[718] Kristallwachstum. Bringt man einen Kristall, z. B. von Zucker, in gesättigte Zuckerlösung, so herrscht Gleichgewicht. Vom Standpunkt der Molekulartheorie betrachtet, ist dieses Gleichgewicht nur ein scheinbares. Tatsächlich werden nämlich infolge der sogen. Lösungstension fortwährend Moleküle von der Zuckeroberfläche in die Lösung hineingetrieben und ebenso viele in derselben Zeit infolge des osmotischen Druckes aus der Lösung gegen den Kristall, wo sie durch die Adsorptionskraft festgehalten werden. Amorpher Zucker verhält sich in derselben Lösung durchaus anders; er löst sich auf, wie sehr auch die Konzentration infolgedessen steigen mag. Es entsteht also eine in bezug auf Kristallzucker übersättigte Lösung. In einer solchen wächst ein Zuckerkristall, weil der osmotische Druck über die Lösungstension überwiegt, ebenso wie er in einer verdünnten Lösung sich auflöst, weil der osmotische Druck zu klein ist. Bedingungen des Kristallwachstums sind also: Löslichkeit der Substanz und Übersättigung der Lösung. In manchen Fällen trifft dies scheinbar nicht zu, z. B. bei Erstarrung und Sublimation, erklärt sich aber nach O. Lehmann, wenn man annimmt, daß die sogen. drei Aggregatzustände eines Körpers molekular verschieden sind, und daß in der Nähe des Kristallisationspunktes sowohl die flüssige als die gasförmige Modifikation von der festen in sich gelöst enthält, die sich in dem Maß, als sie von dem wachsenden Kristall entzogen wird, sofort aufs neue bildet. Bei Kristallisation aus Lösungen bildet sich rings um die Kristalle ein Hof minder übersättigter Lösung. Da unmittelbar an der Kristalloberfläche die Lösung nahezu gesättigt sein muß, bildet die Kristalloberfläche eine Niveauoberfläche der Konzentration und die folgenden Niveauflächen nähern sich in ihrer Form immer mehr der Kugel. Die Stromlinien der Diffusion, die senkrecht zu den Niveauflächen stehen, drängen sich also gegen die Ecken und Kanten am stärksten zusammen, so daß diese rascher wachsen müssen als die Flächen und somit hörnerartig hervortreten (Wachstumsformen). Soll sich das Wachstum regelmäßig gestalten, so empfiehlt sich, durch Bewegen der Kristalle oder der Lösung die Hofbildung tunlichst zu vermindern. Geschieht dies nicht und erfolgt das Wachstum sehr rasch, so gehen die Wachstumsformen in oft feingegliederte Kristallskelette über. Enthält die Lösung einen fremden Stoff, so kann dieser unter Umständen von dem wachsenden Kristall regelmäßig orientiert aufgenommen werden. Am leichtesten ist dies zu beobachten bei Farbstoffen, die künstliche dichroitische Färbung veranlassen. In größter Menge werden isomorphe und morphotrop verwandte Stoffe aufgenommen (Mischkristalle). Ändert sich die Beschaffenheit der Lösung während der Kristallisation, so entstehen Schichtkristalle (regelmäßige Verwachsungen der Kristalle beider Stoffe). Sind die Körper nicht isomorph, so können durch die Einlagerungen eigentümliche Strukturstörungen bewirkt werden, die häufig darauf hinauskommen, daß sich die Kristalle nach einer bestimmten Richtung in seine haarförmige, häufig gebogene Fasern (Trichiten) auflösen oder am Rand in seine Lamellen aufblättern. Solche pinselartige Zerfaserung oder Aufblätterung kann so weit gehen, daß Gebilde von der Art eines Doppelknopfes entstehen, oder geradezu zentral faserige Kugeln die sogen. Sphärokristalle, die, falls die Substanz doppeltbrechend ist, in polarisiertem Licht ein schwarzes Kreuz zeigen, das bei Drehung des Präparates stehen bleibt.