Volkskunst

[234] Volkskunst, ursprünglich die Kennzeichnung einer Bewegung der 1890er Jahre, welche die breitern Volksschichten für die Werke angewandter Kunst empfänglich zu machen suchte. Das Wort tauchte zuerst in der Zeitschrift »Der Kunstwart« auf, fand dann durch einzelne Tendenzschriften weitere Verbreitung und wird heute zumeist in dem Sinn einer heimatlichen, bodenständigen Kunst angewandt, die wieder Anschluß an die bäuerliche und bürgerliche Überlieferung sucht (s. Heimatkunst). Im engern Sinne deckt es sich auch mit Bauernkunst (Bauerngeschirr, Bauernschmuck, -Stickerei, -Weberei etc.); doch bildet diese nur einen in ihren Werken allerdings scharf charakterisierten Teil der V. Die Vertreter der V. gehen von der Voraussetzung aus, daß das Verständnis für Kunstschöpfungen und das Interesse für neuere Werke in dem Maße wachsen, in dem die Kunst unsrer Heimat geschätzt wird. Mit der Zeit gewann gerade diese Schätzung der Heimat dadurch eine erhöhte Bedeutung, daß die Reste der V., die sich in den verschiedenen deutschen Gauen erhalten hatten, dem in der modernen Baukunst zutage getretenen Verlangen nach Schlichtheit und klar ausgesprochener Zweckdienlichkeit entgegenkamen. Es zeigte sich ferner, daß, besonders in der Bauernkunst, sich eine Kunstanschauung erhalten hatte, die den geschichtlichen Stilwandlungen zwar gefolgt, aber doch von einem eigenartigen Stilgefühl erfüllt war. Das Besondere dieser Kunst lag zum Teil in dem Inhalt, zum Teil in der durchaus verständigen, unverhüllten Konstruktion, zum größten Teil aber auch in der Übereinstimmung, die für ganze Landschaften eine einheitliche, vielfach stammesartliche Kunstüberlieferung erzeugt hatte. Nachdem sich im letzten Jahrzehnt einzelne Kunstschriftsteller mit dem Inhalt und dem Umfang der V. beschäftigt und in einer Reihe von Veröffentlichungen ihre Hauptdenkmäler beschrieben hatten, begann sie eine tiefgehende Wirkung zunächst auf die Baukunst auszuüben. Besonders ging diese aus von dem großen, von dem Verbande deutscher Architekten- und Ingenieurvereine mit Unterstützung des Reiches herausgegebenen Werk über das deutsche Bauernhaus (»Das Bauernhaus im Deutschen Reich und in seinen Grenzgebieten«, Dresd. 1902–06). Zum erstenmal konnte man auf einem beschränkten Gebiet den gemütvollen Inhalt einer Kunst übersehen, die wohl fremde, städtische und industrielle Einflüsse aufgenommen, sie aber durchaus selbständig verarbeitet hatte. Die großen volkskundlichen Sammlungen, die in rascher Folge in den Städten entstanden (Altona, Berlin, Bremen, Dresden, Flensburg, Hamburg, Kiel, Lübeck, München, Nürnberg, Kopenhagen, Stockholm, Prag, Wien), trugen weiterhin dazu bei, die V. als einen beachtenswerten Faktor aller Kunstbestrebungen einzustellen. Vgl. Mielke, Volkskunst (Magdeb. 1896); A. Riegl, V., Hausfleiß und Hausindustrie (Berl. 1894); O. Schwindrazheim, Hie Volkskunst! (Bremerhaven 1892), Studien aus Deutschhausen (Berl. 1902) und Deutsche Bauernkunst (Wien 1904); Vetterlein, Heimatkunst (Leipz. 1905).[234]

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 234-235.
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