Religion

[43] Religion – Klarheit ist hart wie Mondschein in einer hellen Winternacht. Wir wollen uns nur hüten; aus Härte ungerecht zu werden, und diejenigen insgesamt der Heuchelei zu zeihen, die den Glauben an einen lieben Gott längst verloren haben, aber Religion oder Religiosität dennoch zu besitzen vorgeben.

Es handelt sich da um einen in der Sprache nicht ganz vereinzelten Fall: wir besitzen einen Begriff für eine Mehrzahl ähnlicher Erscheinungen, haben aber keine Vorstellung von diesem Begriffe in der Einzahl. Religion umfaßt jenachdem den Polytheismus und den Monotheismus oder Christentum, Islam und Judentum oder gleich eine Unzahl von Konfessionen, die alle wieder nur Summenwörter für ein Gemisch von Kulthandlungen,[43] Glaubenssätzen und moralischen Konventionen sind; dieser Oberbegriff Religion läßt sich wohl oder übel definieren. Gute Menschen glauben nun diesen inhaltsarmen Oberbegriff auch auf das Gefühl anwenden zu können, das ihnen irgendwie dem Weltganzen gegenüber geblieben ist, nachdem sie den Glauben an Gott und die Verbindung mit einer bestimmten Konfession abgestreift haben. Es gilt für unanständig, gar kein bißchen Religion mehr zu haben; man sagt rühmend von Spinoza, von Goethe, sie seien tief religiöse Naturen gewesen; und selbst unsere Monisten legen Wert darauf, das, wovon selbst sie nichts wissen, als eine monistische Religion zu bezeichnen.

Die Unvorstellbarkeit der Einzahl Religion (wenn man nicht eben den Oberbegriff aller Religionen darunter versteht) wird deutlicher werden, wenn ich an einen weit entlegenen Begriff erinnere. Dreieck ist ein guter Oberbegriff für die verschiedenen Arten von Dreiecken; ein Dreieck aber, das weder eben noch sphärisch, weder spitzwinklig noch rechtwinklig noch stumpfwinklig ist, kann ich mir nicht vorstellen.

Trotzdem haben die besten Schriftsteller aller modernen Kulturnationen, auch nachdem der Sieg des Deismus das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion nicht mehr duldete, das Wort Religion mit gutem Gewissen nach wie vor gebraucht für das Verhältnis des Menschen zu dem namenlosen oder gar zu dem immanenten Gotte ihrer Weltanschauung. Ich will nur die beiden bekannten Epigramme von Schiller und von Goethe hersetzen; Schiller sagt:

»Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,

Die du mir nennst. – Und warum keine? – Aus Religion.«

Der alternde Goethe sagt:

»Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

Hat auch Religion;

Wer jene beiden nicht besitzt,

Der habe Religion!«

In beiden Fällen wird die Religion irgend einer der organisierten Vereinsreligionen entgegengestellt; und so ungefähr gebrauchen alle unsere freien Schriftsteller das Wort Religion in der Einzahl;[44] man bildet sich noch etwas darauf ein, dieses ganz persönliche Gefühl den allgemein bindenden Satzungen der Kirchen gegenüber zu behaupten.

Nun ist aber höchst wahrscheinlich die Bindung der ursprüngliche Sinn von lat. religio; Ciceros Ableitung von lat. re-legere ist wohl unhaltbar; die Ableitung des Lactantius von lat. religare kann sich auf Aulus Gellius (IV. 9) stützen und könnte recht gut die Lehnübersetzung eines griechischen Begriffes sein 1. Bei einem Worte aber von so unermeßlicher geschichtlicher Wirkung kommt es doch wohl nicht auf die Etymologie an, und wir haben ohne solche Hilfe nur zwei einfache Fragen zu beantworten: Hat das Wort Religion noch einen Sinn, wenn es nicht mehr die Beziehung des Menschen zu einem persönlichen Gotte bedeutet? und: Was glauben moderne Atheisten darunter zu verstehen, wenn sie sich zugleich ihres Atheismus und ihres religiösen Gefühls rühmen?

