Präzession

[270] Präzession (neulat.), das »Vorrücken« der Nachtgleichen, die schon von Hipparch entdeckte langsame Bewegung der beiden Äquinoktialpunkte auf der Ekliptik. Sie erfolgt gegen die Ordnung der Zeichen des Tierkreises in der Richtung von O. nach W. und beträgt ungefähr 50'' jährlich. Ihr genauerer Wert beträgt nach Newcomb 1900: 50,2564'' und nimmt jährlich um 0,000222'' zu. Die ganze Erscheinung ist eine Folge der Anziehung, die Sonne, Mond und Planeten auf das an den Polen abgeplattete Erdsphäroid ausüben. Man kann sich das letztere als eine Kugel denken, deren Durchmesser gleich der Achse ist, und die am Äquator mit einem nach den Polen hin immer dünner werdenden ringförmigen Wulst umgeben wird. Indem Sonne und Mond auf diesen Ring anziehend wirken, der nicht in der Ebene der Ekliptik liegt, sondern einen Winkel von 231/2° mit ihr bildet, suchen sie ihn in die Ebene der Ekliptik zu ziehen, also die Erdachse senkrecht gegen dieselbe zu stellen. In Verbindung mit der Rotation der Erde bewirkt dieses Streben, daß die Erdachse zwar ihre Neigung gegen die Erdbahn beibehält, aber eine Kegelfläche um die Achse der Ekliptik beschreibt, der Weltpol daher einen Kreis um den Pol der Ekliptik. Die Gesamtwirkung von Sonne und Mond bezeichnet man als Lunisolarpräzession. Da die Erdbahn aber selbst durch die Anziehung der Planeten eine langsame Änderung ihrer Neigung gegen den Äquator, die sogen. Säkularänderung der Schiefe (vgl. Ekliptik), erfährt, so ist das Fortrücken der Durchschnittspunkte des Äquators mit der wahren Ekliptik, die allgemeine P., etwas verschieden von der Lunisolarpräzession, bei der man eine feste Ekliptik voraussetzt. Da die Bewegung des Poles jährlich 50'' beträgt, so wird der ganze Kreis in ungefähr 26,000 Jahren zurückgelegt; man hat diesen Zeitraum ein Platonisches Jahr genannt. Von dieser Bewegung macht aber der Weltpol noch kleine, an eine Periode von 19 Jahren gebundene Abweichungen, die man als Nutation (s. d.) bezeichnet. Durch die P. wird die Länge aller Gestirne jährlich um 50'', also in einem Jahrhundert um 1,395°, vergrößert, und infolgedessen ändern sich auch Rektaszension und Deklination: es werden im Laufe der Jahrhunderte Fixsterne über dem Horizont eines Ortes sichtbar, die früher nicht ausgingen; andre, die ehedem sichtbar waren, bleiben beständig unter dem Horizont, so war das Südliche Kreuz früher in mittlern Breiten Europas sichtbar; auch nähern immer andre Sterne sich dem Nord- und Südpol (vgl. Polarstern). Endlich ist die Länge des tropischen Jahres, d. h. die Zeit, welche die Erde braucht, um vom Frühlingspunkt bis wieder zu demselben zu kommen, um 20 Minuten 23 Sekunden kleiner als die Zeit eines vollständigen Umlaufs um die Sonne oder ein siderisches Jahr. Während des letztern, das 365,25636042 mittlere Tage beträgt, legt nämlich die Erde 360° in ihrer Bahn zurück; ihr Weg während des tropischen Jahres ist aber um 50" kleiner. Da die P. veränderlich ist, so ist auch die Länge des tropischen Jahres veränderlich; 1900 betrug dieselbe[270] 365,24219879 Tage = 365 Tage 5 Stunden 48 Minuten 45,98 Sekunden, und jährlich nimmt sie um 0,00530 Sekunden ab. Vgl. Becker, Tafeln zur Berechnung der P. (Karlsr. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 270-271.
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