[641] Exegese, griech., lat. enarratio auctorum, Auslegung, Darstellung des Sinnes einer Rede, das Ausgelegte selbst. Die E. setzt die Hermeneutik, Lehre von der Auffindung des Sinnes einer Rede und die Exegetik, Lehre von der Darstellung desselben voraus. Sie ist gleichsam die höhere Interpretation od. Erklärungskunst, doch wird der Ausdruck Interpretation ganz allgemein, der Ausdruck E. vorzugsweise von der Auslegung der Bibel, zuweilen auch noch von der des Corpus juris gebraucht. Dem Ursprunge nach geht die authentische vom Urheber der Rede selbst aus, die doctrinelle stützt sich auf wissenschaftl. Mittel, die traditionelle oder gemischte vereiniget die beiden vorigen in sich u. stützt sich dabei noch auf Ueberlieferungen außerhalb des N.T., welche vom kirchl. Lehramte, durch apostolische Väter, Kirchenväter, Concilien u.s.f. vermittelt wurden u. mit der Bibel erst den vollständigen Lehrbegriff ausmachen. Hinsichtlich des Zweckes sucht die dogmatische E. vor allem den dogmatischen, die moralische den praktischen u. moralischen Sinn einer Stelle, die allegorische, mystische, mythische aber die hinter dem Wortsinne od. Bilde verborgene Wahrheit u.s.f. Bezüglich der Mittel will die grammatische E. den einfachen Wortsinn, die logische die Absicht des Redenden, die historische die geschichtliche Unterlage einer Stelle aufzeigen u.s.w. Alle diese Richtungen haben sich innerhalb der Kirche mehr od. minder geltend gemacht u. trotz dem angeblichen Bibelverbote (s.d. Art.) der Kirche gab es nach den Kirchenvätern, welche bei den Scholiasten und Grammatikern Alexandriens eine Handhabe ihrer E. gefunden, fortwährend ausgezeichnete Exegeten. Im Mittelalter hatte man neben den Catenae, Ketten, d.h. Sammelwerken aus exegetischen Schriften der Väter einen Beda, Alkuin, Thomas von Aquin, Bonaventur, Hugo a. S. Caro, Paulus Burgensis u. viele andere. Durch die mit Petrarca und [641] Bocaccio beginnende Wiederaufnahme des Studiums des Alterthums u. durch die Reformation kam der durchgreifendste Unterschied der E., nämlich der der alten offenbarungsgläubigen E., welche die Mittheilungen der canon. Bücher als unmittelbare Eingebungen des hl. Geistes u. die Kirche als erklärende Autorität betrachtet, u. der neuen vernunftgläubigen E., welche die Bibel als einzige Glaubensquelle, dabei trotz II Petr. 1, 20, 21 die Vernunft jedes Einzelnen als erste u. letzte Instanz in Sachen des Glaubens gelten läßt. Man strebte das in den Reformatoren wirkende Princip der Subjectivität in die Schranken symbolischer Bücher als einer analogia od. regula fidei zu bannen, aber es brach sich während des 18. Jahrh. auch in Deutschland als Vernunftgläubigkeit oder Rationalismus Bahn u. die sog. höhere Kritik behandelte die Bibel gleich jedem alten Classiker. Unter einer Menge von Exegeten wurden die Hauptträger des reformatorischen Principes: Semler, welcher die regula fidei offen wegwarf u. das Accommodationssystem (s. Accommodation) erfand; Kant, der das Wesen aller Religion in der Moral allein suchte u. dessen Vernunftreligion bis heute bei Tausenden ihren Einfluß noch nicht verloren hat; Eichhorn, welcher für Rationalisirung der Bibel die erforderlichen exegetischen und kritischen Regeln lieferte; Paulus fand in Christo und den Aposteln bereits im Zeitgeist befangene Menschen, de Wette sah in der Bibel wenig historische Persönlichkeiten mehr, David Strauß aber lauter Mythen und Christum als »die Idee der Negation der Negation«. Den verneinenden u. zerstörenden Elementen gegenüber wurden Exegeten wie Delitzsch, Harleß, Hengstenberg u.a. Ausdruck der Sehnsucht nach positiver Religion und kirchlicher Autorität. Von der Reformation angeregt, mitunter auch vom Geiste derselben inficirt, erstand eine Menge kathol. Exegeten, neuestens unter denen, welche eine E. der ganzen Bibel oder der meisten Bücher derselben lieferten: Braun, Fischer, Brentano, Dereser, Scholz, Allioli. Vgl. Kirchenlexikon von Wetzer u. Welte Bd. III S. 822841.