Die erste Frage ist mit Berufung auf die führenden Geister nur sehr schwer zu beantworten, weil man fast niemals wissen kann, ob das Bekenntnis zum Atheismus nicht einst durch die Angst vor dem Scheiterhaufen zurückgehalten wurde, in den letzten Jahrhunderten nicht durch die menschlich ebenso entschuldbare Angst vor der gesellschaftlichen Ächtung. Man halte daneben, daß zwei meisterliche Schriften zu diesem Thema, die von Hume und die von Schopenhauer, in Dialogform geschrieben wurden, um die letzte Absicht des Verfassers doch einem der Unterredner unterschieben zu können. Hume und Schopenhauer geben darum auch keine bestimmte Antwort auf ihre Fragen, sondern gelangen zu einem bequemen: ja und nein. Schopenhauer denkt zunächst daran, ob dem Volke die Religion erhalten werden solle; aber auch die Religion (in der Einzahl) scheint ihm ein Versuch, das metaphysische Bedürfnis des Menschen zu befriedigen.[45] Hundert Jahre vorher hatte Hume mit seinen »Dialogues concerning natural religion« einen schwereren Stand und gab wohl darum die köstliche Schrift bei Lebzeiten nicht heraus; Schopenhauer nannte sich klar und bewußt einen Atheisten, Hume nannte sich nur einen Skeptiker. Vom historischen Standpunkte ist das Buch des Engländers ungleich freier und bedeutender als das beinahe politische Buch des Deutschen; aber für unsere Fragestellung ist der Gedankengang des Atheisten wichtiger, der wenigstens unter der einen Maske für die Religion eintritt, während er die Religion unter der andern Maske (die dem streitlustigen Verfasser ähnlicher ist) von der Erde vertilgen möchte; die von ihm vergötterten Griechen hätten, was wir unter Religion verstehen, überhaupt nicht gekannt; selbst als Bändigungsmittel für das Volk sei die Religion nur ein notwendiges Übel, der Herrgott nur ein Knecht Ruprecht, mit dem man die großen Kinder zu Bette jagt. Er zitiert gegen die politische Aufrechthaltung der Religion einen Satz von Condorcet: »toute religion, qu'on se permet de défendre comme une croyance qu'il est utile de laisser au peuple, ne peut plus espérer qu'une agonie plus ou moins prolongée.« Aber beide Unterredner sind doch der Meinung, daß die Religion hoch zu achten sei als ein Symbol der Wahrheit; also ob irgendein Philosoph jemals, im Besitze der verbürgten und verbrieften Wahrheit gewesen wäre2.

Von ganz anderer Seite, von der Geschichte der Theologie her, kam der vortreffliche Strauß an die Frage heran. Er schrieb sein Bekenntnis »Der alte und der neue Glaube« in einer jubelnden Zuversicht nach der Wiedergeburt Deutschlands, im Name[46] der Wir3, die sich innerlich vom alten Glauben losgelöst hatten. Schleiermacher hatte, ein dogmenfeindlicher Christ, die Religion ein Gefühl genannt (man wurde an Jacobi erinnert), das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit; Feuerbach hatte die Götter als Schöpfungen der menschlichen Phantasie erkannt und gut gesehen, daß der Mensch keine Götter hätte, wenn er keine Wünsche hätte. Was der Mensch sein möchte, aber nicht sei, dazu machte er seinen Gott; was er haben möchte, aber sich nicht selbst zu schaffen wisse, das solle sein Gott ihm schaffen. Strauß, der abtrünnig gewordene Theologe, neigte allzu sehr den Dogmen des Materialismus zu, wie denn sein Glaube an den materialistischen Darwinismus der damaligen deutschen Wissenschaft der einzige ernsthafte Fehler seines Bekenntnisbuches ist. So stellte er sich auch in unserer Frage entschieden auf die Seite Feuerbachs: weil wir an einen persönlichen Gott nicht mehr glauben können, haben wir auch keine Religion mehr. Die Religion ist kein Vorzug der menschlichen Natur, sondern eine Schwachheit, die der Kindheit des Menschengeschlechts anhaftet; das religiöse Gebiet in der menschlichen Seele gleiche dem Gebiete der Rothäute in Amerika, das von den kultivierten Bleichgesichtern von Jahr zu Jahr mehr eingeengt werde. Aber Strauß bleibt bei dieser Ablehnung nicht stehen. Eigentlich gibt es keine Religion ohne Gottglauben; aber das Wort Religion ist nun einmal da, und so soll es immer noch etwas bedeuten. Fühlen wir uns nicht mehr von Gott abhängig, so bleiben wir es vom Universum. Strauß polemisiert gegen Schopenhauer und behauptet, daß die Religion in uns nicht erloschen sei. Sie lebe noch, weil sie noch auf Verletzungen reagiere. »Unser Gefühl für das All reagiert, wenn es verletzt wird, geradezu religiös.«[47] So beantwortet er schließlich die Frage, ob wir noch Religion haben, mit einem behaglichen: je nach dem.

