[388] Eines der erfolgreichsten Worte aus dem lateinischen Sprachschatz. Alle abendländischen Sprachen haben es rezipiert und gebrauchen Natur fast gleichlautend und in so ähnlichen Bedeutungen, daß bei der Übersetzung von einer Sprache in die andere Germanismen, Gallizismen und Anglizismen fast nicht bemerkt werden. Nur die slawischen Sprachen haben es zu Lehnübersetzungen gebracht1. Aber auch da ist das Lehnwort natura selbst vielfach im Gebrauch, bald in der Umgangssprache wie im Böhmischen, bald in der Naturwissenschaft wie im Russischen, wo übrigens auch der Atelierausdruck Natur aus dem Französischen entnommen ist (Naturklasse). Das Wort ist überall so abgenützt, daß es als Adverb beinahe zur sinnlosen Interjektion geworden ist, wie auf ganz entgegengesetztem Gebiet das Wort gut. Das Werturteil gut stammt aus der Sphäre des sogenannten freien Willens, das Wort Natur aus der Sphäre der Notwendigkeit, der sogenannten Gesetzmäßigkeit oder Kausalität; und doch sind die Ausrufe eh bien! und natürlich! in vielen Fällen gleichbedeutend, soviel wie ja mit dem Nebenton des Selbstverständlichen.
Die Wortgeschichte hätte zwei Aufgaben zu lösen: von welcher Grundbedeutung stammt die latein. Lehnübersetzung natura, und welche Grundbedeutung verbindet den ausgedehnten Sprachgebrauch des jetzigen Abendlandes. Beide Aufgaben werden nur unvollständig zu lösen sein.
Für mich besteht kein Zweifel, daß natura eine Lehnübersetzung von dem Griechischen physis ist. Wo aber nahmen die Griechen das Wort, das offenbar selbst Lehnübersetzung ist, weil die ursprüngliche Bedeutung schon vor griechischer Philosophie eine philosophische ist, – wo nahmen die Griechen den Sinn des Wortes her? Es wäre eine schwere und würdige Aufgabe, die Lehnübersetzung so allgemeiner griechischer Worte so[388] weit zu verfolgen, daß auf die Herkunft der griechischen Geisteskultur mit besserm Rechte geschlossen werden könnte, als die fixe Idee der geltenden Sprachvergleichung uns gibt. Physis bedeutet ursprünglich, schon bei Homeros, die Anlage, das Wesen einer Person oder einer Sache, erst in der klassischen Zeit der griech. Philosophie die Naturordnung, die Natureinrichtung, und wird in vielen technischen Ausdrücken (physei kata physin usw.) wie unser Adjektiv natürlich gebraucht. Im Sinne unseres Natur, des Naturganzen, der Mutter Natur, kennen es erst die Alexandrinischen Schriftsteller. Der Charakter der Lehnübersetzung des latein. natura wird durch die Gleichung phyein = nasci offenbar. Natura hat sich in allerlei Beziehungen zur Geburt und zu den Zeugungsgliedern erhalten. Allgemein wird es dann wie physis von der Anlage, dem Wesen einer Person oder einer Sache gebraucht; aber von Cicero bis Seneca entwickelt sich der Sinn, der zuerst bei Lucretius aus seiner Weltanschauung hervorging, von ihm also individuell entlehnt war: die Einrichtung der Welt, die natürliche nämlich, der natürliche Lauf der Dinge, die natürliche Gesetzmäßigkeit1. Es steckt etwas[389] Adjektivisches darin. In diesem Sinne sprach man immer häufiger de natura rerum; und als rerum natürlich fortgelassen wurde, wurde natura zum Ding, zur Substanz, zur einzigen Substanz. Eigentlich vollzog sich dieser Übergang völlig erst in den sogenannten Tochtersprachen des Latein, zu christlicher Zeit. Natürlich, weil das glückliche Altertum wohl sehr genau den Gegensatz kannte zwischen physei und thesei dem natürlichen Entstehen und der willkürlichen Satzung, nicht aber kannte die Gewissensqual des christlichen Mittelalters, den Gegensatz zwischen der notwendigen und darum unverantwortlichen Natur und dem freien, also verantwortlichen Willen. Die Freiheit des Willens ist eine unnatürliche Hilfskonstruktion christlicher Theologie, schleppt sich seit der Renaissance der Naturwissenschaften nur noch auf Schulkathedern und auf Kanzeln mühselig fort. Frei war zu ihrer Strafe (um sie verantwortlich machen zu können) tausend Jahre lang die menschliche Seele, der menschliche Geist; was unfrei und unverantwortlich von der Welt übrig blieb, das wurde in der langen christlichen Zeit unter dem Worte Natur zusammengefaßt. Und ich hoffe zu zeigen, daß diese Grundbedeutung à peu prés dem ausgedehnten modernen Gebrauche des Worts wirklich zugrunde liegt. Ich hoffe es aus dem Gebrauch der entgegengesetzten Worte zu erweisen.
Vorher nur einen Überblick über die Entwicklung der Wortgeschichte im Deutschen, selbstverständlich nach dem D. W. Wulfilas Bibelübersetzung bemüht sich noch die Vorlage physis bald streng, bald frei durch Lehnübersetzung wieder zu geben; bald durch gabaurths, bald durch vists, also Geburt und Wesen. Im Ahd. wird ganz ähnlich natura zu übersetzen versucht mit Hilfe des Stammes kun2. Erst seit Notker ist das Fremdwort natura[390] (aber sogleich Lehnwort mit deutscher Deklination) häufig, nachdem Otfried es vorher schon gebraucht hatte. Das Wort dringt immer wieder neu ein, offenbar gelegentlich in niederländischer oder französischer Umlautung, und widersteht sowohl dem Versuche puristischer Lehnübersetzung, als auch dem ganz verrückten Versuch (von Stieler), es volksetymologisch aus einem deutschen Stamme abzuleiten. Die Bedeutung Anlage, Wesen, wird zuerst aus dem Griechischen, dann aus dem Lateinischen mit übernommen; die Bedeutung Naturganzes, Mutter Natur usw. holten wir ganz unfrei aus den andern und altern modernen Kultursprachen.
