Erdeessen

[1] Erdeessen, die bei vielen Völkern beobachtete Gewohnheit, Erden von gewisser Beschaffenheit zu essen. Diese Gewohnheit findet sich z. B. in den Sandsteingruben des Kyffhäuser und im Lüneburgischen, wo die Arbeiter einen seinen Ton, die sogen. Steinbutter, auf das Brot streichen. Andre Gegenden Europas, in denen E. vorkommt, sind Steiermark, Oberitalien (Treviso), Sardinien, wo Erde wie andre Lebensmittel auf den Markt gebracht wird, der äußerste Norden von Schweden und die Halbinsel Kola, wo freilich die Erde, eine als Bergmehl bezeichnete Infusorienerde, unter das Brot verbacken genossen wird. Als Leckerbissen dient Erde in großer Menge in Persien trotz eines in neuerer Zeit erlassenen Verbots. In den Basaren kauft man einen weißen, seinen, etwas fettig anzufühlenden Ton und unregelmäßige, weiße, feste Knollen, die sich feinerdig anfühlen und etwas salzig schmecken. Auch die Damen der spanischen und portugiesischen Aristokratie betrachteten einst die Erde von Ertemoz als große Delikatesse. Neben diesem Gebrauch, die Erde als Nahrungsmittel zu genießen, der sich auf alle Tropenländer und viele subtropische Gebiete erstreckt und in Amerika und Afrika am verbreitetsten ist, findet sich z. B. in Nubien die Sitte, Erde als Arzneimittel zu genießen. An andern Orten ist diese Sitte mit religiösen Motiven vermischt, und an andern erscheint sie als religiöse Handlung allein, wie auf Timor. Für die so weit verbreitete Sitte des Erdeessens dürfte es viele, grundverschiedene Ursachen geben. Nicht ausgeschlossen ist, daß die Erde einen gewissen Wohlgeschmack hervorrufen könne; abgesehen davon sind viele Erdarten salzhaltig, so daß der Genuß der Erde in vielen Fällen als Ersatz des Salzgenusses angesehen werden kann. Ferner kommt E. im Verlauf verschiedener, zumeist in den Tropen heimischer Krankheiten vor, namentlich bei der durch den Darmschmarotzer Anchylostomum duodenale (s.d.) hervorgerufenen Anämie. Charakteristisch für den pathologischen Erdeesser ist der Hängebauch, allgemeine Abmagerung, Anschwellung der Leber und Milz. Auffällig ist die Häufigkeit des Vorkommens pathologischen Erdeessens im kindlichen Lebensalter. Schließlich kann das E. auch einen perversen Nahrungstrieb darstellen, wie er sich bei Bleichsüchtigen und Hysterischen, auch bei jüngern Mädchen findet (Pica chlorotica), die z. B. Kreide, Schiefer, Griffel in den Mund nehmen und daran kauen, auch alten Mörtel essen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 1.
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