[612] Vernunft (von vernehmen, lat. ratio woher das ital. ragione, franz. raison, engl. reason), die das Uebersinnliche, das Wesen der Dinge inne werdende Geisteskraft, das Vermögen der Ideen oder Principien, das Wesen des menschlichen Geistes, wodurch dieser ein Ebenbild Gottes und so hoch über die Thierwelt gestellt ist, als die Unendlichkeit über das Endliche. Sie liegt als Anlage in der Menschenseele, ihr archimedischer Punkt ist das geistige Selbstbewußtsein (s. Bewußtsein), endlich muß sie durch Erziehung, Leben und Wissenschaft entwickelt werden und ist einer Unzahl von Verkümmerungen u. Verirrungen fähig. Im gemeinen Verkehr werden die Ausdrücke V. und Verstand gleichbedeutend gebraucht, die Philosophen seit Aristoteles Zeit thaten dies gleichfalls und bezeichneten mit beiden Ausdrücken eben das Erkenntnißvermögen des Menschen in seiner höchsten Potenz, aber seit Kant unterschied man V. und Verstand sehr scharf, übrigens ohne die Unterscheidungen objectiv genügend zu begründen. Kant selber faßte den Verstand als das Vermögen der Begriffsbildung, die V. aber als Vermögen der Ideen; seine Nachfolger faßten den Verstand ähnlich, Fichte aber muthete der V. zu, rein aus sich selbst und völlig voraussetzungslos [612] das ganze System des Wissens zu deduciren, Schelling machte sie in der That zur Trägerin der sog. absoluten Erkenntniß, Hegels Logik sollte die wissenschaftliche Darstellung und Entwicklung der reinen V. begriffe od. Ideen sein, worin er vom einfachsten u. keiner weiteren Begründung bedürftigen V. begriffe, dem des reinen Seins, ausgehend, durch die dialectische Methode zu immer reicheren Begriffen fortschreiten und das ganze System des reinen V.wissens ableiten u. darstellen wollte; s. Kant, Fichte, Schelling, Hegel. Empirische V., die V., insoweit sie durch die Erfahrung bestimmt wird, im Gegensatz zur reinen od. transscendenten, ursprünglich bestimmten; endliche oder relative V., die menschliche im Gegensatz zur unendlichen, absoluten od. göttlichen; spekulative od. theoretische V., die im Gebiete der Erkenntniß sich bewegende im Gegensatz zur praktischen od. moralischen, welche es mit dem Wollen und Handeln des Menschen zu thun hat; Vernünftigkeit, der Besitz von V., V. religion, s. Religion; vergl. Rational, Rationalismus.