[147] Amurbahn. I. Geschichte. Kaiser Alexander III. war es vorbehalten, Sibirien, das seit mehr als 300 Jahren schon zur Krone Rußlands gehörte, auch den Segnungen des modernen Verkehrsmittels der Eisenbahn teilhaftig zu machen. Das schier unermeßliche Ländergebiet, das Rußland unter dem Namen »Sibirien« zusammengefaßt hat und das den ganzen nördlichen Teil des asiatischen Kontinents einnimmt, ist 10,922.480 Quadratwerst (= 12,422.782 km2) groß. Es war bis 1893 ohne Eisenbahn. Nur der sog. »Sibirische Trakt« durchzog das Land. Und selbst dieser einzige Weg, der dazu bestimmt war, die fernen Gestade am Stillen Ozean mit St. Petersburg und Moskau zu verbinden, konnte die Bezeichnung eines Weges im westeuropäischen Sinne nicht für sich in Anspruch nehmen. Nur die Werstzeiger und die Poststationen erinnern daran, daß es sich hier um einen öffentlichen Weg handelt, denn befestigt oder gar kunstgerecht hergestellt war er und ist er heute nur an wenigen Stellen. Neben diesem »Trakt« gab es kaum noch nennenswerte Verkehrsstraßen, abgesehen von den zahlreichen und wasserreichen Flüssen, die aber nur im Sommer für den Verkehr nutzbar gemacht werden konnten. Diese Verhältnisse1 führten dazu, daß schon seit der Mitte des verflossenen Jahrhunderts der Frage der Herstellung einer Schienenverbindung näher getreten wurde. Endlich brachte der Allerhöchste Befehl vom 24. Juni 1890 einen gewissen Abschluß in das Für und Wider der Verhandlungen über die Ausführung des großen Planes. An diesem Tage erfolgte der Befehl, den Bau der Ussuribahn in Angriff zu nehmen.
Von Westen her wurde der Bau auch bald in Angriff genommen und der Betrieb bis Irkutsk 1896, bis Ssrjetensk 1900, auf der Baikalbahn 1905 eröffnet. Politische Verhältnisse führten inzwischen dazu, auf kürzerem Wege den Anschluß nach Wladiwostok und nach Port Arthur zu suchen. Das Schicksal dieser Unternehmung des großen Zarenreiches wurde endgültig im März 1905 auf den Schlachtfeldern bei Mukden entschieden.
Nun trat wieder der erste Gedanke und der erste Befehl des Kaisers Alexander III., einen ununterbrochenen Schienenweg durch Sibirien bis zum fernen Osten zu bauen, in[147] sein Recht. Es sollte in den Grenzen der russischen Herrschaft, geschützt durch den gewaltigen Amurstrom, eine Verbindung hergestellt werden (Abb. 141).
Es war hierbei die Erwägung leitend, daß die chinesische Ostbahn bei kriegerischen Ereignissen, die sich im fernen Osten abspielen könnten, der russischen Regierung kaum je wieder für militärische Zwecke Truppenbewegungen u.s.w. zur Benutzung frei stehen würde. Es entstand die Frage, ob es möglich wäre, diese für Rußland notwendige Benutzung der chinesischen Ostbahn mit Waffengewalt zu erzwingen? Die Antwort lautete wenig tröstlich, denn China hatte bereits und konnte jederzeit in nächster Nähe der Bahn so starke Truppenmengen zusammenziehen, daß es stets die Möglichkeit besitzt, dieses wichtige Verbindungsglied zwischen Westen und Osten zu schützen oder im schlimmsten Fall die wichtigsten Baulichkeiten, wie Brücken und Tunnel, zu zerstören und so den ganzen Verkehrsweg der Benutzung zu entziehen. Das waren die Erwägungen, die die Regierung mit Genehmigung des Kaisers Nikolaus II. bestimmten, sich für den Bau einer Bahn zu entscheiden, die derartigen Fährlichkeiten nicht ausgesetzt ist, sondern im Augenblick, wo sie einerseits zur Erhaltung des Besitzstandes und der Macht des Reiches zuverlässige Dienste leisten soll, anderseits zu Zeiten friedlicher Entwicklung, bei der Arbeit um die wirtschaftliche Erschließung des Landes, um dessen Besiedelung mit russischen Bauern, um die Hebung der natürlichen Schätze des Bodens als ein zuverlässiger Verkehrsweg, der sichere Stützpunkt für jede derartige Arbeit zu sein.
