Abschnitt 12 bis 15. Burckhardt, Renaissance, Abschnitt V.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 1036-1038.
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