Und nun darf ich die vier Zweige, in denen der Wortgebrauch bei den Dichtern und Denkern des Abendlandes seit etwa tausend Jahren sich auseinanderbreitet, auf den einen Stamm zurückführen, den christelnden Gegensatz zwischen Freiheit und Unfreiheit des Willens. Man wird erst aus den spätern Beispielen erkennen, wie der logische und der geschichtliche Gang sich nicht deckt, und wie die logischen Kreise des Begriffsumfangs einander vielfach kreuzen. Sollte es mitunter scheinen, als hätte ich bei diesem Stammbaum allzu bewußt den Grundgegensatz von Freiheit und Unfreiheit hineingelegt, so wird hoffentlich näheres Zusehen immer erkennen lassen, daß dieser Gegensatz unbewußt doch den Sprachgebrauch erzeugte.
1) Im Sinne von Anlage oder Wesen haben schon die Lateiner und vor ihnen die Griechen das Wort gebraucht. Auch vom Menschen, wenn auch häufiger von den Dingen. Ich finde in der Anwendung auf den Menschen keinen Widerspruch gegen meine Aufstellung. Anlage oder Wesen ist das in einem Dinge[391] oder einem Menschen, woraus die Tätigkeit des Dinges oder des Menschen zu begreifen ist. Es ist die Natur des Steins, ohne Unterstützung zu fallen, die Natur der Pflanze, zu blühen usw. Die Natur des Löwen, seine Beute zu fressen, die Natur des bösen Menschen, zu schaden, die Natur des guten Menschen, zu nützen, wie man das tautologisch auseinandersetzt. Die Natur des Einzelmenschen ist also sein angeborener und unveränderlicher Charakter. Wie er in jedem Augenblicke handelt, das hängt nun ab von dieser Natur und dann von etwas, was nicht in diesem Sinne Natur ist: von seiner Umwelt, die als Motiv auf die Natur, den individuellen Charakter, wirkt, welche Motivation dann in der christlichen Zeit um der theologischen Moral willen in den freien Willen geschoben wurde. So steht Natur im Sinne von Anlage wirklich der Willensfreiheit gegenüber; im Altertum ist diese Natur noch moralfrei, im Mittelalter wird sie unmoralisch, weil amoralisch.
2) Das eigentlich treibende Prinzip, das wirkende Wesen der Dinge wurde schon im Altertum allgemein zusammengefaßt zu dem Begriff, der wie gesagt natura rerum hieß und nach Fortfall des überflüssigen rerum zu unserem Begriff des Naturganzen wurde, fast mythologisch zur Mutter Natur. Durch Jahrhunderte (von Averroës bis auf Lessings plastische Natur, »wenn es eine solche gibt«, und bis zur Gegenwart) rächt sich die Mythologie für diesen Sprachgebrauch dadurch, daß die Natur immer wieder in die natura naturata und die natura naturans zerspalten wird; nirgends sprachlich inniger als bei Meister Eckhart. Es ist aber im Grunde ein unsagbarer Gegensatz, nur daß die heimlichen und unbewußten Pantheisten in der natura naturans ihren unbekannten Gott verehrten. Die Natur, von der wir etwas zu wissen glauben, ist natura naturata; die Natur, von der wir gar nichts wissen, ist natura naturans. Natura naturans ist die mythologische Natur; natura naturata ist dieselbe Allmutter ohne Mythologie. Natura naturans und natura naturata ist immer nur das Naturganze, einmal makroskopisch, das anderemal mikroskopisch angeschaut; oder auch umgekehrt. Diesem Naturganzen steht aber doch ein anderer Begriff als[392] klärender Gegensatz gegenüber, wenn das auch erst seit kurzer Zeit im menschlichen Bewußtsein aufdämmert. Dem Ganzen der Natur steht das ganze menschliche Handeln gegenüber, der Natur die Geschichte, welche nicht die Geburten von Individuen, sondern die gesta der Völker aufzeichnet. Streng genommen mußte die christliche Zeit den Gegensatz kleiner sehen, weil doch der allmächtige Gott Natur und Geschichte schuf. Gesta Dei per Francos. Aber das Mittelalter hatte ein schlechtes Gewissen, weil es ein Gewissen hatte. Völker und Völkerhirten waren durch Willensfreiheit für die Geschichte verantwortlich; Steine, Pflanzen und Tiere waren die unverantwortliche Natur. Die Menschenhistorie wurde von der Moral geschrieben, die historia naturalis war amoralisch. Man empfand die Bezeichnung historia (Naturgeschichte) noch nicht als sinnlos, weil historia nur Kunde war. Was man kannte. Im Sinne von Welthistorie hatte Natur damals noch keine Geschichte, ihren Schöpfungstag etwa ausgenommen. So blieb es, bis vor etwa fünfzig Jahren das Schlagwort Entwicklung, d.h. Geschichte, d.h. menschliche Zweckbegriffe auf die Natur angewandt wurden, und der Darwinismus so siegreich schien, wie fünfzig Jahre vorher Hegels Lehre von der Begriffsbewegung. Jetzt wurde plötzlich ein Gegensatz zwischen naturgeschichtlichen und historischen Begriffen erkannt, weil die Mode ihn zu verwischen drohte. Und weil zugleich die moralistische Behandlung der Welthistorie in Mißkredit kam, weil sich Historie oft in Statistik auflöste, darum fingen deutsche Gelehrte an, über den Gegensatz von Natur und Geschichte nachzudenken. Aber eigentlich dachten sie fast immer nur nach über die Abgrenzung der Disziplinen ihrer ordentlichen Professuren.