Aber die Volksvertretung in der Reichsduma, wie auch der Reichsrat trennten sich in zwei große, zum Teil sehr mächtige Lager. Während auf der einen Seite der Standpunkt der Regierung vertreten wurde und dabei der Wert und die Bedeutung des zu erschließenden und zu schützenden Landes reichlich hoch eingeschätzt und wohl auch überschätzt wurde, vertrat ein anderer Teil den Standpunkt, daß die Interessen Rußlands am Baikalsee ihre Begrenzung finden und daß der Gewinn auf der einen Seite nicht die Opfer auf der anderen Seite aufwiege, die der Bau erfordern werde. Auch erhoben sich sehr gewichtige Stimmen, die darauf hinwiesen, daß Rußland durch die Opfer an Geld, die der Bau der A. erfordern werde, auf die Lösung aller anderen, namentlich sehr wichtiger innerrussischer Aufgaben ganz werde verzichten müssen. Das waren alles Bedenken, die mehr oder weniger schwer ins Gewicht fallen mußten, weil sie der Tatsächlichkeit nicht entbehrten. Wenn sich dennoch, fast im letzten Augenblick, die Parteien auf den Boden der Regierungsvorlage stellten und sich eine Mehrheit (mit 212 Stimmen gegen 101 in der Reichsduma) für diese fand, so ist dieser Ausgang dem Ministerpräsidenten Stolypin zuzuschreiben, der die Volksvertreter an ihre patriotische Pflicht erinnerte und damit die Schwankenden für die Vorlage gewann. Und selbst noch in der Kommission des Reichsrats fand sich nur eine schwache Mehrheit für den Bahnbau. Von 37 Stimmen waren nur 20 für den Bau zu gewinnen gewesen, 17 Kommissionsmitglieder hatten unbeschriebene Zettel abgegeben. Nun stimmte auch der Reichsrat in seiner Plenarsitzung zu und am 6. Juni 1908 erfolgte die Allerhöchste Bestätigung des Bahnbaues und gleichzeitig der Befehl, mit möglichster Beschleunigung an die Ausführung des Baues zu gehen, dem der Kaiser eine ganz besondere Wichtigkeit beilegte und ein ganz besonders warmes Interesse zuwandte.
Die ganze Strecke der A. zerfällt in 4 Teilstrecken, u. zw.:
a) die Kopfstrecke: Kuenga-
Urjum = 183 Werst2,
bestätigt am 6. Juni 1908 17,016.679
b) die Weststrecke: Urjum-
Kerak = 621 Werst,
bestätigt am 22. Juni 1909 76,348.732
c) die mittlere Strecke:
Kerak-Dija = 638 Werst,
nebst Zweigbahn nach
Blagowjeschtschensk = 103 Werst,
bestätigt am 21. Juni 1910 69,994.240
d) die Oststrecke: Dija-
Chabarowsk = 470 Werst, noch
nicht endgültig bestätigt 77,277.180
die gesamte A. nebst der Zweigbahn
Blagowjeschtschensk wird somit
voraussichtlich eine Gesamtlänge
von 1925 Werst (= 2053 km)
haben und an Baukosten 240,636.831
erfordern. [oder 519,775.554 M. oder 608,811.181 K]
Damit war der erste und man darf wohl sagen der große Gedanke Kaiser Alexanders III., als er die bestimmte Absicht aussprach, einen ununterbrochenen Schienenweg auf russischem Gebiet von russischen Arbeitern erbauen zu wollen, zunächst wieder zur Geltung gebracht. Es kommt nunmehr die Ausführung an die Reihe. Wird der Bau so gefördert, wie es der Kaiser Nikolaus II. wünscht, und sind die [149] Hindernisse, die die Natur diesem großartigen Kulturwerke voraussichtlich entgegenstellt, nicht gar zu groß, so kann damit gerechnet werden, daß etwa 1919 die Verbindung mit dem fernen Osten geschaffen sein wird.
