A. Der Weg zum Âtman, Khaṇḍa 1-6.

[187] 1. In der Brahmanstadt des Leibes, und zwar in der Lotosblüte des Herzens, befindet sich ein kleiner Raum (dahara' âkâyaḥ), welcher in Wahrheit so gross ist wie der unendliche Weltraum und, wie dieser, alle Welten und alle Götter, alles was einer besitzt und nicht besitzt, in sich beschliesst. Der in ihm wohnende Âtman wird nicht von Tod, Verfall und Übel aller Art betroffen; und während alle, die nach diesseitigem oder jenseitigem Lohne trachten, Vergänglichem nachjagen und in allen Welten unfrei bleiben, so ist, wer den Âtman gefunden hat, frei (nicht mehr ein Knecht unverwirklichter Wünsche) und im Vollbesitze aller wahren (nicht auf die Illusion des Weltlebens gerichteten) Wünsche.

2. In grobmaterieller Weise werden diese »wahren Wünsche« hier ausgemalt. Wer sie besitzt, kann durch die blosse Vorstellung (sa kalpa) alles mögliche hervorzaubern und geniessen, die Welten der Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Freunde, die Welten der Wohlgerüche und Kränze, der Speise und des Trankes, des Singens, Musizierens und der Weiber. – Dieser Abschnitt fällt nach Geist und Ton so sehr aus dem Ganzen heraus, unterbricht auch den, mit 3,1 unmittelbar an den Schluss von 1. anknüpfenden Zusammenhang so störend, dass wir in ihm eine sinnliche Ausmalung des Gedankens 3,2 (atha ye ca asya iha jîvâ, ye ca pretâ, yac ca anyad icchan na labhate, sarvam tad atra gatvâ vindate) von späterer Hand vermuten, – vielleicht derselben Hand, welche am Schlusse des vorigen Prapâṭhaka die Allerfüllung im Sinne einer magischen Vervielfältigung der eignen Person ausdeutete (vgl. oben S. 173, Anm.).

[187] 3. Während bei dem gewöhnlichen Menschen diese wahren Wünsche »mit Unwahrheit verdeckt« sind, während er die Brahmanwelt, obgleich er täglich im Tiefschlafe in sie eingeht, nicht findet und daher auch die Seinigen, wenn sie sterben, verloren zu haben glaubt, – so findet der Wissende die Brahmanwelt und in ihr alle wahren Wünsche, atra gatvâ »wenn er hierher (nämlich in sein Herz) geht« (nicht »wenn er dorthin gegangen ist«, Böhtlingk); im Herzen ist der Âtman, wie aus der Etymologie von hṛidayam gezeigt wird, und im Tiefschlafe wird er, des Leibes ledig, mit dem höchsten Lichte vereint und dadurch seiner eignen wahren Wesenheit teilhaftig. Als das Brahman, als Satyam (Wahrheit) ist er (wie etymologisch spielend gezeigt wird) der Befasser (yam) des Unsterblichen (sat) und des Sterblichen (ti; nach Ça kara zu Bṛih. 5,5,1, wo ähnlich mit satyam gespielt wird, weil ti, t in den Worten anṛitam, Unwahrheit, und mṛityu, Tod, vorkommt).

4. Als solcher Befasser des Unsterblichen und Sterblichen ist der Âtman der scheidende Damm (setur vidhṛitir) zwischen den verschiedenen Welträumen (im Plural) und zugleich die (verbindende) Brücke (setu bedeutet beides) zwischen dem Diesseits und dem Jenseits (der Brahmanwelt). Kein Böses, kein Übel, keine Unvollkommenheit kann diese Brücke überschreiten. – Der Weg, um zu der Brahmanwelt zu gelangen, ist brahmacaryam (nicht »Brahmanenlehre«, Böhtlingk, sondern) das Leben als brahmacârin, Brahmanschüler, verbracht in Studium und Entsagung.

5. Dieses Brahmacaryam ist das Einzige, was not ist, denn es befasst (wie durch eine Reihe halsbrechender Etymologien erwiesen wird) alle andern Forderungen der Religion in sich; es ist yajña (Opfer), ishṭam (Geopfertes), sattrâyaṇam (eine grosse Somafeier), maunam (Büssertum), anâçakâyanam (Fasten) und araṇyâyanam (Einsiedlerleben im Walde); der wahre Wald (araṇyam) nämlich, in den man gehen soll, findet sich in der durch Brahmacaryam zu erlangenden Brahmanwelt, in welcher ara- und -ṇya (also araṇya) zwei Seen sind. – Hier hat eine spätere Hand noch andre in der Brahmanwelt zu findende Wunderdinge (airammadîyam saras, açvatthaḥ somasavanaḥ, aparâjitâ pûr brahmaṇaḥ, prabhuvimitam hiraṇmayam) eingeschoben, welche zwar, ebenso wie die analoge Schilderung in Kaush. 1,3, der Phantasie der spätern Inder viel Nahrung gegeben haben, hier jedoch den Zusammenhang der Erörterung über ara und -ṇya in einer gewiss nicht ursprünglichen Weise unterbrechen.

6. Die oben gelehrte Identität des Herzensraumes mit der Brahmanwelt wird, in Anpassung an die Fassungskraft der Menge, hier zu einer Verbindung beider mittels der braunen, weissen, blauen, gelben und roten Herzensadern und der gleichfarbigen, von der Sonne ausgehenden Strahlen. (Bṛih. 4,4,9 scheint diese Vorstellung als unerheblich behandelt zu werden). Beim Tiefschlafe ist die Seele in jene Adern geschlüpft und mit der Glut eins geworden (anders vorher, Chând. 8,3,4), beim Tode steigt die Seele des Wissenden durch die Kopfader zur Sonne empor, während die Nichtwissenden durch die hundert übrigen Adern ausfahren. – Auch dieser[188] Abschnitt, wegen der mehr sinnlichen Anschauungsweise, und weil der Tiefschlaf anders als Chând. 8,3,4 aufgefasst wird, erweckt den Verdacht, ein späterer Zusatz zu sein.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 187-189.
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