Hätten wir es wirklich so herrlich weit gebracht, wie die Ausdehnung der darwinistischen Gedanken (über die Entwicklung der organischen Welt hinaus) auf die Entstehung der Organismen, sodann auf die Entwicklung von Organismen in übertragenem Sinn, auf Staat und Sitte, auf Sprache und Kultur, auf Handel und Wandel uns wieder einmal glauben ließ und unsere wortabergläubischen Monisten besonders hartnäckig glauben[393] läßt, hätten wir wieder einmal alle Welträtsel mit einem Schlagwort gelöst: dann könnten wir ja eine Geschichte oder Historie des Weltganzen schreiben oder lesen, in der das natürliche Werden des Urnebels aus den Energiepunkten, der Elemente aus dem Urnebel, der Stoffe aus den Elementen, der Organismen aus den Stoffen, des Menschengeistes aus den Organismen, der Völkergeschichte aus der Prähistorie, der Erfindung des lenkbaren Luftschiffs im Jahre 1907 aus der Völkergeschichte fein säuberlich und gesetzmäßig aufgezeichnet stünde. Dann hätten wir den Gegensatz von Natur und Geschichte, von Natur und Mensch, von Notwendigkeit und Willensfreiheit endgültig überwunden und könnten den Begriff Natur aus der Sprache hinauswerfen, so daß die Sprache denaturiert wäre. Nur daß wir es so herrlich weit nicht gebracht haben.
3) Was der Mensch mit scheinbar freiem Willen und zweckmäßig, seiner Natur entsprechend und entgegen der Natur, an großen Einrichtungen geschaffen hat, wie Staat und Kirche, Handel und Verkehr, Sprache und Sitte, das wird seit dem Ausklingen des Rationalismus und der Aufklärung immer besser verstanden als ein Walten unbewußten Willens und unbewußter Zwecksetzung. Will man aus den Institutionen menschlichen Fortschritts eine Gruppe herausheben, die ganz erheblich mit dem Bewußtsein eines zweckmäßigen Wollens verbunden ist, so gebraucht man dafür seit einigen Jahrzehnten das Wort Kultur. Dieser Sprachgebrauch ist noch so neu, daß nicht einmal die Fachgelehrten der Kulturwissenschaft das Wort Kultur definieren können. Neu ist auch sein Gegensatz zur Natur. Im Lateinischen wird es fast nur auf die Natur angewandt; cultura die Pflege, gilt nur dem Boden, den Pflanzen, den Tieren, welche darum Haustiere heißen. Anwendung auf die Menschenseele wird noch als Metapher empfunden. Die alte Wortbedeutung hat sich noch in Ausdrücken des Forstwesens, in Begriffsbildungen wie Kulturpflanzen usw. erhalten. (Vgl. Art. Kultur.)
Nun war es eine Folge der Demokratisierung der abendländischen Weltanschauung, daß die alte äußere Staatengeschichte mehr und mehr durch die moderne innere Kulturgeschichte verdrängt[394] wurde. Montesquieu, Voltaire, Herder lehrten noch nicht den Sturz des Heroenkultus, aber sie bereiteten die Verehrung der Kultur vor. Die Volksmasse wurde der neue Heros, und die aktuelle Weltgeschichte wurde danach. Stand tausend Jahre lang die willenlose Natur der rationalistisch gewollten Menschengeschichte gegenüber, so entwickelte sich jetzt der schärfere Gegensatz zwischen der ursprünglichen, groben, unzivilisierten und unpolizierten Natur und der feinen polizierten Kultur mit allem Komfort der Neuzeit. Naturzustand und Kulturzustand; Naturvölker und Kulturvölker. Wir haben Kultur; wir haben immer Kultur, wie die Lebenden immer modern sind.
Es ist nicht meine Schuld, wenn diese Begriffsentwicklung einen seltsamen Gegensatz birgt. Kultur ist das bewußteste Wollen des Fortschritts, und doch eliminiert gerade die neue Kulturgeschichte oder Massengeschichte den bewußten Einfluß der Führer oder Heroen. Die Sprache oder die Wissenschaft hilft sich ungefähr so, daß sie den Kulturfortschritt vergangener Zeiten der Masse aufs Konto schreibt, für die Gegenwart jedoch hunderterlei Fortschritt bewußt und individuell von dem Katheder herab verlangt durch den Mund einzelner Führer, die sich für Heroen halten. Für die vergangene Zeit ist alles Schöne und Gute von der Masse und ihrem Zeitgeist geschaffen worden; in der Gegenwart sorgt Patentschutz und überhaupt Schutz des geistigen Eigentums dafür, daß das Individuum seinen Anteil am Fortschritte der Menschheit bar bezahlt bekomme. So tritt, trotzdem Kulturgeschichte materialistische Naturgeschichte werden möchte, Kultur in den schärfsten Gegensatz zu Natur. Mag man Kultur schönrednerisch erklären als Bändigung des ungezügelten Naturtriebes durch den Willen oder als Beherrschung der Natur durch den menschlichen Geist, immer steht Kultur der Natur herrisch, feindlich gegenüber. Unsere Philosophen haben den Kulturbegriff gern an die Begriffe des Zwecks und der Willensfreiheit angeknüpft. Nach Kant ist Kultur »die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebiger Zweckmäßigkeit überhaupt, folglich in seiner Freiheit«. Nach[395] Fichte: »Übung aller Kräfte auf den Zweck der völligen Freiheit«.
Darum, weil nämlich Zwecke und Willensfreiheit nur beim Menschen sind oder doch kontinuierlich wirken, weil nur der Mensch Kultur hat (weil nämlich wir die Sprache und das Wort Kultur geschaffen haben), darum kann es wohl eine äußere Geschichte des Pferdes oder der Biene geben, keine innere, keine Kulturgeschichte des Pferdes oder der Biene. Biene und Pferd gehören zu der Natur, die der siegreiche Menschengeist sich ja unterworfen hat.
