Stigmatisation

[34] Stigmatisation, das Erscheinen von Wunden, ähnlich den Wundmalen Christi, samt dem Gefühl entsprechender Schmerzen bei Personen, die vorzugsweise einer intensiven Betrachtung des Leidens Christi sich gewidmet haben. Nachdem vom heil. Franz von Assisi (s. d., Bd. 7, S. 31) zuerst diese Auszeichnung berichtet worden, hat sich die Erscheinung im Laufe der Jahrhunderte an sehr zahlreichen, namentlich weiblichen Personen wiederholt, bei denen die Wundmale oft alle Freitage und am stärksten in der Passionszeit bluteten. Nicht wenige Fälle davon sind als grober Unfug entlarvt worden. Im 19. Jahrh. haben Katharina Emmerich (s. d.), Maria v. Mörl (gest. 11. Jan. 1868 zu Kaltern in Tirol) und insbes. Louise Lateau (s. d.) als Stigmatisierte Aufsehen erregt. Es waren an den Stigmatisierten kataleptische Zustände (Verzückungen), Unempfindlichkeit gegen Schmerz, Bedürfnislosigkeit in bezug auf Speise, Trank und Schlaf zu bemerken, die Wunden zeigten keine Entzündung und Eiterung, bluteten oft stark und ließen sich nicht heilen. Die katholische Kirche hat sich offiziell über die Frage noch nie ausgesprochen, ist aber geneigt. unter möglichst ausreichender Prüfung aller Vorgänge übernatürliche Einwirkung anzunehmen. Die außerkirchliche Auffassung über die S. kommt hauptsächlich zum Ausdruck in dem Bericht der im Falle Lateau ernannten Untersuchungskommission der Brüsseler Akademie der Wissenschaften, die auf Grund sorgfältiger, Betrug ausschließender Untersuchungen die schon von Montaigne vertretene Meinung ausspricht, daß eine bis zur Krankheit gesteigerte Einbildungskraft das wiederholte freiwillige Bluten der irgendwie erworbenen Wunden hervorbringen könne. Weiterhin bieten viele den Stigmatisierten eigentümliche Zufälle eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den analogen Zuständen des Hypnotismus (s. d.). Danach würde sich die S. in den Fällen, wo kein grober Betrug vorliegt, jenen zahlreichen Erscheinungen anreihen lassen, die mit hochgradiger Hysterie einhergehen, und bei denen Krankheit und Selbstbetrug so merkwürdig miteinander verbunden sind. Vgl. die beim Artikel »Lateau« angeführte Literatur.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 34.
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