Atharvaçikhâ-Upanishad.

[725] Der Name dieser Upanishad »Spitze des Atharvan« scheint eine Nachbildung, wenn nicht Überbietung, des Titels der Atharvaçira'-Upanishad zu sein, zu der als Vorbild die Atharvaçikhâ-Upanishad nahe Beziehungen zeigt, indem sie einzelne von ihr berührte Themata wieder aufnimmt, um sie näher auszuführen.


Das erste ist die symbolische Ausdeutung des Lautes Om, dessen Morae im Anschluss an Atharvaçiras 5 (oben S. 722) nach folgendem Schema abgehandelt werden:


Atharvaçikhâ-Upanishad

Weiter folgt ein (bei der Unsicherheit der Überlieferung und der Unzulänglichkeit des Kommentars äusserst dunkler) Abschnitt über das beim Summen des Nachhalls sich einstellende plötzliche Aufleuchten der höchsten Erkenntnis, woran sich einige halsbrechende Etymologien, nach Art der Atharvaçira'-Upanishad und zum Teil (wie die über omkâra und praṇava) nahezu wörtlich von dort entnommen, anschliessen. Als Gott der dreieinhalbten Mora erscheint, wie vorher ekarshi und purusha, hier îçâna (daher wohl mit ihnen zu identifizieren). Neu aber ist, dass unsere Upanishad am Schlusse auf Grund eines zitierten Çloka zu den vier durch den Om-Laut repräsentierten Gottheiten, Brahmán, Vishṇu, Rudra und Îçâna, als fünfte und höchste den Çiva fügt, den die Atharvaçira'-Upanishad noch nicht kennt oder anerkennt (bei ihren Namendeutungen würde sie ihn sonst sich nicht wohl haben entgehen lassen), und den unsere Upanishad als den eigentlichen Inbegriff des Om-Lautes mit diesem selbst identifiziert. Die emphatische Art, mit der Çiva, dieser alte Beiname des Rudra, hier zur Spitze des Göttlichen erhoben wird, macht den Eindruck der Neuheit, und es wäre nicht unmöglich, dass unsere Upanishad das Übergangsglied von Rudra, Îçâna usw. zu dem später als Hauptname herrschenden Çiva, bildete.
[726]

Om!


1. Pippalâda, A giras und Sanatkumâra befragten den heiligen Atharvan:

Welche Meditation ist zuhöchst anbefohlen zu meditieren?

Worin besteht diese Meditation?

Wer ist der Meditierende?

Wer wohl ist ihr Gegenstand?

Darauf antwortete ihnen Atharvan:

Om, diese Silbe ist zuhöchst als Meditation anbefohlen zu meditieren.

Om, diese Silbe befasst vier Viertel, vier Götter, vier Veda's. Diese aus vier Vierteln bestehende Silbe ist das höchste Brahman.

Ihre erste Mora, die Erde, ist der a-Laut. Er ist, aus Versen bestehend, der Ṛigveda, ist Brahmán, die Vasu's, die Gâyatrî, das Gârhapatyafeuer.

Ihre zweite Mora, der Luftraum, ist der u-Laut. Er ist, aus Opfersprüchen bestehend, der Yajurveda, ist Vishṇu, die Rudra's, die Trishṭubh, das Dakshiṇafeuer.

Ihre dritte Mora, der Himmel, ist der m-Laut. Er ist, aus Liedern bestehend, der Sâmaveda, ist Vishṇu1, die Âditya's, die Jagatî, das Âhavanîyafeuer.

Die vierte, die Halbmora, die am Ende der Silbe ist, ist der abgebrochene m-Laut. Er ist, aus Atharvanliedern bestehend, der Atharvaveda, ist das Weltuntergangsfeuer, die Marut's, die Virâj, der Höchstweise. Diese Mora ist


von Licht glänzend, in eignem Glanz.


Die erste Mora ist rot, dem Brahmán geweiht und hat den Brahmán als Gottheit.