4) Der Menschengeist ist der letzte Gegensatz, der den Begriff Natur zugleich negiert und erläutert. Natur hieß, was keine Kultur hatte, was keine Geschichte hatte. Und als Hegel sich vermaß, das letzte Ende aller Begriffsbewegung gefunden zu haben und in seinem Kopfe oder in seinem Systeme darzustellen, als Hegel die philosophische Sprache mit dem Begriffe Geist infiziert hatte, da trat die Natur in Gegensatz zum Geiste. Gewiß war diese Gegenüberstellung schon älter, und die Scheidung blieb vor, in und nach Hegel nicht reinlich. Geist und Körper, Geist und Materie, Geist und Stoff (auch Geist und Zeug, weil Zeug die gute alte Lehnübersetzung von Materie war); und jenachdem der offene und versteckte Panpsychismus. Materie, Stoff und Körper vergeistigte, jenachdem in ewiger Gegenbewegung der Materialismus Geschichte und Einzelseelen verstofflichte, ließ sich auch der Gegensatz von Geist und Natur nicht festhalten. Nicht nur die Mystiker wie Eckhart warfen Geist und Natur wieder zusammen, in ihren Gott hinein. Goethe teilte Hamanns tiefste Anschauungen, »wo sich Natur und Geist im Verborgenen begegnen«; Goethe und Novalis sprachen von der Ehe, von der Liebe zwischen Geist und Natur. Auch sprach man lange vor den Naturphilosophen vom Geiste der Natur, koppelte also den Gegensatz. Und weil hinter dem Geiste immer der heilige Geist, also eine Person der Gottheit, versteckt war, hinter der christlichen Natur immer wieder die sündige, die abgefallene Natur hervorguckte, darum wurde auch Geist und Welt statt Geist und Natur gesagt und bald eine Harmonie, bald[396] ein Gegensatz darunter verstanden; den Gegensatz empfand man so stark wie: Geist und Fleisch. Gefällig wie die Sprache überhaupt konnte noch Rückert in der Weisheit des Brahmanen reimen: »Aus Geist entstand die Welt und gehet auf in Geist; Geist ist der Grund, aus dem, in den zurück sie kreist.« Es ist nicht jedermanns Sache, jedes dieser Worte verstehen zu wollen, also historisch zu begreifen und dann mit einem stillen Lachen über die leere Weisheit zu antworten.
An dieses Verhältnis der Natur zum Geist möchte ich noch zwei Gegensätzlichkeiten knüpfen, deren eine, Natur und Kunst, von großer Bedeutung für die Begriffsgeschichte geworden ist, deren andere, Natur und Gnade, den abschüssigen Weg aller Theologie zu gehen scheint. War die Natur von Hause aus sündhaft, auch im Menschen, so konnte er nur durch übernatürliche Hilfe, durch Gnade, gerettet, erlöst werden. War aber die Natur von Natur gut, weil alle Natur aus Gott kam, oder weil die Menschengeschichte einen Rückschritt darstellte, dann war alle Kultur schlecht, alle Kultur künstlich, alle Kunst schlecht. Man könnte mit einiger Übertreibung sagen, daß dieser Gegensatz die zweite Hälfte des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts trenne. Die erste Periode stand unter dem Einfluß Rousseaus: die Welt ist Rückschritt; die zweite Periode stand unter dem Einfluß Hegels: die Welt ist Fortschritt, in der Idee wenigstens. Es ist erfreulich, daß die beiden freiesten Denker dieser Kampfzeit den Gegensatz nicht anerkannten. Aus kleinem Anlaß sagt Goethe die bekannten Worte: »Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden.« Und aus größerm Anlaß sagt Kant: »Vollkommene Kunst wird wieder zur Natur.«
So hat der Begriff Natur nach Überwindung der Individualanlage und der Individualerscheinung sich immer mehr zur Anwendung auf das Naturganze erweitert oder eingeschränkt; und als von seinen beiden Unterbegriffen (in dieser Beziehung auf das Ganze) die natura naturans zum Geistigen verflüchtigte, blieb[397] für einen Ungeheuern Sprachgebrauch die natura naturata allein übrig: Natur war die konkrete rerum natura, der Kosmos. Was wir vom Kosmos wissen an Einzelbeobachtungen und an sogenannten Gesetzen, an Naturgesetzen, das häuft sich unübersehbar und jedenfalls seit Humboldt unübersehen zu der Vorstellung von den Naturwissenschaften zusammen, die man seit etwa dreihundert Jahren ganz gottlos auf Erfahrung auf- und auszubauen sucht, und die man seitdem oft Erfahrungswissenschaften genannt hat. Nun mag uns der Weg, der uns die Natur als das Reich des Unverantwortlichen kennen gelehrt hat, zu einem guten Aussichtspunkte führen. Was ist das, was wir zu wissen glauben und das doch nicht Natur ist? Wir haben viele Antworten: weil es nicht Natur ist, das Reich des Unverantwortlichen, darum ist es wohl das Reich der Freiheit; weil es nicht zu den Naturwissenschaften gehört, die allein auf Erfahrung beruhen, darum ist es etwas, wovon wir keine Erfahrung besitzen; und weil die Sprache gefällig ist, so faßt man ungefähr seit Hegel das Reich der Freiheit, wovon wir gar keine Erfahrung haben, unter dem Begriffe der Geisteswissenschaften zusammen. In Deutschland wenigstens. In England spricht man seit Hume von moral philosophy. Psychologie, Geschichte, überhaupt Philologie, Ästhetik, Ethik, gewißlich doch Theologie, die so etwas wie Pneumatologie ist, und leider auch Philosophie gehören zum festen Bestande der Geisteswissenschaften. Windelband hat eine hübsche Abhandlung über das Verhältnis der beiden Gruppen geschrieben; andere haben ihr Wasser dazu gegossen.