II. Land und Leute. Das Amurgebiet, um dessen Erschließung es sich bei dem Bau der A. handelt, ist ein Gebirgsland. Das Stanowoigebirge bildet die Wasserscheide zwischen dem Stromgebiet des Lena- und des Amurstromes, während die zweite Bergkette, das kleine Chingangebirge, die Wasserscheide zwischen den Flüssen, die in den mittleren Amur und in das Ochotskische Meer fallen, ist, endlich kommt noch als dritte Bergkette das große Chingangebirge in Betracht, das die Wasserscheide zwischen den Flüssen Amasar und Oldoi bildet. Diese Hauptbergzüge, die sich allmählich abflachen, laufen dann aus in die Niederungen der Flußgebiete des Sselemdsha, Tom, Sawitaja, Seja und Bureja, die eine Fläche von 150.000 Quadratwerst umfassen, während die Niederung des mittleren Amur eine Breite von 50100 Werst aufweist.
Das Klima ist hier streng kontinental, daher der Winter kalt ( 23∙26°), der Sommer, der nur 3 Monate dauert, heiß (+ 19∙83°), die Durchschnittstemperatur niedrig ( 0∙55°). Dazu kommt, daß der südliche Teil des Gebietes im Winter ohne Schnee bleibt, während der mittlere, an den Amurstrom sich anlehnende Teil eine reichliche Schneedecke hat. Obgleich hiernach die klimatischen Verhältnisse keine günstigen, sondern rauhe sind, bedecken doch unermeßliche Waldungen die Gebirge, der Baumwuchs ist allgemein sehr reich und üppig. Von diesen Waldungen, deren entlegenere Teile noch nie ein menschlicher Fuß betreten hat, steht ein verhältnismäßig kleiner Teil, nämlich 30,000.000 Deßjatinen (= 32,775.000 ha) unter Aufsicht der Forstverwaltung. Der Rest bleibt einstweilen sich selbst überlassen, bis die Zeit soweit herangereift ist, daß von der Stammbahn am nördlichen Ufer des Amurstromes Eisenbahnen nach Norden gebaut werden und damit auch dorthin die Kultur allmählich getragen werden kann.
Neben dem Reichtum an Wäldern erzeugt der fruchtbare Boden daselbst Weizen, Sommerroggen, Buchweizen, Gerste und Hirse. Vor allem aber gedeiht Hafer besonders gut und nimmt unter den Feldfrüchten die weitaus erste Stelle ein.
Wenn auch der Ackerbau in den ausgedehnten und fruchtbaren Tälern eine sehr wichtige Rolle für den Erwerb der Bevölkerung spielt, so ist sie doch keineswegs auf den Ackerbau allein angewiesen, denn die Viehzucht ist nicht unbedeutend, wenn man die geringe Einwohnerzahl berücksichtigt.
Endlich aber spielt hier die Tierwelt in den Flüssen, Wäldern und in den Lüften durch ihren Reichtum eine recht erhebliche Rolle, weil die Jagd und der Fischfang den Bewohnern große wirtschaftliche Vorteile bieten, namentlich die Jagd auf die Tiere, deren Fellwerk hoch im Preise steht, wie Zobel, Marder, Bär u.s.w. Ferner wird hier das Elentier, der Hirsch, das Wildschwein, der Gebirgswolf, der Tiger und viele andere Säugetiere, von denen 75 Gattungen bisher gezählt worden sind, gejagt.
Nicht viel weniger wichtig für die Ernährung und den Erwerb der Bevölkerung ist der Fischreichtum der vielen und großen Flüsse.
Es ergibt sich aus allem, daß die Natur hier im Gebiet der künftigen A. in reichem Maße zusammengetragen hat, was wohl geeignet sein könnte, für die Entwicklung des Landes eine gesunde Unterlage zu bilden. Und wenn das jetzt schon so ist, wo die Anzahl der Menschen so außerordentlich sparsam und dünn gesät ist, so ist die Annahme gewiß nicht unberechtigt, daß mit zunehmender Bevölkerung die Bedeutung des Gebietes, der Ertrag der Ernten und der Gewinn aus allem, was sonst die Natur bietet, sich sehr erheblich steigern wird.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Frage, ob die angesichts der dünngesäten Bevölkerung unerläßliche Kolonisation glücken wird und ob sie schnell genug durchgeführt werden kann. Voraussetzung hierfür ist gewiß die Eisenbahn und daher auch deren Bau von diesem Standpunkt aus unerläßlich, denn sie wird erst die Möglichkeit bieten, die Ansiedler in größerer Zahl ins Amurgebiet, das wie kein anderer Teil des Reiches gefährdet ist, zu schaffen.
