[210] Involution der Schnitt- und Kraftrichtungen.
Wird ein fester Körper von äußeren Kräften in Anspruch genommen, so entstehen im Innern des Körpers Spannungen und auf jede im Innern des Körpers gedachte Schnittfläche wirkt eine Kraft von bestimmter Richtung und Größe. Ist die Schnittfläche unendlich klein, so läßt sich stets annehmen, die auf sie einwirkende Spannung sei gleichförmig verteilt und ihre Mittelkraft gehe durch den Schwerpunkt der Fläche. Die auf die Flächeneinheit treffende Spannung wird häufig »spezifische Spannung« genannt. Im allgemeinen führt die Untersuchung dieser inneren Kräfte zu einer räumlichen Aufgabe; sind jedoch parallele Schnittflächen vorhanden, auf die keine oder bloß normale Kräfte einwirken, so läßt sich die Aufgabe auf die Ebene beschränken. In diesem Falle ergibt sich folgendes: Es seien A B C die Kräfte, die auf ein unendlich kleines, dreieckiges Element a b c einwirken, und A1 A2 B1 B2 die Kräfte, die man erhält, wenn man A und B parallel zu a und b zerlegt. Da von den fünf Kräften drei durch die Mitte von c gehen, so muß auch die Mittelkraft der zwei übrigen durch diesen Punkt gehen. Folglich verhält sich A2 : B2 = a : b. Stehen a und b aufeinander senkrecht, so sind A2 : a und B2 : b die in a und b wirkenden spezifischen [210] Schubspannungen; folglich: die in zwei aufeinander senkrechten Schnitten wirkenden spezifischen Schubspannungen sind einander gleich. Wird A2 = 0, so verschwindet auch B2; folglich: läuft A parallel zu b, so läuft auch B parallel zu a; die Schnittrichtungen a und b sind einander vertauschbar zugewiesen (konjugierte Richtungen). Hält man die Seite a fest und läßt b sich verlängern, so daß die Seite c sich um ihren rechten Endpunkt dreht, so bleibt im Kräftedreieck A fest und die Kraft C dreht sich um ihren unteren Endpunkt. Da hierbei die Kraft B der Länge b proportional bleibt, so projizieren die Seite c und die Kraft C ähnliche Punktreihen. Schnitt- und Kraftrichtung sind also zueinander projektivisch und da sie einander vertauschbar zugewiesen sind zugleich involutorisch. Da jedes involutorische Strahlenbüschel zwei rechtwinklig aufeinander stehende Strahlen (Hauptstrahlen) besitzt, so folgt, daß es stets zwei aufeinander senkrechte Schnitte gibt, auf welche nur senkrechte (Zug- oder Druck-) Spannungen wirken (Hauptschnitte, Hauptspannungen). Hat die Involution keine reellen Doppelstrahlen (elliptische Involution), so wird der Stoff in allen Schnitten in gleichem Sinne, entweder auf Zug oder auf Druck, in Anspruch genommen; Schnitte, welche nur scherend in Anspruch genommen werden, gibt es nicht. Hat die Involution reelle Doppelstrahlen (hyperbolische Involution), so sind die beiden Hauptspannungen ungleichen Zeichens und die Doppelstrahlen trennen die Schnitte, in denen der Stoff auf Zug in Anspruch genommen wird, von denjenigen, in welchen er auf Druck beansprucht wird; Schnitte in der Richtung der Doppelstrahlen werden nur scherend in Anspruch genommen. Analoge Sätze ergeben sich, wenn man die Betrachtung auf den Raum überträgt.
Literatur: Winkler, Die Lehre von der Elastizität und Fertigkeit, Prag 186768; Culmann, Die graphische Statik, 2. Aufl., Zürich 1875; Ritter, W., Anwendungen der graphischen Statik, 1. Teil, Zürich 1888.
Mörsch.