Die zweite Mora ist hell, dem Rudra geweiht und hat den Rudra als Gottheit.

Die dritte Mora ist schwarz, dem Vishṇu geweiht und hat den Vishṇu als Gottheit.2[727]

Die vierte Mora ist blitzartig, allfarbig und hat den Purusha als Gottheit.

Das ist der Om-Laut mit seinen vier Vierteln und seinen vier [Feuern als] Häuptern. Das vierte Viertel ist die Halbmora; sie wird, als materiell, kurz oder lang oder überlang


om U, om U U, om U U U


dreifach ausgesprochen; das vierte ist das Ruheselbst (çântâtman), welches bei Verwendung der überlangen Aussprache nicht in gleicher Weise [d.h. nicht materiell als ein Fortsummenlassen des m] sondern als Seelenerleuchtung plötzlich sich einstellen muss. Dieser letztere [Om-Laut] ist es, welcher alle Lebenshauche plötzlich, sobald er ausgesprochen wurde, [nach oben befördert]; und eben weil er sie nach oben befördert (ûrdhvam utkrâmayati), heisst er der Om-Laut (om-kâra). 2. Und der Praṇava heisst er, weil er alle Prâṇa's sich verneigen lässt (praṇâmayati); weil er sie sich neigen lässt, darum heisst er Praṇava. Sofern er vierfach besteht, ist er der Ursprung der Veda's und der Götter3; weil sie in ihm zu befassen sind (dheya), ist er der Allbefasser (sandhartar), und auch weil er vor allen Schmerzen und Ängsten rettet (santârayati), nach dem Erretten vor ihnen allen wird er so [benannt]. Als Vishṇu besiegt er alle [vielleicht weil der Name an vijayishṇu anklingt]; als Brahmán hat er alle Organe [aus ihrer Tätigkeit] herausgerissen (abṛihat), indem er sie feststellte durch Meditation, und indem Vishṇu sie im Manas feststellt in dem am Ende des Nachhalls [sich zeigenden] höchsten Âtman, meditieren sie dann weiter den Herrn (îçâna) als Gegenstand der Meditation, denn durch den Herrn ist diese ganze Welt ins Werk gesetzt worden. Von ihm werden Brahmán, Vishṇu, Rudra und Indra hervorgebracht und alle Organe mitsamt den Wesen. Zur Ursache, zum Weltall ist seine Gottherrlichkeit geworden, die selige (çiva), als der Äther in der Mitte unerschütterlich stehende.
[728]

Brahmán, Vishṇu und auch Rudra,

Der Herr und auch der Selige (Çiva),

Fünffach als diese fünf Götter

Wird verkündet der heil'ge Laut.


Daher erlangt höheren Lohn, wer auch nur einen Augenblick sich ihm hingibt, als selbst durch hundert Opferhandlungen. Aber alles was sich auf den Om-Laut bezieht von aller Erkenntnis, Yogaübung und Meditation, ist als der eine Selige (Çiva) zu meditieren, ja der Om-Laut ist Çiva.

Darum lasse man alles andere und studiere diese [Upanishad]! Dann wird der Zwiegeborene befreit von neuem Weilen im Mutterschosse, – befreit von neuem Weilen im Mutterschosse.

Fußnoten

1 Lies Rudra, wie auch Nṛisiṅhap. 2,1 und Nṛisiṅhott. 3 steht.


2 Die zweite und dritte Mora scheinen hier versehentlich verwechselt zu sein. Der Kommentator tröstet sich damit, dass Brahmán, Vishnu und Rudra ja doch am Ende eine Einheit ausmachen.


3 Der Ausdruck veda-deva-yoniḥ bezieht sich auf die vorhergehende Gleichsetzung der vier Moren mit den Veden und Göttern; er kehrt wieder Brahma-Up. 1 (oben S. 680), wo jedoch diese Beziehung fehlt, somit wohl eine Nachbildung unserer Stelle anzunehmen ist.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 725-729.
Lizenz:

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