Geodätische Uebertragung

[383] Geodätische Uebertragung nennt man die Berechnung von Breite, Länge und Azimut eines Punktes P der Erde (Sphäroid) auf Grund der gegebenen Koordinaten eines andern Punktes P0 und einer zwischen beiden Punkten ausgeführten Triangulation. Auch die umgekehrte Aufgabe: geodätische Entfernung und Richtung der geodätischen Linie an beiden Punkten aus den gegebenen sphäroidischen (oder geographischen) Koordinaten zu bestimmen, gehört hierzu. Die Methoden und Rechnungsvorschriften für die Lösung dieser Aufgaben bilden einen wesentlichen Teil der Geodäsie.

Die Lösung dieser Aufgaben ist sehr einfach, sobald es sich nur um kleinere Entfernungen bezw. enger begrenzte Gebiete (100–200 qkm) handelt, für die die Erde noch als eben betrachtet werden kann, ebenso ist das der Fall, solange dieselbe als Kugel anzusehen ist. Im ersteren Fall gelten die Vorschriften der ebenen, im zweiten Fall diejenigen der sphärischen Trigonometrie. Anders wird die Sache, wenn der Abplattung der Erde, d.h. der elliptischen Gestalt der Erdmeridiane, Rechnung getragen werden muß.

Im allgemeinen ist die Uebertragung von Breite und Länge mit Hilfe einer guten Triangulation so genau möglich, als es durch eine direkte Bestimmung der geographischen Koordinaten des zweiten Punktes auf astronomischem Wege auch geschehen könnte. Dagegen wird die Azimutübertragung wesentlich von der Anzahl der zwischen beiden Punkten einzuschaltenden Dreiecke abhängig sein, da nach den Grundsätzen der Fehlerübertragung die diese Dreiecke bestimmenden Winkel die Uebertragung im Verhältnis der Quadratwurzel der Anzahl dieser Dreiecke beeinflussen. Liegen also z.B. neun Dreiecke dazwischen und ist der mittlere Winkelfehler in jedem Dreieck 0,5'', so hat man als mittleren Fehler für das übertragene Azimut ± 0,5'' √9 = ± 0,5'' · 3, also ± 1,5''. Dies übersteigt den mittleren Fehler eines direkt astronomisch gemessenen Azimuts, der bei Anwendung entsprechend guter Instrumente auch nur auf etwa ± 0,5'' anzusetzen sein dürfte.

Die Unterschiede, die sich zwischen den geodätisch übertragenen und den direkt astronomisch bestimmten Koordinaten ergeben, stellen die sogenannten Lotabweichungen (s.d.) dar, d.h. sie geben ein Maß für die Verschiedenheit der Dimensionen des sogenannten Geoides und des zugrunde gelegten Reverenzellipsoids. Diese Lotabweichungen können an manchen Stellen der Erde über eine Bogenminute betragen. – Die geodätische Uebertragung kann auf zwei verschiedenen Wegen erfolgen, einmal durch Berechnung der sogenannten rechtwinkligen geodätischen Koordinaten und zweitens auf Grund der Kenntnis von Entfernung und Azimut.

I. Die geodätische Uebertragung auf Grund einer Triangulation eines Landgebietes beruht darauf, daß aus dieser die rechtwinkligen Koordinaten einer größeren Anzahl von Punkten bekannt sind (meist sphärische und nur selten sphäroidische Koordinaten). Diese Koordinaten sind so zu verliehen, daß man einen zweckmäßig gewählten Punkt P0 als Ursprung desselben annimmt und durch diesen den Meridian zieht als x-Achse. Fällt man nun von dem festzulegenden Punkt P auf die x-Achse senkrecht als Bogen größten Kreises ein Lot, so wird die Länge desselben die y-Koordinate des Punktes P bedeuten. Die Berechnung dieser (x, y) für jeden Punkt P erfolgt entweder nach den Prinzipien der ebenen oder für einigermaßen ausgedehnte Gebiete (y > 2 km) nach denen der sphärischen Trigonometrie.