Windelbands Schrift, die Straßburger Rektoratsrede von 1894 »Geschichte und Naturwissenschaft«, liebt zwar aus allen Geisteswissenschaften nur die Geschichte hervor, geht aber von der allgemeinem Dichotomie in der Klassifikation der Wissenschaften aus. Windelband scheint bemerkt zu haben, daß die Klassifizierung nach einer einheitlichen Methode – ob es nun die mechanistische, die geometrische, die psychologische, die dialektische, in neuester Zeit die entwicklungsgeschichtliche war – dem System ein wenig Gewalt antat. Er weiß schon, daß die Psychologie sich dem Schema nicht fügen will, weil sie ihrem [398] Gegenstande nach die Geisteswissenschaft kat' exochên ist, in ihrer gegenwärtigen Methode aber eine Naturwissenschaft. Psychologie ist die geistige Naturwissenschaft. Windelbands wertvolle Bemerkung sagt: die Naturwissenschaften einschließlich der Psychologie; suchen Gesetze des Geschehens auf; die historischen Disziplinen (die an dieser Stelle ein wenig mit den Geisteswissenschaften verwirrt werden) wollen ein einzelnes Geschehen von einmaliger Wirklichkeit darstellen. »Jene lehren, was immer ist, diese, was einmal war.« Nachdem Windelband diesen Gedanken schön dargelegt hat, müht er sich aber vergebens ab, Schopenhauers Haß gegen die Geschichte, die keine Wissenschaft sei, zu bekämpfen, nennt den Zufall in der Geschichte das Unaussagbare und arbeitet überhaupt an einem Oberbegriff, der Geschichte und Naturwissenschaft umfassen soll. Das Ewige und das Einmalige sei relativ, und wiederum lasse sich jede Naturwissenschaft auch als Geschichte betrachten. Es sei ein Fehler der alten Logik gewesen, nur an die Naturwissenschaften zu denken und die Kritik der Geschichte zu vernachlässigen. Philosophische und historische Begabung finde sich aber selten vereinigt. Längst anerkannt ist es, daß die Naturwissenschaft Gesetze sucht, die Geschichte Gestalten, daß die erste abstrahiert, die andere als Kunst anschaulich darstellt. Auf die Frage nach dem Werte der einen und der andern Disziplinen, möchte ich hier nicht eingehen. Nicht objektive Werte, sondern subjektive Werturteile, ja ursprünglich der naive Realismus des Interesses entscheidet darüber, was aus der unendlichen Fülle zeitlichen Geschehens zur historischen Tatsache wird und was nicht.
Neuerdings, von verschiedenen Seiten beeinflußt, hat Windelband diesen Gedankengang wieder aufgenommen in einem Vortrage: »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«. Die große Lücke in der Weltanschauung Kants müsse ausgefüllt, die Historie müsse erkenntnistheoretisch begründet werden. Es wird sich dabei wohl um die unlösbare Aufgabe handeln, eine Erkenntnistheorie der erkenntnisfremden Wertbegriffe zu schaffen. Leise klingen Kirchenglocken darein, wie[399] an hohen Festtagen oder an Kaisers Geburtstag. »Es ist völlig aussichtslos, aus der Betrachtung des Menschen als Naturwesen und aus seiner darin enthaltenen Triebbestimmtheit die Vernunftwerte des geistigen Lebens ableiten, begreifen und begründen zu wollen.« Windelband weiß selbst, daß man das eine unberechtigte Vermenschlichung des Weltbildes nennen kann. Wie wär's, wenn er nur den bestimmten Artikel fallen ließe und ohne Glockenklang, philosophischer sagte: »Es ist völlig aussichtslos, aus der Betrachtung des Menschen als Naturwesen Vernunftwerte ableiten zu wollen.« (Vgl. Art. Geschichte.)
Wir wissen jetzt, warum der Gegensatz zu den Naturwissenschaften so schwer zu fassen ist: weil der Gegensatz zum Naturbegriff in der Sprache nie fest geworden ist. Die Geisteswissenschaften decken sich vielfach, aber nicht genau, mit den Kulturwissenschaften, mit den Geschichtswissenschaften. Wenn wir nur sagen könnten, was die menschliche Seele ist, so wäre die Psychologie in erweiterter Bedeutung ein gutes Wort für die Gesamtheit aller sogenannten Kenntnisse, die nicht Naturwissenschaften sind; und daß wir von der menschlichen Psyche zwar unzählige Erlebnisse haben, aber keine Erfahrung, würde ja recht gut passen. Nur daß in noch erweiterter Bedeutung auch die Naturwissenschaften unter den Begriff Psychologie fallen könnten.
Gibt es aber alle die Gegensätze zur Natur, gibt es Kultur, Kunst, Geschichte, Moral, Geist und Freiheit überhaupt nur beim Menschen, ist Natur und Mensch der große Gegensatz (in der Sprache natürlich nur), dann könnte man all die prächtigen Wissenschaften, die nicht Naturwissenschaften sind, recht hübsch unter dem Namen zusammenfassen: Wissenschaft vom Menschen. Und nicht jeder würde beim Gebrauche des Worts das leise Lachen der alten Sprache vernehmen, die wie zum Scherze konsequent sein, die Natur den Unmenschen und die Naturwissenschaften das Wissen vom Unmenschen nennen könnte. Uralte traurige Weisheit wäre da neu zu lernen: daß der Mensch immerhin einiges weiß vom großen Unmenschen, von der Natur, daß der Mensch aber ganz und gar nichts weiß von sich selbst, vom Menschen.[400]
Und die lachende alte Sprache könnte bei der Betrachtung verweilen, welche Werkzeuge den armen Menschen bei ihren Bemühungen um die Natur und um die Geisteswissenschaften (denn man wird meine lachende Einteilung doch nicht annehmen) zur Verfügung stehen. Es werden wohl die altbekannten Werkzeuge sein: Verstand und Vernunft, beide im Sinne Schopenhauers gefaßt. Oft genug wie im Märchen: der Verstand eine silberne Axt ohne Stiel, die Vernunft ein goldener Stiel ohne Axt. Und die Naturwissenschaften haben es wirklich in den letzten drei unchristlichen Jahrhunderten weit gebracht, bis an die Sterne weit. Der Verstand hat die Kausalität durchschaut; die Vernunft hat solange abstrahiert und die Abstraktionen methodisch geordnet, bis Tabellen und Lehrbücher und Methoden für all die Kulturerrungenschaften billig hergestellt worden sind, die unsern Stolz ausmachen. Das alles hat der Verstand ermöglicht, der treue Diener der Naturwissenschaften.