Ich könnte noch andere Schriftsteller über dieses Thema vergleichen, so Voltaire (Art. »Religion« im Dictionnaire Philosophique), und immer wäre das Ergebnis, daß diese freien Männer die positiven Religionen haßten, insbesondere das herrschende Christentum, daß sie aber ohne den Religionsbegriff nicht auszukommen glaubten, nicht ohne eine natürliche Religion, der sie eine Gestalt gern nach dem letzten philosophischen Systeme gaben. Was wir unsere Weltanschauung nennen, in die wir freilich unbestimmt genug manche Ehrfurcht und manche Sehnsucht mit hineinlegen, und unser mystisches Bedürfnis dazu, das nannten alle diese Männer: Religion. Ich würde das Wort nicht scheuen, trotzdem sich in ihm häufig genug ein feiger Kompromiß mit dem Kirchenglauben verbirgt. Auf das Wortbild kommt es nicht an; und Religion geht uns geläufiger über die Zunge als: Gefühl der Sehnsucht, Gefühl der Ehrfurcht. Ehrfurcht hat überdies den Fehler, daß das Wort an die Furcht erinnert, die nach einem oft wiederholten Worte zuerst die Götter geschaffen hat. Nicht jedermann wird meine Meinung nachempfinden, wenn ich nun z.B. sage: ich habe keine Frucht vor dem Tode, ich habe Ehrfurcht vor dem Leben.

Nur daß die freien Retter des Religionsbegriffs, wenn ihnen dieser Satz gefiele, wahrscheinlich Lust hätten, ihm eine normative Form zu geben: wir sollen Ehrfurcht haben vor dem Leben, vor dem Universum. Ihr Gefühl für das Universum, wenn es verletzt wird, reagiert ja religiös. Und hier ist der Punkt, wo auch der abgeblaßteste Religionsbegriff eine Gefahr in sich enthält, den Sollbegriff. Alle unsere Antichristen, von Nietzsche bis Häckel, wollen Religionsstifter sein; und ihre Apostel würden schon, wenn es nur möglich wäre, für eine Kirche sorgen. Als ob wir nicht abhängig genug wären von all unserer Umgebung (von der Natur, zu der wir ja als ein Teilchen gehören), kommt in unserer unbefriedigten Zeit wieder stärker die Sehnsucht nach einer persönlichen Abhängigkeit zum Ausdruck: nach einer persönlichen Abhängigkeit von einem übernatürlichen Wesen. Und[48] diese Sehnsucht ist so inbrünstig, daß sie (fast wie bei Kant) ein religiöses Gefühl von allen Menschen verlangt. Wegen dieser Unduldsamkeit derjenigen Weltanschauung, die sich selbst religiös nennt, möchte ich den Begriff Religion vermieden wissen. Nicht das religiöse Gefühl möchte ich von der Erde vertilgen, nur das Wort Religion aus der klaren und harten Sprache verbannen. Es gibt eben religiöse und irreligiöse Menschen; da ist nichts zu sollen. Mit dem Werte der Menschen hat dieses Verhältnis zum Religionsbegriffe nichts zu schaffen. Es gibt gläubige Hundsfötter und ungläubige Mystiker.