Handelt es sich um die Anfertigung von Karten größerer Teile der Erdoberfläche (etwa von der Ausdehnung eines Quadratgrades an), so müssen aus den »rechtwinkligen« die geographischen Koordinaten, d.h. Breite und Länge, und eventuell auch das Azimut gewisser Richtungen berechnet werden. Dazu ist notwendig, daß die geographischen Koordinaten des Ursprungpunktes P0 direkt astronomisch bestimmt sind und daß die genannte Triangulierung »orientiert« ist, d.h. daß das Azimut einer vom Punkte P0 ausgehenden Richtung bekannt ist. Für die Berechnung der geographischen Koordinaten eines Punktes P ist es dann auch erforderlich, bestimmte Annahmen über die Form der Meridianellipse zu machen, da besonders die Breitendifferenzen davon beeinflußt werden.

Die ersten bequemen Formeln zur Auflösung der vorstehenden Aufgabe hat Bohnenberger gegeben [1], und diese werden im wesentlichen noch heute angewendet. Dieselben sind später etwas umgestaltet worden [2]. Ein vielfach angewandtes System soll hier noch gegeben werden, während für weiteres an dieser Stelle auf die Originalliteratur und die geodätischen Hand- und Lehrbücher [3] verwiesen werden muß.

Ist R der Krümmungshalbmesser im Meridian, N derjenige des normal dazu stehenden größten Kreises (Querkrümmungshalbmesser), Δ α die sogenannte Meridiankonvergenz, ρ die Anzahl der Sekunden für die Länge des Halbmessers – also 206264,806'' –, so hat man:


Geodätische Uebertragung

damit erhält man weiter:


Geodätische Uebertragung

zu setzen ist.[383]


Geodätische Uebertragung

Die Werte von R und N können den auf Grund der Besselschen Erddimensionen entworfenen Tafeln bequem entnommen werden, z.B. aus Albrecht, Formeln und Hilfstafeln u.s.w. [4]. Die strenge Ableitung und auch weitere Diskussion dieser Formeln findet man in Helmert, Die mathematischen und physikalischen Prinzipien der höheren Geodäsie u.s.w.

II. Der zweite Fall der geodätischen Uebertragung durch Distanz und Azimut löst folgende Aufgabe: Von einem Punkt P0 mit den geographischen Koordinaten 0, λ0) geht der Bogen (geodätische Linie) von der Länge s mit einem Anfangsazimut A0 aus; es ist zu ermitteln die geographische Breite φ des Endpunktes P von s, der Längenunterschied P0 bis P und das Azimut von s in P. (Die geographischen Koordinaten sind als ellipsoidische zu verliehen, die sich auf ein Rotationsellipsoid beziehen, mit den Halbachsen a und b, wie oben schon benutzt). Solche Uebertragungen kommen sowohl bei größeren Landesvermessungen vor, besonders aber dann, wenn es sich darum handelt, für sehr große Werte von s die geographisch-geodätisch ermittelten Koordinaten mit den direkt astronomisch gefundenen zu vergleichen zu Gradmessungszwecken.)

Je nach der Länge von s können zur Lösung der geodätischen Hauptaufgabe verschiedene Wege eingeschlagen werden, die sich natürlich um so einfacher gestalten, je kürzer s ist.

Ganz allgemein, für jede beliebige Länge von s gültig und brauchbar ist das Verfahren von Bessel [5], das sich folgendermaßen darstellt [8] (wo Zahlenangaben gemacht sind, beziehen sie sich auf das Besselsche Erdellipsoid): aus φ0 ist die entsprechende »reduzierte« Breite u0 zu bestimmen durch


Geodätische Uebertragung

(Ueber die Bedeutung der »reduzierten« [oder auch sphärischen] Breite s. Breite und die dort gegebene Figur.) – Aus dem gefundenen u0 und dem gegebenen A0 sind die Hilfsgrößen m und M zu berechnen aus:


Geodätische Uebertragung

Mit Hilfe von s, m und M ist die Länge des s entsprechenden »sphärischen« Bogens σ zu bestimmen aus:


Geodätische Uebertragung

Die log der Koeffizienten α, β, γ hängen von der angenommenen Exzentrizität ab und sind mit dem Argument


Geodätische Uebertragung

der betreffenden Besselschen Tafel zu entnehmen. Die indirekte Auflösung der Gleichung 7. ist für kürzere s bei der starken Konvergenz sehr einfach; für längeres kann ein Verfahren Helmerts angewendet werden. Damit bekommt man das gesuchte Azimut A im Endpunkt und die reduzierte Breite u dieses Punktes aus:


Geodätische Uebertragung

und aus u auch sofort das gesuchte φ mittels:


Geodätische Uebertragung

(Hilfstafel). Um den Längenunterschied λ zu erhalten, ist zunächst der »sphärische« Längenunterschied l zu suchen aus:


Geodätische Uebertragung

oder einer daraus abgeleiteten Formel, woraus sodann der ellipsoidische Längenunterschied λ sich ergibt durch:


Geodätische Uebertragung

Hier ist log 2 p = 7 · 8251369 – 10, und es sind die Koeffizienten α', β' mit dem Argument


Geodätische Uebertragung

aus der Besselschen Hilfstafel zu entnehmen. – Das Besselsche Verfahren ist etwas umständlich anzuwenden, doch kürzt sich die Rechnung für nicht lange Linien (z.B. < 200 km) stark ab, und das Verfahren hat eben den Vorzug der Allgemeinheit. Ueber Jordans Auflösung der Aufgabe mit sphäroidischen Mittelbreitenformeln, die den höchst fruchtbaren Gedanken von Gauß weiterentwickelt, vgl. [6].

Für kürzere s wird man jedenfalls die Besselsche Lösung oder eine andre, auch für lange s gültige, wie sie Hansen [7], Clarke [8] und andre gegeben haben, jedenfalls nicht anwenden. Es gibt für diesen Fall eine größere Anzahl von Formelsystemen, von deren Anführung hier aber abgesehen werden kann. Eine der wichtigsten neueren Methoden ist die von O. Schreiber angegebene, die noch für Längen von s = 120 km φ und λ bis auf 0,0001'' und A bis auf 0,001'' genau gibt [9]. Ein für Dreieckseiten von etwa 30 km Länge noch gültiger Formelsatz, der aus den Schreiberschen Formeln unter Weglassung einiger Glieder höherer Ordnung erhalten wird und der in sehr vielen Fällen genügen wird, mag hier noch mitgeteilt werden, weil er auch unter Umständen bei rein technischen Vermessungen noch zur Anwendung gelangen kann [10]. Das System lautet:[384]


Geodätische Uebertragung

das allerdings indirekt aufgelöst werden muß, aber sehr bequem ist.

Die Umkehrung der im vorstehenden behandelten Aufgabe – nämlich: gegeben sind die geographischen Koordinaten (0, φ0) und (λ, φ) zweier Punkte P0 und P der ellipsoidischen Erdoberfläche; man sucht die Länge s der geodätischen Linie zwischen beiden und die Azimute A0 und A von s in P0 und P– fällt nicht mehr unter den Begriff der geodätischen Uebertragung der geographischen Koordinaten im engeren Sinne, und es ist über diese Form der geodätischen Hauptaufgabe die bisher zitierte Literatur sowie der Art. Geodätische Linie nachzusehen. Doch sei, da diese Form für die nicht unmittelbar der Landesmessung dienenden Zwecke meist die wichtigere ist, auch hier wenigstens angeführt, daß für sie ganz ebenso wie für die vorige für beliebig lange geodätische Linien die Besselsche Auflösung zu Gebot steht, ebenso für alle praktisch vorkommenden Fälle die bequemeren neueren Auflösungen der vorigen Aufgabe. Für kürzere Linien (bis zu 200 km Länge) hat Helmert neuerdings ein einfaches Verfahren angegeben [11], und für kürzeste Linien (Dreieckseiten bis etwa 30 km) genügt vollständig ein System, das dem unter [11] gegebenen entspricht. Vgl. zu dieser Aufgabe auch noch [12].

Bezüglich der bei allen diesen Rechnungen zu erreichenden Genauigkeit mag hier nur darauf hingewiesen werden, daß, soll die bei Längenmessungen zu erzielende Schärfe in der Punktbestimmung auch bei der geodätischen Uebertragung nahezu erlangt werden, diese Rechnungen mit ungewöhnlicher Schärfe geführt werden müssen. Denn einer Bogensekunde entspricht im Meridian eine lineare Entfernung von etwa 31 m. Eine gewöhnliche Längenmessung auf 1–2 km läßt sich aber leicht bis auf 1 oder 2 cm genau ausführen, das würde also 0,0001'' bis 0,0002'' entsprechen. – Die Genauigkeit der direkten astronomischen Bestimmungen läßt sich höchstens bis auf das 100–200fache dieser Beträge treiben. – Kommen bei Routenaufnahmen oder bei der Navigation durch magnetischen Kurs und abgelaufene Länge solche »geodätische Uebertragungen« (denn das sind diese Aufnahmen tatsächlich) in Betracht, so dienen direkte astronomische Bestimmungen in angemessenen Intervallen nur zu deren Anschluß resp. Korrektion.


Literatur: [1] Schon Ende des 18. Jahrhunderts, vgl. dazu besonders Bohnenberger, De computandis etc., Tübingen 1826, § 21; deutsche Bearbeitung von Hammer (Die Berechnung der trigonom. Vermessungen), Stuttgart 1885, S. 44–46. – [2] Jordan, Handbuch der Vermess., Stuttgart 1896, Bd. 3, 4. Aufl., S. 304–305; Vermessungswesen der Stadt Dresden, Heft 1, Triangulierung 1., 2., 3. Ordnung, Dresden 1896, S. 182–184. – [3] Helmert, Theorien der höheren Geodäsie, Bd. 1 (Math. Teil), Leipzig 1880, S. 123–128, und das ganze Kapitel 9, besonders 8–11, S. 421–432; für die Umkehrung der Aufgabe §§ 15–17, S. 440–448, sowie Jordan, s. [2], ebenso die Originalliteratur von Bessel, Gauß und eine große Anzahl von Spezialabhandlungen in den geodätischen und astronomischen Zeitschriften, besonders der »Zeitschrift für Vermessungswesen« und den »Astronomischen Nachrichten«. Ueber die meisten neueren Arbeiten auf diesem Gebiete findet man Angaben in der »Zeitschrift für Vermessungswesen« in Artikeln von E. Hammer, W. Jordan u.a. Man vergleiche dazu das Inhaltsverzeichnis zu dieser Zeitschrift, S. 119 ff. – [4] Albrecht, Th., Formular und Hilfstafeln zur geographischen Ortsbestimmung u.s.w., Leipzig, Engelmann (hier besonders die Kapitel über Erddimensionen und die folgenden). Dieses Werk ist auch überall da zu gebrauchen, wo im Texte auf die Benutzung von Tafeln hingewiesen ist. Es enthält eine der vollständigsten Zusammenstellungen der auf das Besselsche Erdellipsoid gegründeten Tafeln. – [5] Bessel, Ueber die Berechnung der geographischen Längen und Breiten aus geodätischen Vermessungen, B., Abhandlungen, herausgegeben von W. Engelmann, Leipzig 1878, Bd. 3. – [6] Die Gaußsche Auflösung durch die Mittelbreitenformel findet sich in seinen Untersuchungen über Gegenstände der höheren Geodäsie, 2. Abhandlung (Gauß' Werke, Bd. 4, S. 301 ff., und Bd. 4, S. 352 ff.). – [7] Hansen, Geodätische Untersuchungen, Abhandlung Math.-physik. Kl. d. Ak. d. Wiss., Leipzig, Bd. 8, 1. Teil, 1. und 2. Abschn., Leipzig 1865. – [8] Clarke, Geodesy, Oxford 1880. – [9] Rechnungsvorschriften für die Trig. Abt. d. Landesaufnahme, Formeln u. Tafeln für Dreiecke, 1. Ordn., Berlin 1878, sowie die unter [4] angeführte Albrechtsche Tafelsammlung. – [10] Ebend., 2. u. 3. Ordn. – [11] Veröff. d. Kgl. preuß. Geod. Inst., Lotabweichungen, Heft 1, Berlin 1886, S. 13–24 (auf Grund der Gaußschen Formeln). Diese Helmertschen Formeln sind z.B. benutzt in Heft 2 der »Europ. Längengradmessung in 52° Br.« (Geod. Inst.), Berlin 1896 (Zusammenstellung S. 51). – [12] Andrae, Problèmes de haute Géodésie, 3. Heft, Kopenhagen 1883.

Ambronn.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 4 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 383-385.
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