Neunte Ordnung: Die Kurzflügler[191] (Brevipennes)

In der Gabe des Fluges erkennen wir ein so bezeichnendes Merkmal des Vogels, daß uns derjenige, welchem diese Begabung fehlt, als fremdartiges Geschöpf erscheinen muß. Der ungebildete Mensch erblickt in solchen Vögeln Wunderthiere, und seine Einbildungskraft ist geschäftig, das Wunder zu deuten. Ein alter Schëich Kordofâns erzählte mir eine köstliche Sage, welche berichtet, daß der Riesenvogel Afrikas die Befähigung zum Fluge verloren, weil er in thörichtem Hochmuthe sich vermaß, fliegend die Sonne zu erreichen. Ihre Strahlen versengten seine Schwingen; er stürzte elendiglich zum Boden herab, kann heute noch nicht fliegen und trägt heute noch des Sturzes Zeichen an seiner Brust. Aelter, aber minder dichterisch, ist die Anschauung, daß man in demselben Thiere einen Blendling vom Kamele und einem märchenhaften Vogel der Wüste zu erkennen habe. Diese Anschauung klingt wider in uralten Erzählungen und hat sich bis zu unseren Tagen erhalten in dem Namen, welchen die Wissenschaft als Erbe vergangener Zeiten sich zugeeignet; sie ist aber auch in anderer Weise zur Geltung gebracht worden, da man in den Kurzflüglern die höchststehenden von allen zu erblicken geglaubt und sie an die Spitze der ganzen Klasse gestellt hat.

Die Kurzflügler sind die größten, vielleicht auch die ältesten Mitglieder ihrer Klasse. Ihr Kopf erreicht höchstens mittlere Größe, der Hals fast stets bedeutende Länge, der Leib gewaltige Größe; der Schnabel ist in der Regel ziemlich kurz, breit und stumpf, nur bei den Angehörigen einer kleinen Familie verschmächtigt und verlängert; die Nasenlöcher münden nach der Spitze oder selbst auf ihr; das Bein ist ungemein entwickelt, der Schenkel sehr kräftig, dickmuskelig, der Fuß lang, aber stark, zwei-, drei- oder vierzehig, der Flügel verkümmert und mit gänzlich veränderten, weichen, zum Fliegen untauglichen Federn besetzt, welche ebensowenig Schwingen genannt werden können, wie die Schwanz-, richtiger Bürzelfedern noch Steuerfedern sind, das Gefieder zerschlissen, haarartig, weil die Bärte der Fahnen keinen Zusammenhang haben und Faserbüscheln gleichen. Im Gerippe ist das Fehlen des Brustbeinkammes, des Gabelbeines und der Zwischenrippenfortsätze, die unverhältnismäßige Kürze und Kleinheit der Flügelknochen, das lange, schmale, bei einer Art sogar geschlossene Becken beachtenswerth. Die Knochen des Schädels bleiben lange Zeit getrennt, die Halsrippen beweglich. Zwischen Schädel und Kreuzbein zählt man vierundzwanzig bis sechsundzwanzig Wirbel; sechzehn bis zwanzig Wirbel verschmelzen zum Kreuzbeine, sieben bis neun bilden den Schwanztheil. Fünf bis sechs Rippen verbinden sich mit dem breiten und platten Brustbeine. Die Schlüsselbeine verkümmern zu Fortsätzen des zu einem Knochen verschmolzenen Schulterblattes und Rabenbeines; der Vorderarm ist stets kürzer als der [191] Oberarm. Das Becken ist sehr verlängert; die Beine sind stets außergewöhnlich entwickelt, die Zehen des Fußes jedoch zuweilen verringert. Die Zunge ist kurz, dreiseitig, am Rande gelappt, der Magen groß, der Darmschlauch lang. Die Luftröhre besitzt keinen unteren Kehlkopf, bei gewissen Arten aber einen häutigen Sack, welcher willkürlich mit Luft gefüllt oder wieder entleert werden kann und unzweifelhaft zur Hervorbringung der dumpfen Stimme beitragen wird; der Magen ist muskelig, gegen die Pförtneröffnung hin mit einer halbmondförmigen Klappe ausgerüstet. Eine Gallenblase fehlt zuweilen, die Oeldrüse immer.

Unter den Sinneswerkzeugen der Kurzflügler scheint das Gesicht ausnahmslos wohl entwickelt, neben dem Gehöre aber auch der Geruch in gleichem Maße ausgebildet, das Gefühl oder Empfindungsvermögen schwach, der Geschmack sehr stumpf zu sein. Ueber die geistigen Fähigkeiten läßt sich kein günstiges Urtheil fällen. Alle bekannten Arten sind ungemein scheu und fliehen ängstlich die Annäherung eines Menschen, handeln aber ohne Ueberlegung, wenn es gilt, einer Gefahr zu begegnen, und alle zeigen sich, wie beschränkte Wesen überhaupt, störrisch, boshaft und wenig oder nicht bildsam. Sie leben unter sich, so lange die Eifersucht nicht ins Spiel kommt, in Frieden, dulden auch wohl die Gesellschaft anderer Thiere, bekunden aber weder gegen ihresgleichen noch gegen andere Geschöpfe wirkliche Zuneigung. In der Gefangenschaft gewöhnen sie sich einigermaßen an den Wärter, unterscheiden ihn aber kaum von anderen Menschen.

Die Kurzflügler fehlen nur in Europa. Afrika, einschließlich Westasiens, beherbergt eine, Amerika drei, Oceanien, einschließlich der großen südasiatischen Eilande, mehrere verschiedene Arten. Dürre, sandige, mit wenig Gestrüpp und Gras bestandene, kurz, wüstenhafte Ebenen und Steppen geben den einen, dichte Waldungen den anderen Herberge. Jene bilden zuweilen zahlreiche Scharen, diese leben einzeln und ungesellig.

Alle Arten zeichnen sich aus durch ihre unübertroffene Fertigkeit im Laufen, einige sollen auch recht leidlich schwimmen; andere Bewegungsarten sind ihnen fremd. Die Nahrung besteht aus Pflanzenstoffen und Kleingethier; letzteres dient den Jungen zur ausschließlichen Speise. Gefräßig im eigentlichen Sinne des Wortes kann man die Glieder dieser Ordnung nicht nennen; einige von ihnen bekunden aber unüberwindliche Neigung, allerlei Gegenstände, welche ihrer Gurgel nicht allzu großen Widerstand bieten, hinabzuwürgen und ihren Magen mit ungenießbaren und unverdaulichen Stoffen zu füllen.

Ueber das Fortpflanzungsgeschäft sind wir erst durch Beobachtungen angefangenen Straußen unterrichtet worden. Noch konnte nicht festgestellt werden, ob alle Arten in Einehigkeit leben, oder aber, ob einzelne der Vielweiberei huldigen; eines aber ist zweifellos geworden, daß bei allen Straußen der Vater den Hauptantheil an Erbrütung der Eier und Erziehung der Jungen übernimmt, ja, daß er in sehr vielen Fällen ausschließlich alle Pflichten, welche sonst der Mutter zukommen, übt und dem Weibchen gar nicht gestattet, sich zu betheiligen.

Der Mensch verfolgt alle Kurzflügler, die einen ihrer Federn, die anderen ihres Fleisches wegen, hält auch alle Arten in Gefangenschaft und versucht neuerdings, die wichtigsten zu Hausthieren zu machen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 191-192.
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