Hierbei wird aber eine Anziehung für den Anfang, wie es scheint, fehlen, nämlich das Gold. Soviel die geologischen Untersuchungen bisher gezeigt haben, ist Gold zunächst im Gebiete der »Kopfstrecke« und der »Weststrecke« als vorhanden festgestellt worden, u.zw. in nächster Nähe der geplanten Bahn. Dagegen ist an der »Mittel-« und »Oststrecke« nur an einer einzigen Stelle Gold gefunden worden, im Flußgebiet des Bidshan und Ssutar. Aber man darf wohl annehmen, daß, da im westlichen Teil der A. fast überall Gold gefunden worden ist, es sich auch hier reichlich finden wird. Es ist offenbar bisher in dieser vom Verkehr noch nicht erschlossenen Gegend nicht gesucht worden.[150]
Ferner sind Steinkohlenlager festgestellt worden und da außerdem chemische Untersuchungen ergeben haben, daß der im Einflußgebiete der A. in großer Menge vorhandene Marmor sich besonders gut zur Herstellung von Zement eignet, so wird dem Baugewerbe voraussichtlich Zement, der gegenwärtig aus Europa bezogen wird und daher sehr teuer ist, wohlfeil zur Verfügung stehen.
Was Straßen und öffentliche Wege anlangt, so fehlt es an solchen fast ganz und muß in dieser Hinsicht Wandel geschaffen werden.
Besser als mit den Landwegen steht es mit dem Verkehr auf den Wasserwegen, den großen Flüssen des fernen Ostens. Dazu gehören in erster Reihe der Amur, die Seja, Sselemdska und Bureja. Auf ihnen verkehrten bereits 1907:
1. Dampfschiffe | 190 |
2. mit Benzin- und Petroleummotoren | |
angetriebene Schiffe | 10 |
3. andere Schiffe | 275 |
III. Linienführung und Leistungsfähigkeit. In dem Journale des Ministerrats vom 13. Juni 1906, in dem dieser sich für den Bau der Bahn aussprach, wurden auch schon die wichtigsten Grundsätze für die Linienführung der gesamten A. niedergelegt. Zunächst sollte die Bahn ausschließlich auf russischem Gebiet erbaut werden und sodann sollte sich die Bahn dem Amurstrom nicht mehr als auf 15 Werst (= 16 km) nähern und sich nicht mehr als um 120 Werst (= 128 km) von ihm entfernen. Es ist für diese Hauptrichtlinie vom Kriegsminister ausdrücklich hervorgehoben worden, daß er die Entfernungen mit Rücksicht auf die Sicherheit für notwendig erachtet. Anderseits gewähre die Entfernung von 120 Werst immer noch die Möglichkeit, in 4 Tagesmärschen den Amurstrom zu erreichen.
Wenn damit die großen Richtlinien gegeben waren, so kam es im weiteren Verlauf darauf an, im einzelnen über die Linienführung Bestimmung zu treffen. Um den Wunsch des Kaisers, die Bahn so schnell als irgend möglich herzustellen, zu erfüllen, wurden die Trassierungsarbeiten zugleich im Osten und Westen begonnen. Aber gerade der Ausgangspunkt der Weststrecke gab zu vielen und nicht unerheblichen Bedenken Anlaß. Es kamen drei Punkte in Betracht, u. zw. zunächst Ssrjetensk, von wo aus in den Jahren 1893 und 1894 die Voruntersuchungen ausgingen, aber verlassen wurden, weil die Fortsetzung des Baues überhaupt aufgegeben wurde. Aber auch bei den aus Anlaß der Wiederaufnahme der Arbeiten abermals angestellten Untersuchungen ergab es sich, daß der Ausgangspunkt Ssrjetensk aufgegeben werden müsse, weil der Bau nicht nur sehr schwierig, sondern namentlich auch sehr kostspielig werden würde. Es wurde daher auf die beiden nächsten in Frage kommenden Punkte: Nertschinsk und Kuenga, beides Stationen der Baikal-Umgehungsbahn, zurückgegriffen.
Beide Punkte liegen am Anfange einer Umgehungslinie, die etwa 100 Werst länger werden muß, als die Fortsetzung von Ssrjetensk. Wenn trotz alledem diesem Umweg der Vorzug gegeben worden ist und von Kuenga aus die Bahn weiter gebaut werden wird, so geschieht es, weil die Bahn um 5∙75 Mill. Rubel billiger hergestellt werden kann. Dazu treten dann noch Erschwernisse in der Betriebsführung, die eine ständige Belastung des Budgets zur Folge haben würde, falls die Ssrjetensker Linie gewählt worden wäre.