Wir sind alle durch eine oder durch mehrere der Religionsformen hindurchgegangen; von dieser Wanderung her haftet uns der Wortschall Religion feierlich im Gehör wie Orgelton und Glockenklang. Man denke an den Refrain in Brentanos wunderlieblichem Märchen Fanferlieschen:

»Hübsch mit Kreuz und Glocke,

Chorgesang und Posaunenspiel,

Gibt uns Ruh' und kost' nicht viel!«

Weil aber das Wort Religion in seinem langen Bedeutungswandel seine Beziehungen zu dem persönlichen Gotte nicht ganz aufgegeben hat, den man durch Gaben und Gebete den augenblicklichen Wünschen günstig stimmen kann, weil man ebenso wenig der Kirche wie dem Teufel den kleinen Finger reichen darf, ohne Gefahr, mit Haut und Haar gefressen zu werden, – darum täten wir gut daran, unsere Ehrfurcht vor dem Leben, unsere sehnsüchtige, sich bescheidende Unwissenheit, die für eine Weltanschauung gelten muß, nicht weiter Religion zu nennen. Das Wort Gott hat für uns ganz gewiß keinen Inhalt mehr; auch in das Wort Religion können wir einen klaren Inhalt nicht mehr hineindenken.

Das betrifft selbstverständlich nur die Individuen, die allein etwa eine Religion haben können, jedes seine eigene Religion. Staatsreligion ist von jeher ein unverschämter Ausdruck gewesen. Im absoluten Staate konnte nach dem Grundsatze cujus regio ejus religio das Bekenntnis zu einer bestimmten Konfession mit Feuer und Schwert erzwungen werden; von Religion[49] war überall nicht die Rede. Die Trennung von Staat und Kirche ist die nächste Aufgabe; die Trennung von Staat und Religion ist beinahe schon vorhanden, weil der Staat gar kein Verhältnis zum religiösen Gefühle besitzt. Ich kann diesen Gedanken nicht besser aussprechen, als er von Mandeville, dem Verfasser der »Bienenfabel«, in seinem Briefe an Berkeley (Bibl. d. Phil. B. XV S. 374) ausgesprochen worden ist: »Wenn jemand behaupten wollte, daß der Staat, das Ganze, völlig unfähig ist, überhaupt eine Religion zu haben, so würden manche Leute vielleicht sehr empört sein; es ist jedoch ebenso wahr, wie daß der soziale Organismus – nur ein anderer Name für den Staat – weder Leber oder Lungen noch Augen oder Ohren im buchstäblichen Sinne hat. Menschenmengen, gemischt aus Guten und Bösen, aus Hohen und Niedrigen, können sich wohl zu äußeren Kulturhandlungen vereinigen und zusammen sogenannten öffentlichen Gottesdienst verrichten. Die Religion selbst aber kann nur in den Herzen der Einzelnen einen Platz haben.«

1

So verstand man lat. religio offenbar auch ursprünglich in Deutschland; dachte auch wohl an einen Zusammenhang mit lat. lex; denn das lateinische Modellwort wurde ahd. mit êhafti, mhd. mit ê übersetzt. Das uns so geläufige Fremdwort Religion kam erst ungefähr zur Lutherzeit auf.

2

Auch Natorp hat erst jüngst für gut befunden, seinem Aufsatze »Religion?« (in dem Sammelbuche »Weltanschauung«, das in bunter Reihe wertvolle und wertlose Artikel bringt) die Form eines Zwiegesprächs zu geben; ein süßes Wackelgelée, das von zwei höheren Töchtern mit viel Bildung abwechselnd gelöffelt wird. Nur wegen ihrer ebenfalls populären Form erwähne ich hier auch Naumanns »Briefe über Religion«; diese Briefe sind ein gemütlicher und herzlicher Versuch, nicht die Religion, sondern das Christentum mit dem Entwicklungsgedanken und mit dem modernen Staatsgedanken in Einklang zu bringen.

3

Neuerdings ist von K. O. Erdmann der Terminus Nosismus vorgeschlagen worden, um – nicht so töricht, wie es klingt – den unglücklichen Ausdruck Altruismus zu ersetzen. Nosismus ist ein besonders schlecht gebildetes Wort; schon weil man zunächst an nosos erinnert wird, an Krankheit also; aber als ironische Abfertigung des aristokratischen, im Grunde philisterhaften, im Bildungsphilisterium befangenen Wir-Kultus wäre es gar nicht übel gewählt.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 43-50.
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