Und wirft man den Geisteswissenschaften vor, daß sie nur auf Vernunft, d.h. auf Worten beruhen, daß sie gar nicht vom Verstande, d.h. von der kausalen Erkenntnis der Wirklichkeit beeinflußt sind, dann nehmen das die Geisteswissenschaften übel und werfen dem Verstande der Naturwissenschaften vor: der Mensch allein besitze Vernunft oder Sprache; die Wissenschaft vom Menschen, z.B. Psychologie, sei die höchste Wissenschaft; eine gewisse Wissenschaft von der Natur besitze auch das Tier, trotzdem es nur Verstand und gar keine Vernunft habe.
Mir fällt es natürlich nicht ein, Partei ergreifen zu wollen. Denn die Unfruchtbarkeit aller Wissenschaft vom Menschen ist Mitleid erregend. Und die Fortschritte der Naturwissenschaften sind verblüffend. Jeder Tag bringt neue Wunder. Noch vor wenigen Jahren war es der höchste Triumph, als der Draht die Gespräche zwischen Freunden über weite Strecken vermittelte, mit jedem Zufall der Aussprache, ganz mechanisch. Und jetzt ist auch das übertroffen. Ohne Draht, ohne sichtbare Leitung sendet der elektrische Funke Zeichen hinaus, läßt Zeichen aufnehmen und wird am Ende gar noch Lichtbilder wiederholen. Ganz mechanisch. Und welch ein Gedanke, wenn es einmal gelänge,[401] eine freitätige Maschine zu erfinden, die aus sich selbst heraus von Europa melden könnte, was Europa lieb und leid ist, und was drüben etwa lieb und leid wäre. Das wäre was. Wäre fast so groß wie die uralte Einrichtung, nach der ein Mensch dem andern, ein Tier dem andern ohne sichtbare Leitung, durch die Luft, durch den Äther, zurufen und zeigen gelernt hat, was ihm lieb oder leid ist, was dem andern leid oder lieb ist. Nicht ganz mechanisch, was man mechanisch nennt. Aber ganz gewiß ohne den Besitz von Naturwissenschaften.
Wie sehr im Begriffe Natur Abkehr von Menschenzweck und Menschenwillen durchklingt, das mag jetzt eine kleine sprachliche Bemerkung lehren. Zu allen andern kontrastierenden Begriffen ist der Gegensatz so fließend, daß jeder Doppelbegriff möglich wurde, der Gegensätze zusammenkoppelte: Naturabsicht, Naturanschauung, Naturfreiheit (Goethe), Naturgabe, Naturgeschichte, (bei Herder, Goethe, Kant, Naturgeschichte der Erde, Asiens, des Himmels, nicht nur im Sinne von Naturbeschreibung), Naturgewalt, Naturidee (Herder), Naturmensch, Naturtrieb, Naturverstand, Naturwissenschaft, sogar Naturzweck und Naturzweckmäßigkeit (beide bei Schiller); nur die Worte Natur und Kultur sind noch niemals gekoppelt worden.
Wenn ich nun noch etwas Schwereres versuchen will, die Tendenz nämlich zu erkennen, in welcher sich die Entwicklung des Naturbegriffs gegenwärtig etwa bewegt, so muß ich wieder ausholen und zwar von einer Begriffskoppelung, die uns bisher nicht beschäftigt hat: Naturschönheit. Ästhetische Freude an der Natur hat es eigentlich immer gegeben. Es ist nicht ganz wahr, was Friedländer in seiner bekannten Schrift bewiesen zu haben schien und was schon Schiller beklagt hatte: »Daß man so wenig Spuren von dem sentimentalischen Interesse, mit welchem wir Neuem an Naturszenen und Naturcharakteren hangen können, bei den Griechen antrifft... Die Natur scheint mehr seinen Verstand als sein moralisches Gefühl zu interessieren; er hängt nicht mit Innigkeit und süßer Wehmut an derselben,[402] wie die Neuem.« Alexander von Humboldt hat im II. Bande seines Kosmos mit souveräner Bildung Literaturstellen gesammelt, die Sinn für Naturschönheit, für älteste und alte Zeiten beweisen. Humboldt weist besonders auf das Naturgefühl einiger Kirchenväter hin. Es ist freilich nur eine Stilübung und eine schlechte dazu, wenn er den Satz wagt: »Und wie das Christentum... in der großen Angelegenheit der bürgerlichen Freiheit des Menschengeschlechts für die niederen Volksklassen wohltätig wirkte, so erweiterte es auch den Blick in die freie Natur.« Die Unterstreichung des abscheulichen Wortspiels stammen von Humboldt selbst.
Die intensive, bewußte, erhöht-künstlerische Freude an der Natur ist wirklich neu. Nur gelegentlich und knapp wird die Natur im Altertum, fast scheu im Mittelalter von Künstlern benützt. Als Beispiel vergleiche man, wie wenige Worte das Nibelungenlied für Landschaft und Naturtreiben bei der Jagd vor Siegfrieds Tode aufwendet und mit welcher fast mikroskopischen Virtuosität Richard Wagner musikalisch das Waldweben usw. ausstattet, Wilhelm Jordan dichterisch noch genauer den gleichen Vorgang.