Von Kuenga als Ausgangspunkt soll die Bahn dann durch die Täler der Flüsse Kuenga, Aleur, Ungurga, Urjum, Amasar bis zur Mündung des Flusses Tschitschatka und weiter in dessen Tal bis zum Flusse Urka und der Station Kerak, die den westlichen Teil der A. abschließt, geführt werden. Die Gesamtlänge beträgt 804 Werst.
Für diesen Teil der A. sind Steigungen bis 10‰ und Krümmungshalbmesser von 200 Faden (= 426 m) zugelassen. Eine Ausnahme ist vorgesehen für die Gebirgsstrecken, wo Steigungen bis zu 14‰ und Krümmungshalbmesser bis zu 120 Faden (= 256 m) nachgelassen worden sind, um andernfalls notwendig werdende sehr kostspielige Bauten oder eine unverhältnismäßige Verlängerung zu verhüten.
Bei der Station Kerak beginnt dann die Mittelstrecke der A., die über Ssuraschewka bis zum Fluß Dija fortgesetzt, 683 Werst lang werden soll. Dieser Teil der A. bewegt sich im wesentlichen von Kerak aus auf der Wasserscheide der Flüsse Urkan und Amur, ferner der Flüsse Tygda und Amur, fällt dann zum Sejafluß, der bei Ssuraschewka überschritten wird und führt über Nowo-Jekaterinoslawowka bis Dija.
Bei der Lösung der Frage der Linienführung dieser Teilstrecke bereiteten die Ansprüche der Stadt Blagowjeschtschensk, die im Winkel des Zusammenflusses des Seja und Amur liegt, ganz besondere Schwierigkeiten. Blagowjeschtschensk ist die größte und bedeutendste Stadt des ganzen von der A. berührten Gebietes und hat daher mit Recht den Anspruch erhoben, daß die Bahn nicht an ihr vorübergeführt werde. Eine direkte Berührung der Stadt war nach den aufgestellten Grundsätzen[151] von selbst ausgeschlossen, denn Blagowjeschtschensk liegt unmittelbar an der russisch-chinesischen Grenze. Es blieb also nichts übrig, als die Stadt durch eine Zweigbahn mit der Hauptbahn zu verbinden. In dieser Beziehung kamen drei Ausgangspunkte in Frage, Ssuraschewka, Nowo-Jekaterinoslawowka und Botschkarewo.
Auf letzteren Ausgangspunkt fiel die Wahl. Diese Verbindungsbahn wird 103 Werst lang, sie überschreitet die Flüsse Bjelaja und Seja und erreicht dann unmittelbar die Stadt Blagowjeschtschensk. Sie kostet 15,381.860 Rubel.
Auf dieser Mittelstrecke der A. sind Steigungen zugelassen von 8‰, 7∙6‰, 7∙3‰, 6∙7‰ und dazu Krümmungshalbmesser von 300, 250, 200 und 150 Faden (= 640, 523, 427 und 320 m).
Die Oststrecke beginnt bei der Station Dija und erreicht Chabarowsk nach 480 Werst. Für diesen Schlußteil der großen A. ist die Linienführung von den berufenen Instanzen noch nicht festgestellt. Es ist nur der Bauleitung aufgetragen, die ursprünglichen Pläne nochmals eingehend zu prüfen und dabei namentlich den Bau von Tunneln zu erwägen, um mit Hilfe dieser die Linienführung zu verbessern. Das ist geschehen und scheint das erstrebte Ziel auch erreicht zu sein. Der Minister hat an die Reichsduma den Antrag gebracht, nunmehr die geplante, südliche Linienführung derart zu genehmigen, daß die Oststrecke von der Grenze der mittleren Teilstrecke zum Dorfe Kamenka, mit Überschreitung des Burejaflusses, weiter im Tal des Chinganflusses mit einer Schwenkung der Linie in der Richtung zum Dorfe Paschkowski, jedoch nicht näher als 22 Werst vom chinesischen Ufer des Amur geführt werde. Sodann soll die Bahn die Täler der Flüsse Kimkan, gr. Bira, Urmi und Tunguska bis Chabarowsk verfolgen, wobei der Amurstrom bei Chabarowsk auf einer festen Brücke überschritten wird.
