B. Der falsche und der wahre Âtman, Khaṇḍa 7-12.

[194] Dieser Abschnitt steht in nächster Beziehung zum vorhergehenden, wie schon die an 8,1,5 und 8,1,1 anknüpfenden Anfangsworte 8,7,1 (ya' âtmâ apahatapâpmâ usw). und die wörtliche Wiederholung der Hauptstelle 8,3,4 in 8,12,3 (evam eva esha samprasâdo usw). beweisen. Sein Zweck ist, die Ausführungen des vorigen Abschnittes zu ergänzen, indem er einerseits behufs der dort geforderten Erkenntnis des Âtman das wahre Selbst von dem falschen genauer unterscheiden lehrt (die drei ersten Antworten Prajâpati's), anderseits dem Einwande, dass bei der Vereinigung mit Brahman im Tiefschlafe das Bewusstsein verloren gehe, zu begegnen sucht (die vierte Antwort des Prajâpati). – Âtman, das Selbst, ist (wie in meiner »Geschichte der Philosophie«, I, S. 324 fg. ausgeführt) ein sehr vieldeutiger Begriff, sofern man namentlich das Selbst 1) materialistisch im Leibe, 2) realistisch in der individuellen Seele, 3) idealistisch in der allein realen höchsten Seele finden kann. Diese drei schrittweise sich vertiefenden Auffassungen erscheinen hier als drei Antworten, welche Prajâpati dem Indra auf die Frage: »was ist das Selbst?« erteilt. Durch diese Einkleidung wurde Ça kara verleitet, schon in der ersten Antwort die (individuelle) Seele zu verstehen, weil sonst Prajâpati »ein Betrüger sein würde«. Aber Prajâpati ist hier der mythologische Vertreter der Natur, welche niemals lügt und doch dem tiefer und tiefer dringenden Denken auf die Frage, worin unser Âtman, unser eigentliches Wesen, zu suchen sei, tatsächlich die drei genannten Antworten erteilt.

1) Die erste Antwort auf die Frage: »was ist das Selbst?« – lautet: ya' esho 'kshiṇi purusho dṛiçyate, d.h. Hier: »die Person, welche im Auge (des andern, wenn wir uns darin spiegeln) gesehen wird«. Dass diese Auffassung richtig ist, beweist das Folgende, in welchem das Spiegelbild im Spiegel und im Wasser für ganz das nämliche wie jenes Spiegelbild[194] im Auge erklärt wird. Um so auffallender ist, dass sonst unter dem »Purusha (Person, Geist) im Auge« immer die (individuelle) Seele verstanden wird; so Bṛih. 2,3,5. 5,5,2. Chând. 1,7,5 und namentlich 4,15,1, wo genau mit denselben Worten dieser purusho 'kshiṇi für âtmâ, amṛitam, abhayam, brahma erklärt wird. Vielleicht enthält unsre Erzählung eine Polemik gegen alle diese Stellen; vielleicht beriefen sich gar die Materialisten auf jene Stelle Chând. 4,15,1 (the devil can cite Scripture for his purpose), und unser Autor sucht sie in seiner Weise zu widerlegen. Jedenfalls kann kein Zweifel sein, dass hier das Spiegelbild im Auge, im Spiegel, im Wasser, als Abbild des materiellen Leibes verstanden werden muss.

2) Ebenso gewiss ist, dass dasjenige, was Prajâpati in der zweiten Antwort für âtmâ, amṛitam, abhayam, brahma erklärt, nämlich: ya' esha svapne mahîyamânaç carati, – die individuelle Seele ist, wie sie zwar, von der Leiblichkeit und ihren Gebrechen befreit, »im Traume fröhlich umherschweift«, aber doch immer noch als Subjekt die Welt der Objekte als ein Anderes, Fremdes, zu Fürchtendes sich gegenüber hat. Sehr schön wird dies durch den Traumstand illustriert, als den einzigen Zustand, in welchem wir die von der Leiblichkeit, nicht aber von der Individualität entbundene Seele empirisch beobachten können.

3) Im Gegensatze zu ihm ist der Tiefschlaf, auf welchen die dritte Antwort Prajâpati's hinweist, der einzige, empirisch bekannte, Zustand, in welchem die Aufhebung der Unterschiede von Subjekt und Objekt und somit die völlige Einswerdung der individuellen mit der höchsten Seele eintritt. – Hiermit ist der höchste Standpunkt erreicht, und die noch folgende vierte Antwort Prajâpati's geht nicht mehr, wie die andern, über die vorhergehenden Antworten hinaus, sondern will nur einen Einwand Indra's zurückweisen. Es ist derselbe Einwand, welchen Bṛih. 2,4,13 (=4,5,14) Maitreyî gegen Yâjñavalkya's Behauptung: »nach dem Tode ist kein Bewusstsein« erhebt. Während aber dort klar und schön gezeigt wird, wie ein Bewusstsein nur möglich ist in der vielheitlichen Welt, und wie nach deren Aufhebung zwar nicht die Erkenntnis, wohl aber der (unerkennbare) Erkenner fortbesteht, so erscheint in unsrer Stelle dieser selbe Gedanke in viel trüberer Gestalt. Zunächst weist Prajâpati auf die Körperlosigkeit der Seele hin (die doch der vorher abgefertigten individuellen Seele gleichfalls zukommt) und zeigt an einem ziemlich unklaren Simile von Wind, Wolke, Donner und Blitz, wie die völlige Befreiung vom Individuellen, die im Tiefschlafe statt hat, nicht eine Vernichtung, sondern eine Rückkehr zu der ureignen Natur als uttamapurushaḥ, d.h. reines, objektloses Subjekt des Erkennens, ist. – Die dann folgende, sinnliche Schilderung, wie diese höchste Seele sich mit Weibern, Wagen, Freunden amüsiert, muss wohl späterer Zusatz sein, da sie von dem Einwande Indra's gegen die zweite Antwort zu sehr getroffen wird, auch der unmittelbar vorhergehenden Behauptung, den Körperlosen berühre Lust und Schmerz nicht, zu sehr widerspricht, als dass wir sie in der ursprünglichen Konzeption einbegreifen könnten. Auch kann sich 8,12,4 sa câkshushaḥ purushaḥ nicht wohl auf den vorhergehenden prâṇa (das[195] physische Lebensprinzip), sondern vielmehr nur auf den uttamapurushaḥ zurückbeziehen. Er, und nicht der prâṇa, ist, wie im folgenden ausgeführt wird, das Subjekt des Sehens (câkshushaḥ purushaḥ), Riechens, Redens, Hörens, Denkens, alles andre sind nur seine Organe. – Auch die Götter, auf die zum Schlusse als Vorbilder der Erkenntnis des Âtman und der erreichten Alleinheit hingewiesen wird, sind in diesem Zusammenhange befremdlich, nicht nur, weil sie ja oben den Indra absandten, um diese Lehre erst von Prajâpati zu empfangen, sondern auch, weil es in den Upanishad's durchaus nicht üblich ist, sich die Götter als im Vollbesitze der Âtmanlehre befindliche Wesen zu denken (vgl. Bṛih. 1,4,10. 4,3,33. 5,2,1. Taitt. 2,8. Kaush. 4,20).

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 194-196.
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