Die intensive, bewußte, erhöht-künstlerische Freude an der sehen gegenüber, wie eine Feindin. Die Natur predigt schreckhaft die Allmacht oder lieblich die Güte des Schöpfers, je nach dem Naturgefühl des Künstlers. Die Natur ist für lange Zeit hinaus das Stilleben. Interessant, laut, belebt wird die schönste Natur erst durch Menschen oder Götter, durch Staffage; es können Götter oder Schäfer, geputzte Herrschaften oder Zigeuner, Soldaten oder Räuber sein, je nach der Mode. Dann von Zeit zu Zeit bricht in der Kunst schon seit Jahrhunderten eine Neigung durch, die man nicht ernstlich für die neueste Mode halten kann: der Naturalismus, d.h. die Absicht, den Menschen in der Darstellung nicht von der Natur zu trennen, den Menschen ungewaschen und unstilisiert wiederzugeben, als ob er ein Felsstück im Walde oder ein Tupfen Moos auf diesem Felsstück wäre. Die Periode, durch die wir vor kurzem hindurchgehen mußten, war um nichts naturalistischer, war nur bewußter[403] als der Naturalismus von Shakespeare und seinen Genossen, als der Naturalismus der deutschen Stürmer und Dränger. Und bewußter war der allgemein europäische Naturalismus der 80er und 90er Jahre nur darum, weil er besonders in Frankreich sich seine geistige Nahrung holte aus der mächtig angeschwollenen Popularphilosophie des Materialismus, des Darwinismus, die von kirchlichen Schriftstellern als philosophischer Naturalismus denunziert wurden. Es wäre schlimm, wenn mit den schmutzigen und darum fruchtbaren Wellen des Naturalismus auch das Neue mit verschwinden sollte, was dem Streben der Besten zugrunde lag und was auf den großen Führer der Stürmer und Dränger zurückgeht: es ist kein Gegensatz zwischen Mensch und Natur. Das ist das Schönste, was wir Goethes Weltanschauung verdanken: wir sollen uns nicht einbilden, supranaturalistisch zu sein; die große Natur umfaßt auch den Menschen. Wir sind auch nur Natur. Der Mensch gehört mit zur Natur. Natur umfaßt auch den Menschen, umfaßt ihn begrifflich als die höhere Einheit, umfaßt ihn mit ihren Mutterarmen wirklich im Leben und im Tode. Spinoza und Goethe haben es gelehrt, neuerdings niemand so schön wie der Steinklopferhanns des genialischen Grüblers Anzengruber; der hat seine extraige Offenbarung gehabt.
Wie leicht sich das jetzt sagt und niederschreibt. Eine Umwälzung in der jahrtausendalten Geschichte des Naturbegriffs, eine Umwälzung nicht nur in einzelnen Ausnahmsköpfen, eine Umwälzung im Sprachgebrauche zwischen den Menschen war nötig, bevor der Steinklopferhanns sein Denkmal in Wien erhalten konnte, und der Satz gar nicht mehr auffällt: Mensch und Natur sind nicht im Gegensatz. Und es wäre falsch, nun historisch die einzelnen Gedanken aufdröseln zu wollen, die nacheinander die Revolution bewirkten. Eins wirkte aufs andere, ohne Widerspruch, weil der Mensch und seine Geschichte zur Natur gehören. Die Kunst lernte von der Naturlehre und von den Geisteswissenschaften, die beide bei der Kunst in die Schule gingen. Die Naturlehre mühte sich von Empedokles bis Darwin, drei von den Unterabteilungen des Lucretius zu überwinden:[404] die Natur der konkreten Einzeldinge, die heimlich wirkende Natur in den Einzeldingen und die göttlich wirkende Natur des Ganzen. Nur das konkrete Naturganze blieb übrig, und als erst der Gedanke aufkeimte, Zielstrebigkeit oder Zwecke werden und wachsen zu lassen ohne zwecksetzende Intelligenz, da gehörte der Mensch mittenhinein in die Entwicklung des Naturganzen. Einerlei, ob die von Darwin begründete Lehre unter dem Namen Darwinismus bestehen bleiben wird oder nicht.
Kultur, Geschichte, Ethik lernten um oder sind im Begriffe umzulernen. Das Glück der Natur, unverantwortlich zu sein, kann dem Menschen wiedergewonnen werden, wenn er ganz zur Natur gehört, wenn er unverantwortlich ist. Raub und Mord, Unzucht und Lieblosigkeit brauchen darum nicht zu zügelloser Herrschaft zu gelangen, weil der Mensch zur Natur gehört. Ist kein Gegensatz zur Natur mehr im Menschen, dann braucht auch der Geist sich nicht mehr so mühsam »selbst zu bewegen«, um den Menschen von der Natur zu befreien. Der Geist, von dem niemals jemand wußte, was er ist, der ein abgeblaßter Schatten des heiligen Geistes war, des dekorativen Gliedes der Trinität, der Geist, mit dem Hegel den letzten, vorläufig letzten, großen Versuch gemacht hatte, die Natur wieder aus dem Menschen und den Menschen wieder aus der Natur zu treiben.
In Goethes resigniert weiser Weltanschauung ist diese neue Deutung des alten Naturbegriffs wunderbar und unübertroffen gestaltet. Zwischen Natur und Mensch kein Gegensatz mehr. Goethes Naturanschauung verdiente ein besonderes Buch. Kaum irgendwo tritt sie so köstlich heraus wie in den Aphorismen, die er 1782 in der Bierzeitung seiner Freunde, im Journal von Tiefurt, erscheinen ließ3 und über die er fast fünfzig Jahre[405] später mit dem Lächeln unveränderter Vaterliebe zu Kanzler von Müller redet: von der Neigung zu einer Art von Pantheismus, von dem humoristischen Wesen, das dieser Natur zugrunde gedacht war, von dem Spiel, das gar wohl gelten mag, weil es bitterer Ernst ist.
Ich darf den trunkenen Naturhymnus nicht ganz hersetzen. »Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen...
Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen...
Sie lebt in lauter Kindern, und die Mutter, wo ist sie?...