Dieser Antrag soll im Jahre 1911 der Duma zugehen, so daß im Jahre 1912 mit dem Bau begonnen werden könnte. Der Bauplan sieht eine vierjährige Bauzeit vor. Die Steigungs- und Krümmungsverhältnisse sollen sich in folgenden Grenzen halten, nachdem infolge des Baues von Tunneln in der Gesamtlänge von 3331 Faden (= 7105 m) diese Verhältnisse wesentlich gebessert worden sind: Steigungen höchstens bis 7∙7‰, 7∙4‰ und 6∙8‰ und haben dem angepaßt die Krümmungen einen Halbmesser von 250, 200 und 150 Faden (= 533, 427 und 320 m) erhalten.
Anbelangend die Leistungsfähigkeit der ganzen A. sind alle Einrichtungen und Bauten einheitlich so bemessen, daß ein regelmäßiger Verkehr von 4 Zugpaaren durchzuführen ist, der jedoch auf 9 Zugpaare gesteigert werden kann. Neben diesem Friedensverkehr, der mit den gewöhnlichen Einrichtungen bewältigt werden soll, hat die Militärverwaltung die Forderung gestellt, daß die Möglichkeit gegeben wird, durch den Bau von Ausweichstellen u.s.w. 20 Zugpaare, darunter 1 Personenzugpaar, im Fall des Bedarfes zu befördern.
IV. Bau. Allgemein ist für den Bau bestimmt, daß der Bahnkörper zunächst für ein Gleis hergestellt wird, daß alle Wasserdurchlässe und Brücken zweigleisig ausgebaut werden, so daß ein zweites Gleis jederzeit schnell gelegt werden kann, daß auf 1 Werst (= 1067 m) 810 Deßjätinen (= 8∙7510∙92 ha) Land kostenlos zur Verfügung gestellt werden müssen, daß die Schienen im Hauptgleis 241/3 Pfund auf den laufenden Fuß wiegen sollen. Die Wasserversorgung wird keine besondere Erschwernis verursachen, obgleich die Bahn zu einem nicht geringen Teil der Strecke auf der Wasserscheide der Flüsse geführt werden muß.
Dagegen haben sich auf den einzelnen Bauabschnitten doch teilweise sehr erhebliche Schwierigkeiten der Bauausführung entgegengestellt.
Zunächst kommt die »Kopfstrecke« Kuenga bis Urjum in Frage. Nach einem amtlichen Bericht vom 15. Januar 1911 sind die Arbeiten hier soweit gefördert worden, daß in der zweiten Hälfte 1908 mit dem Bau begonnen werden konnte und daß gegen 1909 bereits auf 91 Werst die Schienen vorgestreckt waren, so daß der Bau dieser Strecke, auf der ein Tunnel von 77 Faden (= 164 m) Länge hergestellt werden mußte, am Ende der Bauperiode fertiggestellt werden konnte.
Bedeutend ungünstiger heißt es im Bericht gestalten sich die Arbeiten auf der zweiten Hälfte dieser Strecke von 92183 Werst. Das Hindernis, das sich hier einem schnellen Fortschreiten des Baues entgegenstellt, ist der tief gefrorene Boden. Diese Baustrecke führt zum großen Teil durch ein Gebiet, das ewig vereist ist. Da der Boden mit Humus und mit Moos bedeckt ist, so kann er nur auf geringe Tiefe auftauen. Es kommt dazu, daß das Gelände kein genügendes Gefälle hat, so daß mehrfach Versumpfung die Folge ist. Die Arbeiten müssen demnach im Sommer in einem zähen Brei ausgeführt werden, denn der Boden besteht aus einem ungemein bündigen Ton, der mit Steinen durchsetzt ist. Da nun der Boden tief gefroren ist, so[152] muß er künstlich aufgetaut werden. Gesprengt kann nicht werden, da alle Sprengmittel in dem zähen Boden versagen. Ebenso schwierig ist die Bearbeitung des Bodens mit Brechstangen, weil er schlecht bröckelt. Diese Verhältnisse haben die Arbeiten äußerst schwierig gestaltet und die Gesundheit der Arbeiter geschädigt, so daß teils die Unternehmer die Arbeit aufgaben, teils die Arbeiter sie verließen und selbst durch hohe Lohnsätze nicht zurückgehalten werden konnten. Es wurden daher die Strafgefangenen zur Aushilfe herangezogen. Es sind umfangreiche Drainierungen vorgenommen worden, die gute Dienste leisteten, so daß gegen Ende 1910 auch auf dieser zweiten Hälfte (Werst 92183) bis auf 5 Werst die Schienen gelegt worden waren. Auch die Kunstbauten waren errichtet.
Die Weststrecke Urjum-Kerak ist mit Beginn der Bauperiode 1910 in Angriff genommen. Bei den Arbeiten stellten sich die gleichen Schwierigkeiten heraus, wie auf der Strecke bis Urjum. Nach den früher gemachten Erfahrungen wurden hier Kanäle zur Entwässerung angelegt, so zwar, daß sie zunächst nicht besonders tief ausgehoben wurden. Wenn sie dann zu wirken anfingen, wurden sie weiter vertieft. Auf diese Weise wurde ein geeigneter Baugrund geschaffen und spricht die Bauleitung in ihrem Bericht die bestimmte Hoffnung aus, daß die Erdarbeiten rechtzeitig werden fertiggestellt werden können.
Ebenso wird damit gerechnet, daß die Kunstbauten zeitgerecht vollendet werden.
Die Wasserbeschaffung macht auf der Weststrecke weniger schwierige Arbeiten und Vorkehrungen notwendig, weil der Boden hier schon nicht mehr so tief gefroren ist, so daß die Schwierigkeit in dieser Baustrecke wesentlich leichter gelöst werden kann.
Die Mittelstrecke von Kerak bis Dija nebst Zweigbahn von Botschkarewo nach Blagowjeschtschensk ist am 21. Juni 1910 von den gesetzgebenden Körperschaften genehmigt worden und soll zu Beginn des Herbstes 1911 mit dem Bau begonnen werden. Allein die außerordentlich großen Schwierigkeiten, mit denen man auf den beiden ersten Teilbaustrecken zu kämpfen hatte, haben zur Folge gehabt, daß die Unternehmer eine Beteiligung an der Ausführung der Bauarbeiten ablehnten. Es war also nicht zu umgehen, Strafgefangene in noch größerem Umfange zu den Arbeiten heranzuziehen, als das bereits auf den früheren Strecken bis Kerak geschehen war. Die Verwendung dieser Arbeiter hat zur Folge, daß für sie Unterkunft, Verpflegung und Bewachung in ausreichendem Maße bereit gehalten werden muß. Die Herstellung von Unterkunftsräumen und die Herbeischaffung der Vorräte zur Verpflegung sind einem Lieferanten übertragen worden.
Es fragt sich nun, ob sich im Laufe der Arbeiten die Befürchtung, der Grund und Boden sei ebenso schwer zu bearbeiten wie auf den früheren Strecken, bestätigen wird. Geschieht das nicht, so werden die Unternehmer sich wohl wieder um die Arbeiten bewerben, so daß sie dann voraussichtlich schnell gefördert werden können.
Für die Oststrecke sind zunächst die vorbereitenden Arbeiten, die Auswahl der Punkte für die Linienführung und die Trassierungsarbeiten im Gange. Nach der Schätzung des bauleitenden Ingenieurs läßt sich damit rechnen, daß der Bau dieser Schlußstrecke etwa 1912 begonnen werden kann.
Für alle vier Teilstrecken der A. ist eine Bauzeit von etwa je vier vollen Bauperioden in Aussicht genommen. Ob die genügen werden, um den Bau vollständig zu Ende zu führen, darf fraglich erscheinen, wenn man erfährt, mit welchen ungeheuren Schwierigkeiten die Technik hier zu kämpfen hat. Wenn auch der amtliche Bericht verhältnismäßig vorsichtig alle diese Punkte berührt, so besprechen die Tageszeitungen diese Dinge ohne irgendwelche Zurückhaltung und weisen mit großer Bestimmtheit darauf hin, daß, wenn auch der Bau der Sibirischen Bahn vielfach ganz außerordentliche Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Arbeiter stellte, das alles gegenüber dem, was an der A. erlebt wird, weit zurücktritt.
In allen vier Teilstrecken gehört ferner zu den vorbereitenden Arbeiten die Herstellung von Wegen. Diese Wege dienen namentlich dazu, um von den schiffbaren Flüssen die Baumaterialien und die Werkzeuge an die Bahnlinien zu schaffen, ferner um längs der Bahn verkehren zu können. An vielen Stellen werden zu diesem Zweck auch schmalspurige Bahnen erbaut. Alle diese Arbeiten werden nach Vollendung des Bahnbaues dem durch die Bahn erschlossenen Gebiet noch unschätzbare Dienste leisten, weil zurzeit Wege überhaupt nicht vorhanden sind. Gerade diese Wege werden in hohem Maße die Entwicklung des Landes fördern und dürfen daher in ihrem Wert für das Land ganz besonders hoch eingeschätzt werden.
Literatur: Kulomsin, Staatssekretär, Zur Zehnjahrfeier des Komitees der Sibirischen Eisenbahn. (18931903): Die Sibirische Eisenbahn in Vergangenheit und Gegenwart. St. Petersburg 1903 (amtlich, russisch) [K dessjätiljetiju komiteta ssibirskoi sheljesnoi dorogi. (18931903) Ssibirskaja sheljesnaja doroga w jeja proschlom i nastojaschtschem.] C. v. Zepelin, Der ferne Osten. T. II.[153] Berlin 1909; In: Rußland in Asien, Bd. IX. Krahmer, köngl. preuß. Generalmajor z. D.: Sibirien und die große sibirische Eisenbahn. Leipzig 1900. In: Rußland in Asien, Bd. III. Dr. M., Die Amurbahn in der Duma. Berlin. Arch. f. Eisenbahnw. 1910, S. 637 ff.; Die Amurbahn in der Kommission des Reichsrats. Berlin. Arch. f. Eisenbahnw. 1910; S. 863 ff. W. A. Ssachanski, Beschreibung des Amurgebietes im Zusammenhange mit der Güterbewegung der geplanten Mittel-Amureisenbahn. St. Petersburg (russisch) 1909. [Otscherk Amurskoi oblasti w. swjäsi s grusooborotom projectirujemoi sredne-amurskoi sheljesnoi dorogi.] Vorlage des Ministers der Verkehrsanstalten an die Reichsduma: I. vom 22. Mai 1907: Über den Beginn zum Bau der Amurbahn auf Anordnung der Staatsregierung und für deren Rechnung [o pristupje k ssoorusheniju Amurskoi shel. dorogi rasporjäshe nijem kasny i sa jeja tschet]; II. vom 29. Oktober 1909: Über die Genehmigung der Baukosten des mittleren Teiles der Amurbahn von der Station Kerak bis zum Fluß Dija und der Zweigbahn zur Stadt Blagowjeschtschensk [ob utwershdenii stroiteljnoi stoimosti srednei Amurskoi sheljesnoi dorogi ot stanzii Kerak do rjeki Dii i wjetwi k gorodu Blagowjeschtschensk.]; III. vom 30. März 1910: Über die Genehmigung der Linienführung und der Bau kosten des östlichen Teiles der Amurbahn [ob utwershdenii naprawlenija i stroiteljnoi stoimosti wostotschnoi tschasti Amurskoi sheljesnoi dorogi]. Ing. L. Wurzel, (amtlich), Bericht des bauleitenden Ingenieurs über die allgemeine Lage des Baues der Amurbahn auf Grund der an Ort und Stelle gesammelten Daten bei Besichtigung der technischen und baulichen Arbeiten im Sommer 1910. St. Petersburg, den 15. Januar 1911 [Sapiska natschalnika uprawlenija po ssoorushenija sheljesnych dorog ob obschtschem poloshenii djela po ssoorusheniju Amurskoi dorogi na osnowanii dannych, ssobrannych na mjestje pri osmotrje technitscheskich i stroiteljnych rabot ljetom 1910 godu]. Wlad. Wiskowatow, Die Amurbahn, Die Privatinitiative in Sachen der Übersiedlung (russisch). St. Peterburg 1908. [Amurskajashel. doroga. Tschastnaja iniziatiwa w peresselentscheskom djelje.] Prischtschepenko I, Zur Frage über die Linienführung der Amurzweigbahn zum Amurfluß bei Blagowjeschtschensk (russisch). St. Petersburg 1909. Nebst Karte. [Po woprossu o naprawlenii wjetwi Amurskoi shel. dorogi k rjekje Amuru u goroda Blagowjeschtschenska.] G. Th. Krajewski, Die Amurbahn, [Amurskaja doroga.] Journal des Ministeriums der Verkehrsanstalten. St. Petersburg 1906, H. IV. Ing. S. Kulshinski, Zum Bau der Amurbahn. [K postroikje Amurskoi doroi.] St. Petersburg 1908.
Mertens.
1 | S. Näheres: Russische Eisenbahnen. |
2 | 1 Werst = 1067 m. |
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