Hirschhorn [1]

[65] Hirschhorn (richtiger Hirschgeweih), paarige knöcherne, verästelte, alljährlich (nach dem Abwerfen) sich erneuernde Fortsätze der Stirnbeine der hirschartigen Wiederkäuer. Da das Geweih nicht aus Hornsubstanz, sondern aus einem ossifizierenden Bindegewebe besteht, so ist es vom Horn (der Rinder, Schafe u.s.w.) gänzlich verschieden.

Am Stirnbein bildet sich im sechsten bis achten Altersmonat ein Knochenzapfen, der Rosenstock, auf welchem sich die Geweihe ansetzen, anfangs als einfache spitzige Stangen (Spießer), im nächsten Jahr mit je einem Ast (Gabler), später mit steigender Verästelung. Ein typisches Geweih besteht aus der Rose, das ist die mit kropfigen Auswüchsen, den Perlen besetzte Basis der Stange, dann folgt der unterste, meist nach vorne gerichtete Ast, der Augensproß,[65] oberhalb desselben der Eissproß, in der Mitte der Stange der Mittelsproß, die äußersten Enden heißen die Krone. Während des Wachstums ist das Geweih von der haarigen Haut (Bast) besetzt, deren Blutgefäße entsprechende Abdrücke an der Oberfläche der Stange hinterlassen. Nach etwa 120 Tagen ist das Geweih vollständig ausgewachsen, bald darauf vertrocknet der Bast und wird vom Hirsch abgerieben (er »fegt«).

Am meisten finden Geweihe vom Edelhirsch und vom Reh Verwendung; außerdem haben gegenwärtig die Aufsätze amerikanischer und indischer Hirsche (Moosetier oder »Original«, Virginiahirsch, Wapiti) größere Verbreitung gefunden. Meist nur lokale Bedeutung besitzen Elch-, Ren- und Damhirschgeweihe. Abgesehen von ihrer Verwendung als Zierat für Jagdzimmer werden sie zu Messer-, Gabel-, Hirschfängergriffen, Kronenlüsters und verschiedenen Drechslerwaren (besonders häufig zu Knöpfen für Jagdkleider) verarbeitet, wobei die natürliche eigentümlich narbige oder geperlte Außenseite erhalten bleiben muß. Nachahmungen aus gepreßtem Holz oder aus gefärbten Stücken von Röhrenknochen, deren Innenseite nach außen gerichtet wird, sind besonders in der Knopfindustrie sehr häufig. Rehgeweihe sind zu Pfeifenröhren u.s.w. gesucht, die reichgeperlte Rose (auch Rehkrone) ist besonders geschätzt. Das Geweih ist wie der Knochen zusammengesetzt, massiv (nicht hohl wie echtes Horn) und gibt geraspelt und gekocht (wie jede bindegewebige Substanz) eine Gallerte (Knochenleim), welche früher medizinisch verwendet wurde, wie überhaupt aus dem Hirschhorn pharmazeutische Präparate dargestellt worden sind, die man gegenwärtig aus Knochen erhält, wie das Hirschhornöl, ein Produkt der trockenen Destillation, der Hirschhorngeist, das wässerige hauptsächlich aus Ammoniumkarbonat bestehende Präparat, und das Hirschhornsalz, das aus Ammoniumkarbonat (s.d.) besteht. In einigen Staaten sind geraspeltes Hirschhorn oder die Drehspäne (Cornu Cervi torquatum) noch heute offizinell. Nach Merat de Guillot besteht Hirschhorn aus 27% Leim, 57,5% Calciumphosphat, 1% Calciumkarbonat und 14,5% Wasser; Geweihe älterer Tiere haben meist einen höheren Kalkgehalt. Das meiste Hirschhorn kommt aus Tirol, Ungarn und Amerika.

T.S. Hanausek.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 5 Stuttgart, Leipzig 1907., S. 65-66.
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