Gedacht hat sie, und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur...
Auch das Unnatürlichste ist Natur; auch die plumpste Philisterei hat etwas von ihrem Genie..
Sie hat keine Sprache noch Rede; aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht...
Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst!«
Und wenn trotz alledem noch ein leiser Widerspruch zwischen dem Menschen und der Natur vom unverbesserlichen Menschenhochmute gefühlt wird, so doch wie jeder Widerspruch nur in der Menschensprache. Über Geschichte, Kultur und Ethik hinaus wird unsere neue Erkenntnistheorie auch den Widerspruch von Mensch und Natur endlich lösen, weise und resigniert wie Goethe. Glücklich und rein ist die Natur, weil sie sprachlos ist. Unsauber, unglücklich ist die Sprache, mit der der Mensch sich und die Natur begreifen will, allein begreifen[406] will, allein begreifen kann, gröblich betasten. Nicht verzichten kann er auf seine Sprache, aber deren unsaubern Widerspruch kann er erkennen, deren Schlangenbetrug durchschauen und resigniert, rein und glücklich werden als ein ganz wunderlich hübsches Stück Natur.
Noch einmal: »Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten.«
1 | Ich weiß nicht, ob priroda (ebenso wie natura und gabaurths Übersetzung von physis slaw. priroda mit Hilfe des Stammes roditi, geboren werden) alte oder puristische Lehnübersetzung ist. |
2 | Bei Classen, (Zur Geschichte des Wortes Natur) findet sich (S. 13 – 15) eine Zusammenstellung der wichtigsten Verse des Lucretius und eine Klassifizierung der etwa zweihundert Fälle des Wortgebrauchs. Der logische Scharfsinn dieser Gruppierung ist beträchtlich. Natura bedeutet 1.) die zeugende Kraft im Weltall, 2.) die zeugende Kraft im Individuum; da natura aber auch auf das Erzeugte angewandt wird, so ergeben sich vier Unterabteilungen: a) die erzeugende Kraft des Weltalls, natura rerum, b) das Weltall selbst, die Natur, c) die Lebenskraft oder sonst die Kraft im einzelnen Organismus oder Ding, d) das Wesen des einzelnen Organismus oder Dinges. Es wäre nicht schwer, diese vier Unterabteilungen auch im Gebrauche von physis nachzuweisen. Classen hat sicherlich gewissenhaft nachgezählt, daß natura bei Lucretius in den weitaus meisten Fällen die Begriffe a und c bedeutet, d.h. entweder die schöpferische Naturkraft im ganzen, die natura rerum, oder das Wesentliche, die Anlage im Einzelding. Nur daß Lucretius die Unterabteilungen wahrlich nicht so sauber auseinandergehalten hat. Mir will es scheinen, als ob der Begriff der wesentlichen Anlage für Lucretius der ursprüngliche Begriff gewesen wäre, der sich übrigens ohne sprunghaften Bedeutungswandel auf die natura rerum ausdehnen ließ. Dieser ursprüngliche Begriff ist aber die alte physis die eigentliche Eigenschaft der Dinge. |
3 | Meine Skepsis gegen die angeblichen Ergebnisse der vergleichenden Sprachwissenschaft macht mich mißtrauisch gegen die Versuche, die Worte gignere usw. und erkennen auf einen gemeinsamen Stamm zurückzuführen. Gewiß sind die Gleichungen und Ähnlichkeiten: gignere (aus gigenere) und gignomai (aus gigenomai)gignere und gnasci, gnoscere, gignôskein und erkennen, genus und gotisch kuni, überhaupt Sanskrit gan, griechisch und lateinisch gen, germanisch kan und ken – sehr merkwürdig. Aber die Zurückführung auf eine gemeinsame Wurzel ga (gehen), wo dann das Zeugen das Hervorkommen, das Erkennen das Herankommen bedeuten könnte (doch wohl nicht das geistige Sprossen, wie C. Pauli meint), schmeckt mir doch trotz Curtius zu sehr nach Hegels Philosophie. Der ähnliche Klang von deutsch Kind und englisch kind ist ja durch Bedeutungswandel im Englischen zu erklären. Grimm sagt nur »zeugen und erkennen sind vielfach ineinandergreifende Vorstellungen.« |
1 | Ich weiß natürlich, daß Goethes Autorschaft bestritten worden ist. Frau v. Stein sagte, Tobler (wenig bekannt; von andern charakterisiert: bald Christ, bald Grieche; voll Gesundheit und Manneskraft, wie ein junger Baum) wäre der Verfasser; dieser Tobler hatte kurz vor dem Erscheinen des Fragments bei Knebel gewohnt, und Knebel hält Goethe für den Verfasser. Die Handschrift rührt von Goethes Schreiber her. Ich ziehe aus Steiners Untersuchung (Schriften d. Goethe-Ges. VII, S. 393) den Schluß: Tobler hat einen trunkenen Naturhymnus Goethes aus dem Gedächtnisse niedergeschrieben, Goethe hat das Stück dem »Journal von Tiefurt« eingeliefert und hat (1828) auf der höchsten Stufe seiner Naturphilosophie die mittlere Stufe des Fragments als seine Idee anerkannt. |
Buchempfehlung
Die keusche Olympia wendet sich ab von dem allzu ungestümen jungen Spanier Cardenio, der wiederum tröstet sich mit der leichter zu habenden Celinde, nachdem er ihren Liebhaber aus dem Wege räumt. Doch erträgt er nicht, dass Olympia auf Lysanders Werben eingeht und beschließt, sich an ihm zu rächen. Verhängnisvoll und leidenschaftlich kommt alles ganz anders. Ungewöhnlich für die Zeit läßt Gryphius Figuren niederen Standes auftreten und bedient sich einer eher volkstümlichen Sprache. »Cardenio und Celinde« sind in diesem Sinne Vorläufer des »bürgerlichen Trauerspiels«.
68 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro