Russische Eisenbahnen

[256] Russische Eisenbahnen (mit Karte).


I. Geschichte. a) Geschichte der Staatseisenbahnen: 1. im europäischen Rußland, 2. im asiatischen Rußland; b) Geschichte der Privateisenbahnen: 1. im europäischen Rußland, 2. im asiatischen Rußland; c) Neben- und Zufuhrbahnen. – II. Finanzierung. – III. Technische Anlage. – IV. Verwaltung und Organisation. – V. Statistik.


I. Geschichte.


Die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des russischen Eisenbahnnetzes lehnt sich in ihren einzelnen, sehr voneinander abweichenden Abschnitten eng an die Regierungszeiten der Zaren an. Darnach kann man folgende Abschnitte unterscheiden:

a) Nicolai I., bis zum 1. März 1855; Beginn des Baues der Bahnen. Sie werden für Rechnung des Staats erbaut und verwaltet;

b) Alexander II., bis zum 13. März 1881; im europäischen Rußland werden neue Bahnen von Privatgesellschaften erbaut und verwaltet. Der Staat übernimmt die Zinsbürgschaft. Die vorhandenen Staatseisenbahnen gehen fast alle in den Besitz von Privatgesellschaften über. In Mittelasien werden die ersten Eisenbahnen von Rußland für Rechnung des Staats erbaut;

c) Alexander III., bis zum 13. November 1894; Rückkehr zum Staatsbahngedanken, Verstaatlichung einer großen Zahl von Privatgesellschaften, daneben Bildung von 6 großen Privat gesellschaften, Bau und Verwaltung großer Staatsbahnen in Asien;

d) Nicolai II.; die Grundsätze der Regierung Alexanders III. werden weiter befolgt; die Privatunternehmung wendet sich dem Bau von Bahnen auch in Asien zu.


a) Geschichte der Staatseisenbahnen.


1. Im europäischen Rußland.


10 Jahre nachdem in England die erste Eisenbahn erbaut worden war, schritt auch Rußland dazu, das neue Verkehrsmittel in seinen Dienst zu stellen. Am 17. Dezember 1835 genehmigte Zar Nicolai I. den Bau der ersten Eisenbahn. Von St. Petersburg über Zarskoje Sselo nach Pawlowsk (25 Werst = 27 km) sollte sie führen (s. Privatbahnen, S. 140). Den äußeren Anstoß zur Prüfung der Eisenbahnbaufrage gab der österreichische Ingenieur Gerstner. Er legte dem Zaren ein Programm über den Ausbau eines Eisenbahnnetzes vor, wie er es sich im Interesse der Entwicklung der Landwirtschaft und des Verkehrs dachte. Im wesentlichen liefen die Vorschläge darauf hinaus, die beiden Residenzen St. Petersburg und Moskau miteinander, demnächst Moskau mit der Wolga und dem Schwarzen Meer, St. Petersburg aber mit Warschau und mit der preußischen Grenze zu verbinden. Der Zar hatte bald erkannt, welch große Bedeutung Eisenbahnen für sein Land angesichts der zu überwindenden großen Entfernungen gewinnen müßten. Aber der Widerstand, den diese Auffassung bei seinen nächsten Ratgebern fand, war so groß, daß die Inangriffnahme der Bauten sehr hinausgeschoben wurde. Die beiden einflußreichen Grafen Toll und Cancrin vertraten die Meinung, daß es bei den vielen und wasserreichen Flüssen und bei den niedrigen Beförderungssätzen, die hier zur Erhebung gelangen, viel wichtiger sei, die Wasserwege zu verbessern, als mit großen Geldopfern Eisenbahnen zu bauen, die sich ihrer Meinung nach nie rentieren könnten. Auch besitze Rußland keine Steinkohle, es würden daher die Wälder vernichtet werden. Endlich aber sei der Zeitgewinn bei der Fortschaffung der Güter nicht das Ausschlaggebende, sondern die größere Billigkeit. Wenngleich der Zar diese Gründe nicht als stichhaltig gelten ließ, vielmehr ganz entgegengesetzter Ansicht war, so gelang es doch dem Einfluß der beiden Männer, den Eisenbahnbau aufzuhalten. Mit Recht haben spätere Geschichtschreiber darauf hingewiesen, daß, wenn der sonst so eigenwillige Zar auch in diesem Fall seiner Auffassung von der Wichtigkeit der Eisenbahnen für Rußland seinen Willen zur Durchführung des für notwendig Erkannten hinzugefügt hätte, der unglückliche Krimkrieg (1853–1856) vielleicht einen andern Ausgang genommen hätte. Das tat der Zar aber nicht. Die Zeit von 1835 bis zum Ausbruch des Krieges blieb fast unausgenutzt. Nur 979 Werst (= 1044 km) wurden während der Regierungszeit Zar Nicolais I., davon 954 Werst (= 1018 km) für Rechnung des Staates, erbaut, nämlich:[256]


Russische Eisenbahnen

Es war aber immerhin der Anfang gemacht und dabei gleich die wichtigste Bahn des Reiches, die Nicolai-Bahn (s.d.), erbaut. Ihre Bedeutung lag nicht nur in der Verbindung der beiden Residenzen, sondern vor allem darin, daß sie damals und bis in die Gegenwart eine außerordentlich große Bedeutung für Handel, Industrie und Verkehr hat, denn Moskau ist bis in die neueste Zeit immer noch der Stapelplatz nicht nur für einen sehr großen Teil der Produktion des europäischen, sondern vor allem auch der ausgedehnten asiatischen Besitzungen Rußlands.

Der Krimkrieg unterbrach jegliche Bautätigkeit. Nach dem Frieden (1856) mußte Rußland auch auf wirtschaftlichem Gebiet die Folgen des unglücklichen Krieges tragen. Im Eisenbahnbau trat unter der Regierung Alexanders II. (1855–1881) dies scharf durch das Verlassen des bis dahin beschrittenen Weges des Staatseisenbahnbaues und -betriebes in die Erscheinung. Die Verhältnisse zwangen die Staatsregierung, der Privatunternehmung, dem Privatkapital das Feld zu räumen (s. weiter: Entwicklung der Privateisenbahnen im europäischen Rußland, S. 262 ff.). Diese private Bautätigkeit erfuhr allerdings in gewissem Sinne eine kurze Unterbrechung infolge davon, daß einzelne Gesellschaften, die den Bau wichtiger und großer Linien übernommen hatten, die eingegangenen Verpflichtungen schon bei Begründung der Gesellschaften (Beschaffung des Kapitals) nicht erfüllen konnten oder denen während der Bauausführung selbst die Mittel zur Durchführung des übernommenen Baues ausgingen. Wollte der Staat nicht auf halbem Wege stehen bleiben, so mußte er Sich entschließen, selbst Hand ans Werk zu legen. Das geschah, und so entstanden mitten in diesem Zeitabschnitt die Bahnen Odessa-Kiew, Moskau-Orel-Kursk u.s.w. (s. Tabelle I, S. 272 u. 273). Durch dieses Vorgehen wurde zeitweilig die Anzahl der staatlich erbauten und verwalteten Bahnen erheblich gesteigert. Aber schon 1871 waren auch diese Bahnen bereits wieder in den Besitz von Privatbahngesellschaften durch Verkauf gekommen und damit der Grundsatz, der Bahnbau solle der Privatunternehmung vorbehalten bleiben, wieder zur vollen Geltung gekommen. Der Bau der Privatbahnen war aber keineswegs unterbrochen, vielmehr war er sehr lebhaft (s. Tabelle I, S. 272 u. 273), bis unerwartet 1877 der Orientkrieg ausbrach. Nun kam es darauf an, daß die Bahnen den Beweis erbringen sollten, daß sie dem Land die großen Dienste zu leisten vermochten, die von ihnen erwartet werden mußten. Die Tatsachen sprachen gegen den Privatbahnbetrieb. Die Zerrissenheit des europäischen Eisenbahnnetzes erschwerte eine einheitliche, schnelle Durchführung im Krieg notwendig gewordener Maßnahmen sehr erheblich, wodurch die Schlagfertigkeit der Armee litt. Das wurde natürlich vom Kaiser schwer empfunden. Dazu kam ein weiteres Ereignis.

Im Jahre 1876 hatte Alexander II. dem Grafen Baranow den Auftrag erteilt, das Eisenbahnwesen Rußlands gründlich zu erforschen, festzustellen, ob die vielen Anschuldigungen berechtigt seien, Vorschläge zu machen, wie vorhandenen Mißständen entgegengetreten werden könne, zu ermitteln, ob die Eisenbahnen dem Handel und der Industrie den erwarteten Nutzen brächten, ob sie durch Wettbewerb einander Schaden zufügten, der schließlich durch den Staat ausgeglichen werden müßte, ob der Getreidehandel durch sie die dringend notwendige Förderung erfahre, ob die gegenwärtige Privateisenbahn Wirtschaft ohne Bedenken beibehalten werden könne, wie das Eisenbahnnetz weiter auszubauen wäre u.s.w. Kurz, Graf Baranow, eine der nächsten Vertrauenspersonen des Kaisers, sollte das gesamte Eisenbahnwesen prüfen und sein Urteil unmittelbar dem Kaiser vortragen. Die umfangreiche Aufgabe sollte Graf Baranow mit Hilfe der Allerhöchst niedergesetzten Kommission zur Erforschung des gesamten Eisenbahnwesens Rußlands lösen.

Aus dem Befehl der Einsetzung der Kommission ging klar hervor, daß Alexander II. einen ungeschminkten Bericht über den Zustand des Eisenbahnwesens zu erhalten wünschte. Und der Graf Baranow, evangelisch und deutscher Balte, war der Mann diesen Wunsch erfüllen zu können. Die Arbeiten der Kommission fanden allerdings erst unter der Regierung Alexanders III. am Tage der Bestätigung des »Allgemeinen Statuts für die russischen Eisenbahnen« am 12. August 1885 ihren Abschluß, aber Alexander II. hat in regelmäßigen Zeitabschnitten über den Fortgang der Arbeiten und das Ergebnis der Untersuchungen Berichte[257] erhalten, die ihn erkennen ließen, daß die Eisenbahnen, wie sie damals von den Gesellschaften verwaltet und betrieben wurden, dem Land nicht in dem Sinn dienstbar waren, als das unbedingt für eine gesunde Entwicklung von Handel, Industrie und namentlich der Landwirtschaft notwendig ist. Dies bewies all das Durcheinander der Wettbewerbsverhältnisse mit den unerhörten Tarifunterbietungen, die Rechtlosigkeit der Versender gegenüber den Eisenbahnverwaltungen, die selbst, ohne Mitwirkung der Aufsichtsbehörde, ihre Transportbedingungen festsetzten, wobei sie eigenbeliebig die Verantwortung abgrenzten, ebenso auch das gesetzlich ganz und gar nicht geordnete Verhältnis zum Staat, der vielen Gesellschaften gegenüber wohl die Pflicht hatte, die garantierten Zinsbeträge zur Verfügung zu stellen, aber nicht das Recht genoß, das Budget durchzusehen und zu bestätigen.

Der Einblick, den Alexander II. aus den Berichten des Grafen Baranow gewann, mag nicht wenig dazu beigetragen haben, daß er sein Ohr Vorschlägen öffnete, die geeignet erschienen, bessere Verhältnisse zu schaffen. Dazu war es vor allen Dingen unerläßlich, daß die Beziehungen der Eisenbahngesellschaften zum Staat und zu Handel und Industrie eine feste, gesetzliche Regelung erhielten. Es war denn auch das wichtigste Ergebnis der Kommissionsarbeiten, daß ein Entwurf zu einem Eisenbahngesetz ausgearbeitet und vorgelegt werden konnte. Wie nun auch dieses Ges. vom 12. Juni 1885 ausgefallen sein mag, und die Folgezeit hat gelehrt, daß seine Fassung nach Inhalt und Form viele Änderungen erfahren mußte, eine Folge hat es aber trotz aller Mängel gehabt, es schuf klare Verhältnisse und schaltete die bis dahin blühende Willkürwirtschaft der Eisenbahngesellschaften aus. Auch in organisatorischer Beziehung griff das Gesetz durch die ihm vorausgeschickte »Verordnung über den Eisenbahn-Rat«, der neu geschaffen wurde und dem wichtige Obliegenheiten übertragen wurden, sehr einschneidend in die bisherige Ordnung der Dinge ein.

So war es immer klarer geworden, daß die Eisenbahnen mehr gesetzlich geregelt und vom Staat beaufsichtigt werden müßten; es war nur noch ein weiterer Schritt zu der Auffassung, daß am geeignetsten die Eisenbahnen vom Staat selbst zu verwalten seien.

Daß dieses Abschwenken von dem bisherigen Weg nur nach sehr sorgsamen Erwägungen und unter dem Druck der obwaltenden Verhältnisse zu stände gekommen ist, darf ohneweiters angenommen werden. Dieser Druck wurde hier sehr verschärft durch die außerordentlich hohen Garantiezahlungen (s. Finanzierung, S. 267), nicht minder durch den wirtschaftlichen Wettbewerb unter den Privatbahngesellschaften. Zwischen der Erkenntnis der Notwendigkeit, die alte Übung verlassen zu müssen, und dem tatsächlichen Beschreiten des neuen Weges lag natürlich eine geraume Zeit. Zunächst wurde durch Gesetz (1873) für die sich neubildenden Gesellschaften eine stramme Beaufsichtigung und Kontrolle eingeführt, ferner bestimmt, daß alle Vorarbeiten zu Neubauten von der Regierung auszuführen sind, daß die Bahnen in Zukunft entweder vom Staat selbst oder unter seiner Aufsicht von Gesellschaften erbaut werden sollen und daß in der Direktion jeder Gesellschaft Vertreter der Regierung als Direktoren bestellt sein müssen. Diese Bestimmungen konnten nur für die Zukunft wirksam werden, soweit neue Satzungen zu genehmigen waren. Es war durch dieses Gesetz aber anerkannt, daß die bisher geübte Praxis den Gesellschaften zu weitgehende Vollmachten gegeben hatte. War es der Finanzverwaltung anfänglich nur möglich geworden, unter großen Opfern an Geld und unter Gewährung weitgehender Freiheiten und Vollmachten an die Gesellschaften den Bau der dringend notwendigen Bahnen zu ermöglichen, so hatten sich inzwischen die Verhältnisse zu gunsten der Regierung so weit geändert, daß die Rückkehr zu dem verlassenen Staatsbahnsystem in erreichbare Nähe gerückt schien. Aber trotz alledem konnte die Regierung doch erst 1881 zu dem Versuch schreiten, selbst wieder den Bau von Bahnen in die Hand zu nehmen. Kaiser Alexander II. hat noch den Bau der Baskuntschak- und der West-Donez-(Kriworog-) Bahnen als Staatsbahnen genehmigt (1881). Das hierbei erzielte günstige finanzielle Ergebnis war dann maßgebend dafür, daß die Regierung auf diesem Weg weiterging. Von jetzt ab wurde der Bau durch den Staat vorerst die Regel.

Fast gleichzeitig entschloß sich dann die Regierung dazu, noch einen Schritt weiter zu gehen und den Erwerb der Privatbahnen in geeigneten Fällen in die Wege zu leiten (1881). Einen solchen Fall bot die Charkow-Nikolajew-Bahn, die wirtschaftlich sehr schlecht stand und deren Aktien sich bereits zu 4/5 im Besitz des Staates befanden. Damit schloß die Regierungszeit Kaiser Alexanders II.

Wenn man noch hinzunimmt, was während dieser Regierung auf dem Gebiet des Ausbaues eines asiatischen Eisenbahnnetzes vorbereitend (s. Eisenbahnbau im asiatischen Rußland, S. 267) geschehen ist, und sich dabei vergegenwärtigt, daß 1881 rd. 21.543 Werst (= 22.986 km) im[258] Betrieb, daß hiervon nur 979 Werst (= 1046 km) bei Antritt der Regierung durch Alexander II. vorhanden waren und daß das verhältnismäßig große Eisenbahnnetz unter außerordentlich schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen dem Land geschaffen worden ist, so gewinnt die Regierungszeit Alexanders II. eine große Bedeutung für die Ausgestaltung des Eisenbahnnetzes. Alexander II. ist stets der Ansicht gewesen und hat diese entschieden vertreten, daß die Eisenbahnen namentlich für die Verteidigung des Landes eine so außerordentlich wichtige, maßgebende Rolle spielen, daß sie dem ausschließlichen Einfluß der Staatsregierung vorbehalten bleiben müssen. Es ist auch der Kaiser gewesen, der persönlich die Aufnahme der Bestimmung über das Ankaufsrecht (in der Regel 20 Jahre nach der Betriebseröffnung) des Staates in die Satzungen der Eisenbahngesellschaften veranlaßte. Die Erfahrungen, die Rußland im Kriege 1877/78 mit den Privatbahnen gemacht hatte, waren nur eine Bestätigung für die Auffassung des Kaisers. Daher lieh er gerne den Vorschlägen, die auf eine allmähliche staatliche Bau- und Betriebsleitung abzielten, sein ganz besonderes Interesse. Seit 1873 wurde bei den neubegründeten Gesellschaften eine ziemlich strenge Kontrolle ausgeübt, die jedoch auf die Finanzgebarungen beschränkt war. Der Betrieb und die Entfaltung der Leistungsfähigkeit der Bahnen, namentlich auch für den Kriegsfall, waren außerhalb dieser staatlichen Kontrolle geblieben. Das rächte sich bitter. Fehlten im Krimkrieg Eisenbahnen überhaupt und verblutete Rußland zum größten Teil deswegen auf den Schlachtfeldern der Krim, so war es im Orientkrieg das Versagen der vorhandenen Bahnen. Rußland konnte trotz der großen Opfer an Geld nicht die Früchte einheimsen, weil ihm der ausschließliche Einfluß auf die Bahnen fehlte, der notwendig ist, um uneingeschränkt seinen Willen in einer Zeit zur Geltung zu bringen, in der nur ein Wille maßgebend sein darf. Hatte Rußland aus dem Krimkrieg die Lehre gezogen, daß die Sicherheit des Landes Eisenbahnen bedarf und hatte es infolgedessen rüstig gebaut, so mußte es im Orientkrieg sehen, daß der Weg, den es gegangen war, nicht zum Ziel führte. Deswegen hat Alexander II. die Anregung zum Erwerb der Privatbahnen schnell aufgegriffen. Er gab der Bewegung noch die Richtung.

Am 1. März 1881 trat Zar Alexander III. die Regierung an und damit beginnt der dritte Abschnitt (1881–1894, s. Tabelle II, S. 275). Das Charakteristische dieses Zeitabschnitts ist die schnell fortschreitende Verstaatlichung der Privatbahngesellschaften. Mit 32.951 Werst (gleich 35.159 km) schloß der Bestand dieses Abschnitts der Geschichte der Entwicklung der Eisenbahnen Rußlands ab. Davon waren 16.920 Werst (= 18.053 km) oder 54∙8% bis zum Jahre 1894 bereits in das Eigentum des Staates übergegangen (s. Tabelle II). Verstaatlicht wurden:

1881: Charkow-Nikolajew (7941);

1882: Koslow-Ssaratow (444);

1885: Murom (107), Putilow (30);

1887: Ural (671);

1888: Rjäshsk-Morschansk (127);

1889: Transkaukasus (994), Morschansk-Ssysran (499), Rjäshsk-Wjäsma (655);

1891: Kursk-Charkow-Asow (231), Libau-Romny (1227), Riga-Tuckum (55);

1892: Warschau-Terespol (220), Orel-Grjäsi (290);

1893: Donez (546), Moskau-Kursk (513), Orenburg (160), Baltische (581);

1894: Losowo-Ssewastopol (46), Moskau-Nishegorod (455), Nicolai (628), Dwinsk-Witebsk (246), Mitau (125), Orel-Witebsk (528), Riga-Dwinsk (234), St. Petersburg-Warschau (1218), Nowotorshok (127).

Neben dieser Verstaatlichungsbewegung trat der staatliche Ausbau des Eisenbahnnetzes ganz erheblich zurück, namentlich seitdem Wyschnegradski das Finanzministerium leitete (s. Finanzierung, S. 267). Das Ergebnis war denn auch, daß in den Jahren 1888–1891 im ganzen 311 Werst für Rechnung des Staates, dagegen 1049 Werst von Privatgesellschaften gebaut wurden.

In diese Zeit fällt dann ferner als Leistung des Staates der Beginn der Vorarbeiten für den Bau der sibirischen und Ussuribahnen sowie der Ausbau der Mittelasiatischen Bahn (s. Asiatische Bahnen, S. 267).

Nun hatte der Finanzminister Wyschnegradski aber keineswegs die Absicht, den Ausbau des Eisenbahnnetzes zu unterdrücken oder überhaupt auch nur erheblich einzuschränken, es sollte nur der Kredit des Staates vorerst nicht belastet werden. Das zu erreichen, wählte er den Weg, Gesellschaften, deren Unternehmen gut geleitet wurden und dabei reiche Überschüsse erzielten, zu veranlassen, ihr Unternehmen nach Wunsch der Regierung zu vergrößern (s. Geschichte der Privateisenbahnen im europäischen Rußland, S. 262). Neben der Möglichkeit, auf diesem Weg das Eisenbahnnetz[259] weiter auszubauen, sollte aber auch eine Verringerung der Verwaltungskosten erreicht werden.

Dieser wichtige Gesichtspunkt sollte nun auch auf die Verwaltung der Staatseisenbahnen angewendet werden. Das führte dazu, größere Gruppen von Staatseisenbahnen zu bilden. So entstanden im europäischen Rußland 16 Staatseisenbahnverwaltungsbezirke, die unter einheitlicher Leitung standen.


Russische Eisenbahnen

In diesem dritten Abschnitt wurde auch der Eisenbahnbau in Asien in Angriff genommen. Es galt für die Regierung Alexanders III. vor allem, die großen Vorarbeiten zum Abschluß zu bringen, um die Linienführung für die große Sibirische und Ussuri-Eisenbahn festzulegen. In diesen Zeitabschnitt fällt auch schon der Beginn des Baues der Ussuribahn (1891)2 und die Fortsetzung des Baues der Mittelasiatischen Bahn3.

Damit beginnt bereits der letzte Abschnitt der Geschichte der Eisenbahnen Rußlands, der mit dem Regierungsantritt des gegenwärtigen Herrschers Nicolai II. (1894) zusammenfällt. Auch während dieser letzten Zeit ist mit der Verstaatlichung weiter fortgefahren worden (s. Tabelle III, S. 276 u. 277). Hierher gehören die Bahnen:

1895: Borowitschi (294), Südwest (2943);

1896: Alexander (früher Moskau-Brest) (1038);

1897: Weichsel (520), Fastow (336), Obojan (30);

1900: Iwangorod-Dombrowo (460), Moskau-Jaroslawl-Archangelsk (1591);

1902: Schuisko-Iwanowo (225);

1912: Warschau-Wien (708).

Die Verstaatlichung hat damit alle Bahnen umfaßt, die zu den Grenzen des Reiches führten oder in den Grenzgebieten lagen, d.h. also alle Bahnen, die bei der Verteidigung des Reiches in erster Reihe in Frage kommen könnten.

Dieser Abschnitt ist besonders gekennzeichnet durch die lebhafte Betätigung des Staates in Asien. Die Regierung Nicolais II. hat großangelegte Pläne seines Vorgängers ausgeführt.

Neben der Bautätigkeit in Asien war die in Europa erheblich ins Hintertreffen geraten. In dem Zeitabschnitt von 1908–1914 sind nur 923, d.h. durchschnittlich 92 Werst Staatsbahnen für den Betrieb eröffnet worden. Gerade diese Rückwirkung der großen Unternehmungen in Asien war einer von den Gründen, die den Grafen Witte veranlaßten, gegen den Bau der Amurbahn seine Stimme abzugeben. Er sah voraus, daß der Ausbau des Staatsbahnnetzes in Europa hierunter leiden müsse, weil die wirtschaftliche Kraft des Landes an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt war. Sieht man aber auch ab von der Zeit, in der der staatliche Eisenbahnbau in Europa ganz besonders darniederlag, und berücksichtigt man die ganze Regierungszeit Nicolais II., so ist das Ergebnis namentlich insoferne kein erheblich anderes, als da, wo im europäischen Rußland der Staatsbahnbau lebhaftere Förderung fand, dies in engem Anschluß und mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des asiatischen Verkehrs stand. So findet man, daß von den staatlichen Eisenbahngruppen die


Nordbahn-Gruppeum 2221 Werst(= 2370 km)
Permbahn-Gruppeum 1323 Werst(= 1412 km)
Nicolaibahn-Gruppeum 1065 Werst(= 1136 km)

angewachsen sind (s. Tabelle III, S. 276 u. 277).

Sonst wurde die

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Südbahn-Gruppeum 667 Werst(= 712 km)
Südwestbahn-Gruppeum 517 Werst(= 662 km)
Jekatherinenbahn-Gruppeum 496 Werst(= 529 km)
Weichselbahn-Gruppeum 459 Werst(= 490 km)

ausgebaut, der dann noch übrigbleibende Teil der Staatsbahngruppen bewegt sich in ganz engen Grenzen. Auch aus dieser Gegenüberstellung geht klar hervor, daß die ganze Bautätigkeit des Staates darauf gerichtet gewesen ist, im Anschluß an die großen asiatischen Unternehmungen und dem größeren Zufluß von Waren nach Europa die Wege zu ebnen. Da neben, aber in großem Abstand, hat dann noch das Westgebiet des Reiches einige Berücksichtigung gefunden.

In diesen Zeitabschnitt fällt noch die Erbauung von 3 Wolgabrücken. Bis zum unglücklichen Krieg mit Japan bestand nur eine feste Brücke bei Ssamara (Batracki) über den Strom, obgleich bereits damals das westliche Ufer der Wolga an 12 Stellen von Eisenbahnen erreicht wurde. Der Krieg mit Japan zeigte Rußland die große Gefahr, die hierin lag, und es wurden seitdem 3 Brücken erbaut: bei Jaroslawl (1913), Swijashsk (1913), Ssimbirsk (1915).

Wie ein roter Faden zieht sich durch die ganze Entwicklungsgeschichte der russischen Bahnen der treibende Einfluß der Erfahrungen aus den kriegerischen Ereignissen. Obgleich ohne Zaudern die Folgerungen aus diesen meist sehr trüben Erfahrungen gezogen worden sind, hat der gegenwärtige Krieg doch wieder tiefgehende Unvollkommenheiten aufgedeckt. Namentlich in bezug auf die Versorgung der Bevölkerung sind die Mängel scharf zutage getreten.

Ganz so schwer lastete die Unzulänglichkeit der dem Land zur Verfügung stehenden Eisenbahnen im Frieden auf Handel und Verkehr nicht, aber es ist auch hier wie ein roter Faden durch die Geschichte der Eisenbahnen im Dienste der friedlichen Entwicklung des Landes zu verfolgen, daß diese mit ihren Anforderungen und Bedürfnissen immer der Leistungsmöglichkeit jener vorausgeeilt ist. Das zeigte sich in jedem Herbst, sobald die Ernte auf den Markt kam, bei der Versorgung des Landes mit Heizmaterial (Steinkohlen, Naphtharückständen u.s.w.) oder wenn der Handel mit Rücksicht auf den bevorstehenden Schluß der Schiffahrt größere als die Durchschnittsleistungen beanspruchte.


2. Im asiatischen Rußland.


Die Expansionspolitik, die Rußland in Asien seit fast 300 Jahren befolgt, die riesenhafte Ländergebiete unter seine Botmäßigkeit gebracht hat, ist von Anbeginn an von dem Streben begleitet gewesen, Wege zu bauen, um die Neuerwerbungen nicht nur verteidigen, sondern auch besiedeln zu können. Im Laufe der vielen Jahre russischer Herrschaft sind in dem nördlichen Teil dieser weitausgedehnten Ländergebiete, die unter dem Namen »Sibirien« politisch zusammengefaßt werden, 3 große Wegverbindungen erbaut worden: 1. Der »große sibirische Trakt« von Tjumen über Tomsk-Krasnojarsk nach Nishneudinsk. Von hier aus führt ein Weg weiter nach Kjächta, ein zweiter zum Baikalsee und über Srjetensk-Chabarowsk nach Wladiwostok und Nikolajewsk; 2. der »Tschuisker Trakt« von Biisk nach Kobdo und Uljässutai; 3. der »Buchtarminsker Trakt« von Ssemipalatinsk nach Kobdo, bereits in China gelegen. Auch bei den allerbescheidensten Ansprüchen war das für einen zusammenhängenden Länderkomplex von 14,246.622 km2 mehr als zu wenig, auch wenn man erwägt, daß der große sibirische Trakt, etwa 5000 km lang, Sibirien von Westen nach Osten durchzieht. Dieser Zustand ließ sich nur so lange aufrecht erhalten, als die Sicherheit unbestritten vorhanden war, daß der Besitzstand unter den gegebenen Verhältnissen von den Nachbarn nicht angetastet werden würde. Diese Sicherheit war aber nicht mehr vorhanden, als Japan mehr und mehr seine politische und wirtschaftliche Stellung am Stillen Ozean zu heben bemüht war. Dazu kam, daß Rußland bestrebt sein mußte, sein überschüssiges Menschenmaterial anzusiedeln, wozu Sibiriens weite Ländereigebiete den erforderlichen Grund und Boden zur Verfügung stellen konnten. Um diese Aufgaben durchführen zu können, schritt Rußland zum Bau.

Der Anfang wurde mit dem Bau der Ussuribahn – 1897 eröffnet – gemacht.

1. Die Ussuribahn: Wladiwostok-Chabarowsk 1891–1897;

2. die westsibirische Bahn: Tscheljäbinsk-Irkutsk 1892–1896;

3. die Transbaikalbahn: Myssowaja-Srjetensk 1895–1900;

4. die Baikal-Umgehungsbahn: Baikal-Osero-Myssowaja 1902–1904.

Im einzelnen siehe: Sibirische Bahn.

5. die Amurbahn: Srjetensk-Chabarowsk.

Im einzelnen siehe: Amurbahn, Bd. I, S. 147.

6. Endlich war die Mittelasiatische Bahn bereits 1879 in Angriff genommen, 1914 umfaßte sie 2395 Werst (= 2555 km).

Im einzelnen siehe: Mittelasiatische Bahn, Bd. VII, S. 296.[261]


b) Geschichte der Privateisenbahnen.


1. Im europäischen Rußland.


Den Anfang im Eisenbahnbau Rußlands machte, wie schon erwähnt, die kleine Bahn Petersburg über Zarskoje Sselo nach Pawlowsk 25 Werst (= 27 km), deren Bauausführung der Kaiser Nicolai I. am 17. Dezember 1835 genehmigte. Dieser Bahnbau sollte nur ein Versuch sein, ob dieses neue Verkehrsmittel unter den klimatischen Verhältnissen Rußlands überhaupt verwendbar sei. Es gelang den Bau auszuführen und ebenso den Betrieb anstandslos in Gang zu bringen. So war es geglückt, trotz aller Widerstände und großer Schwierigkeit das erste Privateisenbahnunternehmen ins Leben zu rufen. Allerdings war es nicht geglückt, ganz ohne staatliche Hilfe durchzukommen, immerhin war es im wesentlichen gelungen. Dieser Anfang stellte aber auch gleichzeitig für lange Zeit das Ende der Beteiligung des privaten Kapitals beim Bau der Eisenbahnen in Rußland dar. 20 Jahre lang war es nicht möglich gewesen, die Privatunternehmung für den Bau von Bahnen heranzuziehen. Die Bemühungen in dieser Richtung scheiterten, vielleicht auch deshalb, weil die Baupläne allzu weittragend waren. Die Staatsregierung nahm daher zunächst den Bau von Bahnen selbst in die Hand und erst nach Beendigung des Krimkrieges (1856) gelang es, das Privatkapital wieder für den Ausbau des Eisenbahnnetzes heranzuziehen. Es bildete sich unter Führung einer St. Petersburger Finanzgruppe, unterstützt von holländischen, französischen und englischen Bankhäusern, eine Gesellschaft, der die Konzession zum Bau eines größeren Eisenbahnnetzes erteilt wurde und die den Namen: Hauptgesellschaft der russischen Eisenbahnen (später nannte sie sich: Große Gesellschaft u.s.w. 1857)5 annahm. Sie sollte folgende Bahnen erbauen:

a) St. Petersburg-Warschau, nebst Zweigbahn Wilna-Wirballen;

b) Moskau-Tula-Orel-Kursk-Charkow-Feodossia;

c) Kursk oder Orel über Witebsk-Dünaburg-Libau;

d) Moskau-Nishni-Nowgorod, im ganzen 3900 Werst (= 4161 km).

Die Bedingungen dieser Konzession sind für die gesamte Entwicklung des Eisenbahnwesens in Rußland von außerordentlicher Bedeutung geworden, denn hier sind die Grundsätze festgelegt worden, nach denen in den folgenden beiden Jahrzehnten ausschließlich verfahren wurde. Die Dauer der Konzession währt 85 Jahre; 20 Jahre nach der Betriebseröffnung hatte die Staatsregierung das Recht, die Bahn anzukaufen; die Zinsgarantie einschließlich der Tilgung des Kapitals wurde auf 5% festgesetzt; die Höhe der Ankaufssumme sollte derart gefunden werden, daß aus den letzten 7 Betriebsjahren die 5, die die besten Betriebsergebnisse hatten, ausgewählt wurden, der Durchschnitt der Einnahme dieser Jahre sollte dann den Maßstab für die Berechnung der Höhe des Entschädigungsbetrags abgeben. Die wirtschaftlich wichtigsten Bestimmungen waren die Zusicherung des Rechtes der freien Tariffestsetzung, die nur durch eine obere Grenze beschränkt wurde, und der Verzicht der Regierung auf Einmischung in die wirtschaftlichen Gebarungen der Gesellschaften. Diese außerordentlichen Freiheiten erleichterten die Heranziehung des Privatkapitals, worauf es natürlich zunächst ankam. Allerdings kam der Plan mit der »Großen Gesellschaft der russischen Eisenbahnen« in der Form, wie er geschildert worden ist, niemals ganz zur Durchführung. Nur der leitende Gedanke: Moskau soll der Mittelpunkt des Eisenbahnnetzes werden, ist erhalten geblieben und auch allmählich verwirklicht. Ist dies ein Teil der Absichten des Kaisers, so bezog sich der andere Teil darauf, daß um die Mitte der Sechzigerjahre bereits ein Eisenbahnnetz vorhanden sein sollte, das den wirtschaftlichen und militärischen Bedürfnissen des Landes möglichst genüge (s. Tabelle I, S. 272 u. 273).

Wie die Tabelle zeigt, ist es nicht möglich gewesen, den Wunsch des Kaisers zu erfüllen. Die Frist war zu kurz bemessen, die wirtschaftliche Kraft des Landes zu sehr erschöpft. Immerhin verfügte Rußland um die Mitte der Sechzigerjahre bereits über 3570 Werst (= 3809 km) Eisenbahnen.

Aber die Tabelle zeigt auch weiter, daß während der Regierung Alexanders II. sehr eifrig an dem Ausbau des Eisenbahnnetzes gearbeitet wurde, bis dann nach dem Krieg mit der Türkei (1877/78) die Arbeit wieder fast ganz stockte. Wenn auch infolgedessen in den letzten 3 Regierungsjahren Alexanders II. nur wenige Werst für den Betrieb eröffnet wurden, so bleibt diese Regierungszeit doch für das wirtschaftliche Leben des Volkes von der allergrößten Bedeutung. Es waren 21.543 Werst (= 22.986 km) Eisenbahnen für den Betrieb (s. Tabelle I) eröffnet worden.

Bei dieser sehr erheblichen Leistung des Landes sind bestimmte Richtlinien für die Linienführung fast nie verlassen worden, obgleich[262] in der mehr als 25jährigen Regierung die leitenden Männer mehrfach gewechselt haben. Der Kaiser, der sich wiederholt Vorschläge über den Ausbau des Eisenbahnnetzes ausarbeiten ließ, blieb in den Hauptpunkten des von ihm gebilligten allgemeinen Programms fest. Hiernach sollte, neben der zentralen Bedeutung Moskaus, an folgenden 3 Gesichtspunkten festgehalten werden:

1. Erreichung der westlichen Landesgrenze. Es geschah das bei: Wirballen (1861), Alexandrow (1862), Wolotschisk (1871), Grajewo (1873), Radsiwilow (1874), Ungeni (1875), Mlawa (1877), Reni (1877).

2. Erreichung des Wolgastroms, als der größten Verkehrsstraße des Landes, und dessen Verbindung mit den Hafenplätzen an der Ostsee: St. Petersburg, Riga, Reval. Der Wolgastrom wurde erreicht bei: Nishni-Nowgorod (1862), Rybinsk (1870), Jaroslawl (1870), Ssaratow (1870), Kineschma (1871), Zarizyn (1871), Ssamara (1877), Ssysran (1877).

3. Erreichung des Asowschen und des Schwarzen Meeres, um dem fruchtreichen, süd- und mittelrussischen Steppengebiet Zugang zum Meer zu schaffen. Es geschah das bei: Odessa (1865), Rostow a. D. (1869), Taganrog (1869), Nikolajew (1873), Ssewastopol (1875).

Bei der Ausführung ist im großen und ganzen auf die Herstellung der kürzesten Verbindung Bedacht genommen worden, was man leicht erkennt, wenn man die Eisenbahnkarte vom Anfang des Jahres 1881 zur Hand nimmt. Alle diese Tatsachen sprechen dafür, daß beim Ausbau des europäischen Schienennetzes ein klares Bild von der Notwendigkeit der Erfüllung ganz bestimmter Forderungen vorschwebte. Von einem Zufall bei der Auswahl dieser Verbindungen kann, soweit die großen Bahnverbindungen in Frage kommen, gerechterweise nicht die Rede sein.

Dieser zweite Abschnitt in der Entwicklungsgeschichte des europäischen Eisenbahnnetzes Rußlands mit seiner ausschließlichen Begünstigung des Privatbahnbaues hatte das Werk Nicolais I., Staatseisenbahnen zu bauen, nicht nur nicht weiter ausgestaltet, sondern die wirtschaftlichen Verhältnisse hatten einen so gewaltigen Druck ausgeübt, daß die vorhandenen Staatsbahnen (954 Werst) sogar der Privatunternehmung abgetreten wurden. Die Nicolai-Bahn (1868)6 und ebenso die kurze Strecke Petersburg-Gatschina (45 Werst, 1857) wurden an die »Große Gesellschaft der russischen Eisenbahnen« verkauft, während die Warschau-Wiener Bahn7 an eine Privatgesellschaft verpachtet wurde (1857). Namentlich der Verkauf der Nicolai-Bahn war ein sehr wichtiger und aus finanzpolitischen Erwägungen ein ebenso richtig gewählter Schritt, denn dadurch wurden Mittel beschafft, um auf dem beschrittenen Weg, die Privatunternehmung zu unterstützen, weiter vorgehen zu können8.

Aber auch die Verpachtung der Warschau-Wiener Bahn wirkte zur Verbesserung der finanziellen Lage wesentlich mit. Es war eine Befreiung von drückender Last, als es gelang für die Bahn eine leistungsfähige Gesellschaft zu finden (1857), die sie in Pacht übernahm. Die Tabelle I (S. 272 u. 273) zeigt deutlich, wie richtig die Mittel gewählt waren, um die Bautätigkeit zu fördern. Erst als sich unerwartet drohende Wolken über dem Balkan zusammenzogen, mußten alle verfügbaren Mittel geschont werden, um für einen möglichen Krieg bereitgehalten zu werden.

Der Krieg brach am 12./24. April 1877 los und währte bis zum 31. Januar/12. Februar 1878. Wenn er auch siegreich beendet worden ist, so hatte er in bezug auf die Eisenbahnen doch mancherlei Bedenken wachgerufen. Schon vor seinem Beginn waren dem Kaiser in einem Bericht die unzureichende Leistungsfähigkeit und die hohen, in der Zersplitterung des Eisenbahnnetzes begründeten Verwaltungskosten vorgetragen worden. Dieser Bericht über das Jahr 1876 weist bereits darauf hin, daß die vorhandenen rd. 18.000 Werst Eisenbahnen unter 43 Gesellschaften verteilt sind, die, jede nur auf ihren Vorteil bedacht, in einen sehr lebhaften Wettbewerb untereinander treten und dabei die Wirtschaftlichkeit im allgemeinen außer acht lassen. Dazu kommt die Behinderung in der schnellen Durchführung des Betriebs, weil jede dieser Bahnen an ihrem Anfangs- und Endpunkt ein förmliches Übergabe- und Übernahmeverfahren der beladenen und leeren Wagen durchführte.

Der Bericht gibt dann dem Gedanken Ausdruck, daß eine Besserung dieser Verhältnisse erreichbar wäre durch Vereinigung mehrerer Bahnen und Bildung großer Gruppen. Der Kaiser, der stets ein ganz besonderes Interesse dem Eisenbahnwesen entgegenbrachte, schrieb an den Rand des Berichts, daß dies außerordentlich wünschenswert wäre. Damit war der Weg für die weitere Entwicklung vorgezeichnet, aber auch die Erfahrungen, die während des Krieges 1877/78 gemacht worden waren, trieben zu einer Änderung der bestehenden Verhältnisse.[263]

Daraus kann nicht gefolgert werden, daß die Wege, die bislang gegangen worden sind, falsche waren. Es muß vielmehr hervorgehoben werden, daß die Leistungen der Finanzverwaltung, unter Führung des Staatssekretärs v. Reutern, geradezu glänzende waren, wenn man berücksichtigt, daß das Land nach Beendigung des Krimkrieges (1856) wirtschaftlich gänzlich darniederlag, daß es in dieser Beziehung erst gehoben werden mußte, um die nächsten Folgen des schweren Krieges zu überwinden, und daß es trotzdem die Mittel sicherzustellen vermochte, um rd. 20.000 Werst Eisenbahnen zu bauen. Trotz dieses günstigen Erfolges in der Entwicklung des Eisenbahnnetzes, das am Schluß der Regierungszeit Alexanders II. (1881) fast ausschließlich aus Privatbahnen bestand (s. Tabelle I, S. 272 u. 273), führten die Erfahrungen des Orientkrieges (1877/78) dazu, die Mitwirkung der Eisenbahngesellschaften beim Ausbau des Netzes zum größeren Teil weiterhin auszuschalten, denn sie hatten nicht den Erwartungen beim Kriegsbetrieb entsprochen. Die Regierungszeit Alexanders III. wird von dieser Strömung geleitet (s. Tabelle II, S. 275). Aber schon gegen Ende 1894 mußte die Regierung wiederum eine Schwenkung zu gunsten der Privatbahnunternehmungen machen (s. I a, S. 260), um den Eisenbahnbau in Europa nicht ganz ins Stocken geraten zu lassen. Es wurde hierfür der Weg gewählt, daß bereits bestehenden Gesellschaften entweder schon im Betrieb vorhandene Bahnen angegliedert oder der Bau neuer Bahnen konzessioniert wurde. Sechs solcher Privatbahngruppen wurden gebildet. Erst gegen Ende der Regierung Alexanders III. gelang es, die Bildung solcher größerer Privatbahngruppen kräftiger zu fördern. Hiermit erstrebte man, erstens die sehr großen Verwaltungskosten, die durch die Zersplitterung entstanden, möglichst einzuschränken, sodann sollte der Ausbau des Eisenbahnnetzes unter Schonung der Staatsmittel in Europa weiter gefördert werden und endlich sollte, bei Umgestaltung der einzelnen Privatbahnen zu Gruppen, dem Staat ein größerer Gewinnanteil an den Reineinnahmen gesichert werden. Unter Einhaltung dieser Gesichtspunkte wurden die folgenden 6 Bahngruppen gebildet, deren Stammbahnen sich sowohl durch eine gute Verwaltung, als auch durch hohe Betriebseinnahmen auszeichneten. Die Entwicklung dieser Bahngruppen ergibt sich aus der nachfolgenden Aufzeichnung.

Die einzelnen Bahngruppen9 bestanden (s. Tabelle III):

Die
Stamm-189419041914
bahn
1884 war sie angewachsen auf
aus
Werst (1 Werst = 1067 m)
1. Rjäsan-Koslow-
-Uralsk 644146333344124
2. Moskau-Rjäsan-
Kasan 242108718632479
3. Wladikawkas 651122214392383
4. Moskau-Kiew-
Woronesh 504106619022569
5. Jugo-Wostotschny
(Südost)1781184522613276
6. Moskau-Windau-
Rybinsk 466 47221882467

Hiermit war wiederum von dem als richtig erkannten System der staatlichen Verwaltung der Eisenbahnen abgewichen. Aber auch dieses Mal lag ein Zwang vor, dem sich die Regierung nicht entziehen konnte. Es überstieg die wirtschaftlichen Kräfte des Landes, gleichzeitig den Ausbau des Eisenbahnnetzes in Europa und Asien zu fördern. Da beides dringend notwendig war, so entschloß sich die Regierung, den Teil des Ausbaues, für den am europäischen Geldmarkt leichter die erforderlichen Kapitalien flüssig zu machen waren, der Privatunternehmung z.T. zu überlassen, das war das europäische Eisenbahnnetz, und behielt sich selbst den Eisenbahnbau in Asien vor. Das erstrebte Ziel ist offenbar mit der Zeit erreicht worden, auch der Gewinnanteil des Staates, was immerhin am wenigsten zu erwarten war, ist in aufsteigender Reihe begriffen, denn es betrugen:


1910191119131914

in Tausenden Rubel

die Rein-
einnahmen45.64845.59254.65167.166
Davon
entfielen:
auf den Anteil
des Staates29.05829.87236.14245.666
auf den Anteil
der Aktionäre16.59015.72018.50921.500

Neben dieser Bildung größerer Privatbahngruppen sind im europäischen Rußland im Laufe der Jahre weitere 8 Privatbahngesellschaften mit zusammen 1815 Werst (= 1937 km) entstanden. Es sind das kleinere Unternehmungen, die als Ergänzung des Eisenbahnnetzes erwünscht waren, offenbar in der Absicht zugelassen wurden, sie demnächst größeren Betrieben anzugliedern.


2. Im asiatischen Rußland.


Der Anfang zum Bau von Privateisenbahnen in Asien ist in Mittelasien gemacht worden[264] und hat hier das alte Kulturland aufs neue erschlossen. Ohne Eisenbahn war es nicht mehr fähig, am Wettbewerb mit seinem wichtigsten Produktionsartikel, der Baumwolle, teilzunehmen. Nachdem der Staatseisenbahnbau bis ins Herz Mittelasiens vorgedrungen war, begann auch hier sich das Privatkapital an dem weiteren Ausbau des Eisenbahnnetzes zu beteiligen. 1914 war die Ferganabahn (85 Werst = 90 km) im Betrieb und die Zufuhrbahnen Fedtschenko (Station der Mittelasiatischen Bahn) nach Scharichan (17 Werst = 18 km), sowie die schmalspurige Bahn von Andishan (Station der Mittelasiatischen Bahn) nach Tschin-Abad (37 Werst = 39 km) waren im Bau. Gleichfalls Ende März 1914 waren zum Bau genehmigt worden der vorgenannten Fergana-Eisenbahngesellschaft die Strecken: Namangan-Dschalal-Abad, 162 Werst, Andishan-Kokan Kischlak, 19 Werst, und eine Verbindungsbahn bei Andishan, 2 Werst, zusammen 183 Werst (= 195 km); ferner der Buchara-Eisenbahngesellschaft die Strecken: Kagan (Station der Mittelasiatischen Bahn)-Karschi Termes und die Zweigbahn Karschi-Kitab, zusammen 585 Werst (= 624 km).

Außerdem beteiligte sich das Privatkapital auch an dem Eisenbahnbau in Sibirien. Hier sind die folgenden Bahnen durch Eisenbahngesellschaften im Bau begriffen:


Russische Eisenbahnen

Alle diese Eisenbahnen schließen sich eng an die vorhandenen Verkehrswege und an die Sibirische Eisenbahn an.

c) Neben- und Zufuhrbahnen. Ein kaiserlicher Ukas vom 1. April 1870 ordnete den Bau von billigeren Bahnen an, deren Zweck es sein sollte, den Hauptbahnen größere Gütermengen zuzuführen und durch die billigere Herstellung die Möglichkeit zu schaffen, eine größere Zahl Bahnen bauen zu können. Hieraus entwickelten sich: die Bahnen von örtlicher Bedeutung und demnächst die Zufuhr- oder Nährbahnen. In Rußland glaubte man dieses Ziel am besten mit Hilfe von Schmalspurbahnen erreichen zu können, beging hierbei aber den Fehler, das Zustandekommen dieser Bahnen zweiter Ordnung sowohl bei der Konzessionserteilung, als auch beim Bau und später beim Betrieb mit so viel Formalitäten zu umgeben, daß sie auch teuer wurden und sich schließlich nur noch durch die schmale Spur von einer Hauptbahn unterschieden. Die erste dieser Bahnen war die 1871 eröffnete Livnybahn. Der Staat hatte sie erbaut und auch zunächst betrieben, später verpachtet und der Pächterin die Verpflichtung auferlegt, die 65 Werst lange Bahn normalspurig auszubauen. Das ist inzwischen geschehen.

Die Erfahrungen, die mit dem Bau und Betrieb dieser Bahn gemacht wurden, waren offenbar nicht geeignet zu einem weiteren Fortschreiten auf dem eingeschlagenen Weg zu ermuntern. Der Bau der Bahnen von örtlicher Bedeutung geriet ins Stocken und wurde erst 1892 wieder aufgenommen. In sehr langsamem Fortschreiten wurden bis 1915 im ganzen 20 Bahnen mit 2183 Werst (= 2329 km) geschaffen. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, daß 1905 bereits 2056 Werst (= 2194 km) vorhanden waren, also in den letzten 10 Jahren nur 127 Werst (= 136 km) erbaut sind. Folgende Bahnen von örtlicher Bedeutung stehen in Betrieb:


Russische Eisenbahnen
Russische Eisenbahnen

[265] Es sind also 45 Jahre ins Land gegangen, um diese geringe Anzahl Werst zu erbauen. Ein deutlicher Beweis, daß die Mittel zur Förderung des Baues der Bahnen nicht richtig gewählt worden sind. Es kommt hinzu, daß am 20. April 1874 das Ministerium der Verkehrsanstalten den Plan für ein ganzes Netz solcher Bahnen ausgearbeitet und vorgelegt hatte, daß ferner wiederholt Erleichterungen für den Bau und Betrieb bewilligt worden sind, so daß die Schärfen des grundlegenden Allerhöchsten Ukases vom 1. April 1870 zum größten Teil beseitigt worden waren. Gleichwohl gelang es nicht, Nennenswertes zu erreichen.

Inzwischen war das Ges. vom 14. April 1887 über die Zufuhrbahnen, denen man in Rußland den bezeichnenden Namen Nährbahnen beilegte, ergangen. Stellte dieses sich schon auf einen wesentlich andern Standpunkt, indem namentlich auf eine möglichst freie Anpassung an die tatsächlichen Verhältnisse Wert gelegt wurde, so umgab es die Unternehmungen immer noch mit einengenden Bestimmungen, die abschreckendwirkten und ein schnelles Anwachsen der Zufuhrbahnen behinderten. Es folgte zu diesem Gesetz ein Anhang vom 8. Juni 1892: Regeln über den Bau und Betrieb von Kleinbahnen mit Dampfbetrieb, die zu den Eisenbahnen führen und zur allgemeinen Benutzung bestimmt sind. Dieser Anhang unterscheidet 3 Gruppen von normalspurigen Kleinbahnen.

I. Gruppe: Bahnen, die mit Lokomotiven und Wagen der Hauptbahnen befahren werden können;

II. Gruppe: Bahnen, die mit Wagen, aber nicht mit Lokomotiven der Hauptbahnen befahren werden können;

III. Gruppe: Bahnen mit nur eigenen Betriebsmitteln.

Hierzu sind auch leichtere Bestimmungen für die Betriebsführung erlassen. 1895 entschließt sich die Staatsregierung dazu, den Bau solcher Bahnen auch durch Geldzuschuß zu fördern, alte brauchbare Schienen und Schienenbefestigungsgegenstände kostenlos zur Verfügung zu stellen, den Bau und Betrieb für Rechnung der Privatunternehmer zu führen, wobei die Kapitalauslagen der Unternehmer durch tarifmäßig festgesetzte Abzüge von den beförderten Gütermengen allmählich zu decken sind. Auch ist diesen Bahnen ein eigener Tarif zugestanden worden, der höhere Sätze enthält, die auch je nach den Verhältnissen der einzelnen Bahnen verschieden sein können. Trotz aller dieser Anstrengungen ist es bisher nicht geglückt, einen irgendwie nennenswerten Erfolg mit dem Ausbau von Zufuhrbahnen zu erreichen. Über die hierher gehörigen Bahnen liegen amtliche Mitteilungen nur für die Jahre 1895- 902 vor, wonach


vom Staat gebaut wurden 896 Werst
von Gesellschaften oder Privatpersonen3411 Werst
zusammen 4397 Werst

von denen jedoch 2183 Werst auf Bahnen von örtlicher Bedeutung, der Rest von 2214 Werst (= 2362 km) auf Zufuhrbahnen entfallen, auf diese kommt es aber hauptsächlich an. In den 12 folgenden Jahren 1902–1913 sind nur 657 Werst (= 701 km) erbaut, so daß anscheinend das Gesetz vom 10. Juni 1905, betreffend die Förderung des Baues von Zufuhrbahnen, das weitgehende Vereinfachungen gewährleistet, bisher auch keine Änderung herbeizuführen vermocht hat.

Im Verordnungsweg sind am 2. Februar 1913 die wichtigsten Grundsätze für die Abfassung von Verträgen über den Bau und Betrieb von Zufuhrbahnen, die ausschließlich der privaten Benutzung vorbehalten sind, veröffentlicht worden. Diese Grundsätze sind aber rein formeller Art ohne sachliche Bedeutung.

Erst in den allerletzten Jahren läßt sich erkennen, daß die aufgeklärte Auffassung des Grafen Witte über den Wert der Zufuhrbahnen immer mehr Boden gewinnt, denn die Anzahl der Konzessionsgesuche für Stich-, Zufuhr- oder Nährbahnen ist tatsächlich sehr groß. Es kann wohl erwartet werden, daß Rußland auf diesem Weg bis Wiederkehr friedlicher Verhältnisse verhältnismäßig schnell dazu kommen werde, das Zufuhrgebiet der Hauptbahnen ganz erheblich zu erweitern.[266]


II. Die Finanzierung.


Einer der Gründe, die dem Kaiser Nicolai I. gegen den Bau von Eisenbahnen angeführt wurden, war der, daß Rußland gar nicht reich genug sei, um derartig kostspielige Wegbauten auszuführen. Gerade in dieser Beurteilung der Finanzkraft Rußlands mag wohl auch ein Grund dafür gefunden werden, daß der Bau der ersten Bahn, vielleicht um den Widerstand maßgebender Personen zu brechen, ohne jede vom Staat in barem Geld geleistete oder zu leistende Beihilfe in Angriff genommen worden ist. Die Regierung erteilte der Zarskoje-Sselo-Eisenbahngesellschaft (1836) nur die Genehmigung zum Bau und zum Betrieb. Allerdings gelang es nicht, mit den von den Unternehmern aufgebrachten Mitteln den Bau der Bahn zu vollenden. 1837 mußte sich der Staat doch dazu entschließen, mit einem Darlehen von 1∙5 Mill. Rubel Assignaten = 857.142 Rubel Silber und 1839 einem weiteren Darlehen von 250.000 Rubel Assignaten = 142.850 Rubel Silber zu helfen, u.zw. gegen 5% Zinsen, 1% Tilgung und gegen Verpfändung der Bahn.

Die Versuche, auch weitere Bahnen der Privatunternehmung zum Bau zu überlassen, schlugen fehl. Namentlich zogen sich die Verhandlungen (1838) über den Bau der Warschau-Wiener Bahn sehr lange hin. Da sich aber in den maßgebenden Regierungskreisen, namentlich beim Zar die Überzeugung durchgerungen hatte, daß sowohl der Bau der Warschau-Wiener Bahn als auch jener der Petersburg-Moskauer (Nicolai-) Bahn unerläßlich seien, mußte der Bau beider Bahnen aus Mitteln des Staates hergestellt werden. Waren nun auch diese beiden Bahnen zu stände gekommen, so konnte doch auf dem Wege nicht weiter gegangen werden, dazu fehlten die Mittel, besonders nach dem unglücklichen Krimkrieg. Dazu kam noch, daß die Staatsregierung sich über den geeigneten Weg, um Geld zu schaffen, nicht schlüssig werden konnte, sondern unsicher hin- und hertastete. Zunächst sollten nur Aktien ausgegeben und garantiert werden (Warschau-Wiener Bahn), u.zw. in Höhe der wirklichen Baukosten. Das glückte nicht! Darauf wählte man bei Konzessionierung der »Großen russischen Eisenbahngesellschaft« die Form, daß das gesamte Baukapital zur Hälfte aus Aktien, zur andern Hälfte aus Obligationen gebildet und mit 5% garantiert wurde (1856). Das gelang! Daneben blieb aber die Übung bestehen, das ganze Gesellschaftskapital aus Aktien zu bilden und dieses in vollem Umfang zu garantieren. Dabei wurde der Prozentsatz zunächst auf 41/2% (1861: Riga-Dünaburger Eisenbahngesellschaft u.a.) herabgesetzt. Nur dafür hatte sich die Finanzverwaltung die Zustimmung des Kaisers gesichert, daß man »zu größerer Ermutigung der Unternehmer möglichst günstige Bedingungen für die Eisenbahngesellschaften in den Konzessionen zu gewähren habe«. Auch darüber war man sich inzwischen klar geworden, daß die Form der Konzession, wie sie der »Großen Gesellschaft« erteilt worden ist, also für ein sehr großes Eisenbahnnetz, nicht weiter in Frage kommen könne, wenn man dem Land schnell Bahnen verschaffen wollte. Dazu verdiente die Bildung kleinerer Gesellschaften den Vorzug. Mit diesem Vorgehen hatte die Regierung Erfolg bei der kurzen Bahn Rjäsan-Koslow (197 Werst). Gleich im ersten Jahr nach der Betriebseröffnung brachte sie reiche Einnahme, 8% Dividende. Der Finanzminister hatte der Gesellschaft eine staatliche Garantie von 5% für das Aktien- und Obligationenkapital, dazu 1/2% Tilgung zugesagt und endlich bewilligt, daß 2/3 des Gesellschaftskapitals aus Obligationen, der Rest von 1/3 aus Aktien bestehen dürfe. Der sichtbare Erfolg mit dieser Bahn machte im Lande für die Sache des Eisenbahnbaues eine günstige Stimmung. Es gingen plötzlich von allen Seiten Angebote für den Bau verhältnismäßig kleiner Strecken ein: die Periode der Mißerfolge beim Suchen nach Konzessionären hatte ihren Abschluß gefunden. Es wurden nun die geplanten großen Schienenwege in einzelne kleinere Abschnitte zerlegt und zum Bau vergeben. So wurde z.B. die Linie Riga-Zarizyn in folgenden 5 Teilstrecken gebaut: Riga-Dünaburg (204 Werst)-Witebsk (246 Werst)-Orel (490 Werst)-Grjäsi (290 Werst)-Zarizyn (595 Werst). Solche Vorgänge fallen in die Zeit bis 1881 in sehr großer Zahl. Dabei spricht der Finanzminister dem Kaiser die Überzeugung aus, daß, sobald der Staatskredit erstarkt ist, man mit Bestimmtheit darauf rechnen dürfe, daß die Bahnen zu größeren Einheiten zusammengelegt werden. Es handelte sich bei dieser Zerstückelung eben nur um einen Weg, auf dem es möglich wurde, die erforderlichen Kapitalien für die dringend notwendigen Bahnen zu finden. Das war geglückt einerseits durch die Konzessionierung vieler kleinerer Bahnen, anderseits durch Beibehaltung der Form der Staatsgarantie unter spezieller Verpfändung der betreffenden Bahnen, zu deren Erbauung die Obligationen (sog. konsolidierte Obligationen) ausgegeben wurden. Damit war denn auch für einen längeren Zeitabschnitt eine Richtlinie gefunden, in der sich, unter Anpassung an die im Einzelfall vorliegenden besonderen Verhältnisse, die Beschaffung der Kapitalien durchführen ließ.[267] Es zeigte sich aber bald, daß, um den Zustrom an Kapitalien flüssig zu erhalten, den Gesellschaften auch noch sonstige Erleichterungen und Vorteile außer der Zinsgarantie zugestanden werden müssen, die die Aussichten auf einen größeren Gewinn, als ihr die Zinsgarantie gewährleistete, eröffneten. Hierher gehörte das Recht der freien Bestimmung der Tarifsätze, für die nur eine obere Grenze statutenmäßig festgesetzt wurde, ferner der Verzicht der Staatsregierung, sich in innere wirtschaftliche Gebarungen der Gesellschaften einzumischen. Es kam hinzu, daß die Staatsregierung Baukostenanschläge für neue Bahnen genehmigte, die offensichtlich zu hoch waren, so daß den Bauunternehmern ein reicher Gewinn zufiel. Diese Maßnahmen, die alle mit großen Opfern für den Staat verbunden waren, hatten aber die erfreuliche Folge, daß Bewerbungen um neue Eisenbahnen in großer Zahl eingingen und es gelang, ohne direkte Belastung des Staatskredits schnell die notwendigsten Eisenbahnverbindungen herzustellen.

Aber die wirtschaftlichen Erschütterungen, die der Staat überwinden mußte, waren doch gewaltige gewesen (der Krimkrieg 1853/56, der polnische Aufstand 1863) und sein Kredit war schwer erschüttert worden. Es kam das z.B. zum Ausdruck, als 1867 Obligationen der Nicolaibahn, die vom Staat mit 5% garantiert waren, zum Kurs von 61∙5% abgegeben werden mußten. Der Finanzminister – Graf Reutern – erkannte die große Gefahr, die hier drohte, wenn ihr nicht mit wirksamen Mitteln entgegengetreten wurde. Die Befürchtung lag nahe, daß, wenn hier nicht Abhilfe geschaffen würde, das Ausland das Geld zum Bau für die unerläßlich notwendigen Bahnen nur herzugeben bereit sein würde, wenn Sicherstellung, etwa durch Verpfändung besonderer Staatseinnahmen, geboten werden könnte. Trat das ein, dann war der Kredit des Landes in seinen Grundfesten erschüttert und ein weiterer Ausbau des Eisenbahnnetzes schwer gefährdet. Dies versuchte Reutern durch folgendes zu verhüten:

1. durch Schaffung eines besonderen Eisenbahnfonds, der dazu dienen sollte, der Regierung jederzeit die Möglichkeit zu sichern, ihren Verpflichtungen in bezug auf die geleistete Garantie nachzukommen. Zunächst wurden zu diesem Zweck 45 Mill. Rubel (aus dem Ertrag einer inneren Prämienanleihe) überwiesen;

2. den Gesellschaften wurde nicht mehr gestattet, selbst die für ihre Bahn bestimmten Obligationen auf den Markt zu bringen. Die Staatsregierung übernahm sie vielmehr zu einem vereinbarten festen Satz, zahlte den Gesellschaften nach Maßgabe des Fortschritts des Baues die Baugelder und brachte ihrerseits die »konsolidierten« Obligationen zu ihr geeignet erscheinender Zeit auf den Markt, um den Eisenbahnfonds, aus dem die Baugelder geflossen waren, nach Bedarf wieder aufzufüllen.

Mit Hilfe dieser finanztechnischen Maßnahme gelang es, den Kredit des Staates wieder so weit zu heben, daß nicht nur die befürchteten Forderungen der ausländischen Geldgeber nicht gestellt wurden, sondern auch daß der Kursstand der Obligationen wesentlich gehoben werden konnte (1869 76%). Aber der Barbestand des Eisenbahnfonds hatte in der Zwischenzeit eine Auffüllung über das bisherige Maß hinaus dringend notwendig gemacht. Um das ermöglichen zu können, entschloß sich die Regierung, die Nicolaibahn zu verkaufen (1868). Sie erhielt dadurch 1059 Mill. Rubel (s. Nicolaibahn). Allein der Verkauf der Nicolaibahn half doch immer noch nicht über die großen Finanzschwierigkeiten hinweg, die unvermeidlich als Folge des schnell vor sich gehenden Eisenbahnbaues eintraten. Es kam hinzu, daß die Regierung gezwungen gewesen war (s. Geschichte der Staatseisenbahnen im europäischen Rußland), den Bau einer Anzahl von Bahnen, die von den Gesellschaften nicht zu Ende geführt werden konnten, selbst durchzuführen (Odessa-Kiew, Moskau-Orel-Kursk u. m. a.), was wiederum einen weiteren Druck auf die Finanzwirtschaft ausübte. Da nun diese Bahnen gewissermaßen nur zwangsweise als Staatsbahnen ausgeführt worden waren, so lag es nahe, sie auch wieder bei passender Gelegenheit der Privatunternehmung zuzuführen. Das geschah denn auch in den Jahren 1870 und 1871, wodurch rd. 156 Mill. Rubel in die Staatskasse flossen, die die Möglichkeit schafften, ältere Verbindlichkeiten zu begleichen, namentlich aber weitere Unternehmungen zu fördern. Inzwischen hatte sich der Staatskredit weiter erheblich gebessert, so daß dazu übergegangen werden konnte, an die sich bildenden Baugesellschaften die Forderung zu stellen, daß sie 1/4 bis 1/3 des Baukapitals selbst aufzubringen (1869) hätten, u.zw. ohne daß der Staat eine Zinsgarantie übernahm. Lange blieb diese Art der Geldbeschaffung aber nicht in Übung, denn schon 1872 entschloß man sich wieder dazu, auch für diesen Teil des Baukapitals eine beschränkte Zinsgarantie, nämlich auf die Dauer der ersten 15 Jahre, zu übernehmen. Es ist aber eine große Errungenschaft der Finanzverwaltung, daß 1875 – allerdings mit Hilfe einer sehr guten Ernte – der Staatskredit so weit gestiegen war, daß die konsolidierten Obligationen zum Nennwert gehandelt wurden.[268]

In diese günstigen Verhältnisse fiel 1877 der Ausbruch des Balkankrieges, der die Finanzlage des Landes sehr schwächte. Die Tabellen I u. II zeigen deutlich den schweren Druck, der auf der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes während der letzten Regierungsjahre Alexanders II. und bis gegen das Ende der Regierung Alexanders III. lastete und auch im Rückgang des Eisenbahnbaues zum Ausdruck kam.

Ruhte einerseits der Neubau zum größten Teil, so wurde anderseits doch die Verstaatlichung der Privatbahnen – und das konnte ohne große wirtschaftliche Opfer geschehen – eingeleitet. Die Durchführung dieser Maßnahme machte in allen den Fällen keine Schwierigkeit, in denen dem Staat bereits, nach den Bestimmungen der Satzungen der auszukaufenden Bahn, das Auskaufsrecht zustand.

War jedoch der Zeitpunkt für das Auskaufsrecht des Staates noch nicht eingetreten, so mußte er dazu übergehen, das Aktienkapital in seine Hand zu bringen. Aber dieser Weg brauchte nicht beschritten zu werden. Die Gesellschaften sträubten sich gegen das Vorgehen der Staatsregierung nicht, denn in den allermeisten Fällen handelte es sich um Unternehmungen, die notleidend waren und die kaum für absehbare Zeit die Möglichkeit voraussahen, sich aus dieser Not herausarbeiten zu können. So konnte die Verstaatlichungsaktion vor sich gehen, ohne daß die Regierung gezwungen war, die Mehrzahl der Aktien in ihre Hand zu bringen, um dadurch auf der Generalversammlung den erwünschten Beschluß zu sichern.

Für die Verstaatlichung der Bahnen brauchte die Finanzverwaltung mit Rücksicht auf die Verschuldung der Bahnen keine besonders großen Barmittel. Als die Regierung im Jahre 1881 mit dem Ankauf der Privatbahnen begann (Charkow-Nikolajewer Bahn), schuldeten die Gesellschaften dem Staat:


Millionen Rubel

188018811882
für geleistete
Garantiezahlungen382464517
für sonst noch
bewilligte Darlehen211165204
Summe 593629721

Die Schuldenlast der Bahnen wuchs hiernach außerordentlich schnell. Es kommt hinzu, daß der Staat darüber nicht im Zweifel sein konnte, daß, solange in gleicher Weise weiter von den Bahnen gewirtschaftet wurde, keinerlei Aussicht bestand, die Leistungen für die übernommenen Garantiezahlungen herabzumindern. Unter diesen Umständen müssen die Erwägungen, soweit sie finanzpolitischen Überlegungen ihren Ursprung verdanken, als durchaus begründet anerkannt werden, denn es war in dem vorliegenden Fall zweifellos richtig, daß der Staat den Versuch machte, durch bessere Wirtschaft die schwere Last der übernommenen Zinsgarantie sich zu erleichtern. Die eingeleitete und allmählich durchgeführte Verstaatlichung der Privatbahnen, sodann die Zusammenlegung und der Ausbau von Privatbahnen zu großen Verwaltungseinheiten haben dem Staat zweifellos sehr erhebliche, finanzielle Vorteile eingetragen. Es kann daher unter finanziellem Gesichtspunkt die Maßregel nur als eine durchaus geglückte bezeichnet werden. Eine Bestätigung findet das in der stetig fortschreitenden Besserung des Verhältnisses zwischen den Ausgaben und Einnahmen der Staatseisenbahnen, als deren Ergebnis ein Oberschuß der Einnahmen zu verzeichnen ist. Er betrug:


in Tausenden Rubel

im Jahre 1910 1911 1912 1913
197.609266.467333.481326.840

Gegen Ende der Achtzigerjahre zwang der Staat die Privatgesellschaften, ihn an dem erzielten Reingewinn dieser Unternehmungen in größerem Maße als bisher teilnehmen zu lassen (s. die einzelnen Bahngruppen). Es zeitigte das allmählich ein sehr gutes Ergebnis, denn die Gewinnanteile des Staates stiegen recht ansehnlich und erreichten einen Betrag


in Tausenden Rubel

im Jahre 1910 1911 1912 1913
von29.05829.87236.14245.666

Neben diesen Gewinnanteilen war es dem Staat auch gelungen, diese Unternehmungen (6 große Gruppen) zu bewegen, einen Teil ihrer Schulden zu tilgen, indem sie den Betrag der Obligationen, den sie zum Ausbau des Schienennetzes gebrauchten, um so viel erhöhten, als der Staat zur Tilgung der schwebenden Schuld beanspruchte. Den Gesellschaften war die Erfüllung dieses Wunsches der Regierung dadurch wesentlich erleichtert, als der Staatskredit sich inzwischen so gehoben hatte, daß es gelang, 5%ige Obligationen zum Kurs von 99∙5% unterzubringen. Die hierdurch frei werdenden Summen sollten zum Bau neuer Bahnen Verwendung finden. Namentlich wollte man diesen Grundsatz auch für den Bau der großen sibirischen Bahn in Anwendung bringen, um bei diesem großen Unternehmen ganz besonders den Charakter eines »rein russischen« zu betonen. Dieses Vorhaben ist aber mißglückt; weder konnte der erste Ausbau, noch viel weniger aber der spätere Um- und Ausbau dieses großen Schienenwegs auf dem angestrebten Wege durchgeführt werden. Es ist ja bekannt, wie Rußland sich in den letzten[269] 20 Jahren mit Hilfe Frankreichs viele Milliarden Franken zu beschaffen gewußt hat, die ihm die Möglichkeit gegeben haben, sein Eisenbahnnetz sehr erheblich auszubauen. Die Beschaffungsgrundsätze haben sich im Lauf der Jahre nicht sehr wesentlich geändert, nur der Emissionskurs hat sehr geschwankt, obgleich die wechselnden Finanzminister im einzelnen verschiedene Gesichtspunkte zur Geltung brachten. In der Hauptsache blieb für den Privatbahnbau die staatliche Garantie der notwendigen Anleihen die Grundlage bei der Finanzierung der Unternehmungen.

Neben der Finanzierung der großen Unternehmungen hat die Finanzverwaltung mehrfach auch die Geldbeschaffung zur Durchführung des Ausbaues der Zufuhr- (Nähr-) Bahnen beschäftigt. Zum Teil versuchte man es, den Bau solcher Bahnen auf dem Wege der Beihilfe zu fördern, z.T. wurden die interessierten Städte, Dörfer und großen Unternehmungen herangezogen, um die Finanzierung sicherzustellen. Allein es gelang nicht immer, für solche Bauten das Geld zu beschaffen. Erst seit etwa 6 Jahren ist man dazu übergegangen, den Unternehmern für das Anlagekapital dadurch eine Sicherheit zu gewährleisten, indem die Tarifsätze im Personen- und Güterverkehr derart bemessen werden, daß ein prozentueller Zuschlag zu den üblichen Sätzen gemacht wird, dessen Ertrag zur Tilgung des verwendeten Baukapitals, soweit es in Barem von den Unternehmern aufgebracht worden ist, verwendet werden soll. Dabei wird dieser prozentuelle Zuschlag nicht nur zu dem Frachtbetrag, der zu gunsten der Anschluß-, Zufuhr-(Nähr-) Bahn zur Erhebung gelangt, gemacht, sondern auch zu dem Frachtbetrag, der auf die anschließende Hauptbahn entfällt.


II. Technisches.


Diesbezüglich sei nur im allgemeinen bemerkt, daß sich vermöge der ebenen Gestaltung des Bodens und der Einheitlichkeit des Charakters der sarmatischen Tiefebene dem Bahnbau zunächst verhältnismäßig geringe Schwierigkeiten entgegenstellten. Die Höhenzüge des Urals, des Kaukasus und der taurischen Halbinsel sowie die Ausläufer der Karpathen und die finnländischen Höhen bilden lediglich die äußere Umgrenzung der großen Tiefebene. Im Innern derselben konnte daher eine höchste Steigung von 10 und ein kleinster Krümmungshalbmesser von 300 Sashen (670∙5 mi) festgehalten werden. Erst bei dem Bau der Eisenbahnen im asiatischen Rußland (Sibirische Eisenbahn, Amurbahn, transkaukasische Eisenbahn u.s.w.) kamen größere Steigungen und kleinere Krümmungshalbmesser in Anwendung. Vgl. im übrigen die Einzelartikel.


III. Organisation und Verwaltung.


Zu Beginn des Eisenbahnbaues (1833) oblag die Verwaltung einem »General-Administrator der Verkehrswege« (administrateur general des voies de communication), dem dann in der Folge (1842) auch die Sorge um die öffentlichen Bauten übertragen wurde. Diese Erweiterung der Obliegenheiten wurde äußerlich durch den Zusatz zu dem bisherigen Titel »und der öffentlichen Bauten« (et des edifices publics) kenntlich gemacht. Zu dem Geschäftskreis des Administrators gehörte auch die Verwaltung der Telegraphen. 1862 fand eine grundlegende Reorganisation des Ressorts statt, die zu der Errichtung eines Eisenbahnministeriums führte, das die Bezeichnung erhielt: Ministerium der Verkehrsanstalten (ministerstwo putei ssoobschtschenija). Der erste Minister war P. Melnikof, der sogleich die Leitung des Telegraphenwesens von seinem Ministerium abtrennte. Außer den Eisenbahnen gehörten auch Land- und Wasserstraßen zum Ressort. Der Geschäftskreis wurde aber nicht auf die bauliche Herstellung und Unterhaltung dieser Wege, sowie auf den Betrieb beschränkt, sondern umfaßte auch das Tarifwesen. Das allgemeine Statut für die R. vom 12. Juni 1885 änderte an den Befugnissen des Ministeriums nichts. Erst 1889 trat abermals eine Einschränkung des Wirkungskreises des Ministeriums der Verkehrsanstalten ein, indem nicht nur das Tarifwesen abgetrennt, sondern ihm auch die Vorarbeiten für die Anlage neuer Bahnen entzogen wurden. Alle diese Agenden wurden dem Finanzministerium übertragen, so daß das Ministerium der Verkehrsanstalten nur noch in technischer Beziehung, Bau, Unterhaltung und Betrieb, eine selbständige Stellung behielt, sonst nur beratend mitwirkte. Die wirtschaftliche Führung des großen Eisenbahnnetzes und damit der Einfluß auf die Entwicklung von Handel und Industrie des Landes wurde dem Minister der Verkehrsanstalten entzogen. In dieser eingeschränkten Verfassung besteht das Ministerium noch heute unter der Leitung des Ministers der Verkehrsanstalten, dem hierbei als Organe der Verwaltung beigegeben sind:

a) der Ministerrat,

b) der Rat für Eisenbahnangelegenheiten,

c) der Beirat der Ingenieure,

d) das Eisenbahndepartement, dem auch die Verwaltung der Staatseisenbahnen obliegt.

Im besonderen fällt dem Rat für Eisenbahnangelegenheiten zu die endgültige Beschlußfassung über alle Vorlagen zu Gesetzen oder zu solchen Vorlagen, die einer höheren oder Allerhöchsten Genehmigung bedürfen. Der Rat begutachtet auch Anträge, die ihm vom Minister zugewiesen[270] werden. Im übrigen haben die einzelnen Abteilungen je eine bestimmt abgegrenzte Zuständigkeit, innerhalb der sie selbständig Verfügungen treffen. Dem Ministerrat fällt die Feststellung der Leistungsfähigkeit der Bahnen, die Genehmigung der Transportbedingungen für gewöhnliche und Militärgüter, die Enteignungsangelegenheiten, Disziplinarsachen der Beamten des Ressorts u.s.w. zu;

im Ingenieurrat werden sämtliche technische Angelegenheiten bearbeitet und endlich

im Eisenbahndepartement und der Verwaltung der Staatseisenbahnen findet die Bearbeitung der gesamten Betriebs- und Verkehrsfragen statt, soweit sie für alle Bahnen und für die Staatseisenbahnen im besonderen der Ministerialinstanz zur Entscheidung zufallen. Dieses wichtige Departement zerfällt in 5 Abteilungen, denen 10 Bureaus zur Bearbeitung zur Verfügung stehen. Dem Ministerium unterstehen die Lokalbehörden. Zurzeit sind 21 größere Gruppen staatlicher Eisenbahnen vorhanden. Jede Gruppe wird von einem Chef (natschalnik dorogi) geleitet, dem ein Rat, bestehend aus den Leitern der einzelnen Hauptgeschäftszweige, einem Vertreter des Finanzministeriums, des zuständigen Rayonkomitees, und mit beratender Stimme ein Vertreter der Reichskontrolle zur Seite steht. Die größeren, früher selbständigen Bahnen werden von einem Betriebsdirektor geleitet, dem dann die Abteilungschefs für Bau und Unterhaltung der Bahn und Gebäude, für das Rollmaterial, Maschinen- und Werkstattsdepartement u.s.w. nachgeordnet sind.

Die Reformen, die in den letzten Jahren im Großen geplant, aber nur beschränkt durchgeführt worden sind, haben sich fast nur auf nicht weitgreifende Änderungen in bezug auf die Zuständigkeit der einzelnen Ministerialabteilungen oder eine Erweiterung der Zuständigkeit der Lokalverwaltung bezogen. Eine wirklich einschneidende Erweiterung der Organisation ist im Jahre 1906 durch Schaffung der »Rayonkomitees« (Bezirksausschüsse) und eines Zentralkomitees (Zentralamts) zur Vereinheitlichung der Tätigkeit der ersteren eingetreten. Diesem obliegt insbesondere die Feststellung des Bedarfs an Güterwagen, die Verteilung derselben, die Regelung der Güterabfertigung, die Erzielung möglichst guter Ausnutzung der Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen u.s.w. (vgl. Beiräte).

Die Privateisenbahnen, ursprünglich in jeder Beziehung frei in der Verwaltung und namentlich in der Lösung wirtschaftlicher Fragen, sind im Laufe der Jahre einer scharfen Kontrolle und Bevormundung durch die Regierung unterworfen. Die Direktion, deren Glieder durch die Generalversammlung der Aktionäre gewählt werden, ist seit dem Jahre 1906 ganz allgemein durch Regierungsdirektoren ergänzt worden. In jede Direktion ist ein Regierungsdirektor vom Ministerium der Verkehrsanstalten, der Finanzen und der Reichskontrolle getreten. Diesen Vertretern der Regierung fällt die Aufgabe zu, eine stete Kontrolle auszuüben und die Anordnungen der Regierung durchführen zu lassen.

Nächst der Direktion, bei der, wie bei den Staatsbahnen beim Chef (natschalnik dorogi), die Leitung des Unternehmens zusammengefaßt ist, entwickelt sich die übrige Organisation der Verwaltung in ganz ähnlichen Formen, nur daß der Verwaltende der Bahn (uprawljäjuschtschi dorogoju) eine verhältnismäßig große Machtvollkommenheit hat, die an die des Chefs (natschalnik dorogi) der Staatsbahnen in vieler Beziehung fast heranreicht.

Die Privateisenbahnen sind in der Hauptsache zurzeit in 6 großen Gruppen zusammengefaßt, denen sich erst in den allerletzten Jahren, in denen der Privatunternehmung wieder eine größere Betätigung zugestanden ist, noch mehrere kleinere Unternehmungen angereiht haben.

Solange der Kredit des russischen Reiches durch Fortschritte auf dem Gebiet des Landbaues, des Handels und der Industrie in friedlicher Arbeit gestützt wurde, solange glückte es dem Zarenreich, auch die für seine Entwicklung erforderlichen Geldmittel am französischen Geldmarkt zu erlangen. Ob das auch in Zukunft, nach den schweren Erschütterungen des Weltkrieges, in demselben Maße glücken wird, muß abgewartet werden. Ein böses Vorzeichen dafür, daß die Kreditfähigkeit nicht mehr so unbeschränkt wie früher am Geldmarkt gilt, scheint die Verpfändung der Getreidebestände in den Hafenplätzen des Schwarzen Meeres an England zu sein. Ein so weit schauender Finanzmann wie der Graf Reutern hat, wie oben gezeigt, es rechtzeitig zu verhindern gewußt, daß Rußland auf solchem Weg sich Geld verschaffen mußte.


IV. Statistik.


Ende 1914 waren in Rußland überhaupt vorhanden 66.132 Werst (= 70.562 km) Eisenbahnen, davon 44.515 Werst (= 47.497 km) Staatsbahnen, der Rest von 21.617 Werst (= 23.065 km) Privatbahnen. Diese letzteren zerfallen in Bahnen von allgemeiner Bedeutung, nämlich 19.434 Werst (= 20.736 km), und solche von örtlicher Bedeutung, nämlich 2183 Werst (= 2329 km). In geographischer Beziehung sind von den Bahnen belegen in Europa 55.168[271]


Tabelle I.


Russische Eisenbahnen

[273] Werst (= 58.864 km), in Asien 10.964 Werst (= 11.698 km). Hieraus ergibt sich, daß in Rußland das Staatseisenbahnsystem das vorherrschende ist. Es umfaßt rd. 2/3 des gesamten Eisenbahnnetzes.

Die russischen Eisenbahnen haben fast ausschließlich die breite Spur von 1∙524 m. Außerdem besitzt Rußland eine größere Zahl von Bahnen (namentlich Zufuhrbahnen) mit anderer als der russischen Normalspur.


Die Spur von 1∙435 m findet sich nur bei der Warschau-Wiener Eisenbahn (jetzt Staatsbahn), ferner bei den Linien Warschau-Skierwenica-Alexandrowno (Thorn), Skierwenica-Czenstochau-Sosnowice (Myslowitz) sowie den Abzweigungen Somblowicy-Granica und von Koljuschki nach Lodz, Lodz-Widsles.


Die Entwicklung des Eisenbahnnetzes ist in den 3 Tabellen ausführlich dargestellt. Es ergibt sich daraus nicht nur die Zunahme des Netzes in jedem einzelnen Jahr im allgemeinen, sondern auch der einzelnen Bahnen und Bahngruppen, getrennt nach europäischem und asiatischem Rußland sowie mit besonderer Hervorhebung der Länge der Staatsbahnen. Ergänzend ist noch folgendes hinzuzufügen:

a) Anlagekapital. Zu Ende des Jahres 1910 betrug das gesamte Anlagekapital der R. 6813 Mill. Rubel, davon:


Aktienkapital, garantiertes33∙5 Mill. Rubel
nicht garantiertes82∙3 Mill. Rubel
Obligationskapital, garantiertes1302∙0 Mill. Rubel
nicht garantiertes77∙8 Mill. Rubel
vom Staat realisiertes2960∙7 Mill. Rubel
Kursverluste und Baudarlehen
außer dem Baukapital2356∙6 Mill. Rubel

Durchschnittlich kostete 1 Werst Bahnlänge überhaupt 111.900 Rubel, u.zw.:

der Staatsbahnen117.000 Rubel
der Privatbahnen99.200 Rubel

b) Betriebsmittel. Es waren vorhanden zu Ende des Jahres:


Russische Eisenbahnen

c) Verkehr. Es wurden befördert:


1890 1900 1910
Personen 46∙5 104∙3 195∙0 Mill.
Güter4179∙49371∙914.352∙2 Mill. Pud
oder 67∙5 153∙5 235∙1 Mill. t.

d) Betriebsergebnis:


Millionen Rubel

Roheinnahme284∙5580∙6969∙1
Betriebsausgabe171∙7383∙2651∙2
Überschuß112∙7199∙4317∙9
Betriebskoeffizient:
überhaupt60∙3766∙0067∙00
der Staatsbahnen64∙0066∙9570∙44
der Privatbahnen59∙6763∙7659∙11

Tabelle II.


Russische Eisenbahnen

Tabelle III.


Russische Eisenbahnen

Literatur: Prawitelstwenny Wjestnik (Regierungsanzeiger). St. Petersburg (russisch). – Wjestnik finanssow, promyschlennosti i torgowli (Bote für Finanzen, Industrie und Handel). St. Petersburg (russisch). Amtliches Organ des Finanzministeriums. – Torgowo-promyschlennaja gaseta (Handels- und Industriezeitung). St. Petersburg (russisch). Halbamtliches Organ des Ministeriums für Finanzen, Handel, Industrie und Landwirtschaft. – Shurnal ministerstwa putei ssoobschtschenija (Journal des Ministeriums der Verkehrsanstalten). St. Petersburg (russisch). Herausgegeben vom Ministerium. – Wjestnik putei ssoobschtschenija (Bote des Ministeriums der Verkehrsanstalten). St. Petersburg (russisch). Enthält: Ukasatel prawitelstwennych rasporjashenii po ministerstwy putei ssoobschtschenija (Amtsblatt für Regierungsverfügungen des Ministeriums der Verkehrsanstalten) und ferner: sonstige Eisenbahnnachrichten. – Shurnal otdjela statistiki i kartographii ministerstwa putei ssoobschtschenija (Journal der Abteilung des Ministeriums der Verkehrsanstalten für Statistik und Kartographie). St. Petersburg (russisch). – Statistitscheski sbornik ministerstwa putei ssoobschtschenija: Sheljesnyja dorogi (Statistisches Sammelwerk des Ministeriums der Verkehrsanstalten: Die [277] Eisenbahnen). St. Petersburg (russisch). – Nascha sheljesnodoroshnaja politika po dokumentam archiva komiteta ministrow (Unsere Eisenbahnpolitik auf Grund der Dokumente des Archivs des Ministerkomitees). St. Petersburg (russisch). 4 Bände. Herausgegeben von der Kanzlei des Ministerkomitees, unter Leitung des Staatssekretärs Kulomsin. – Valentin Wittschewsky, Rußlands Handels-, Zoll- und Industriepolitik von Peter dem Großen bis auf die Gegenwart. Berlin 1905. – Proiswoditelnyjassily Rossii (Die produktiven Kräfte Rußlands). St. Petersburg 1896 (russisch). Herausgegeben vom Finanzministerium, unter Leitung des Direktors des Departements für Handel und Manufaktur W. J. Kowalewski. – Ssibir i welikaja ssibirskaja sheljesnaja doroga (Sibirien und die große sibirische Eisenbahn). St. Petersburg 1893 (russisch). Nebst einer Karte von Sibirien. Herausgegeben vom Departement für Handel und Manufaktur des Finanzministeriums. – Ssibirskaja sheljesnaja doroga w jeja proschlom i nastojaschtschem (Die sibirische Eisenbahn in ihrer Vergangenheit und Gegenwart). St. Petersburg 1903 (russisch). Zur Feier des 10 jährigen Bestehens des Komitees der sibirischen Bahn 1893–1903. Bearbeitet unter Leitung des Staatssekretärs Kulomsin. – Arch. f. Ebw.; Ztschr. f. Kleinb.; Ztg. d. VDEV. – Oscar Mertens, Zur Frage der Zufuhrbahnen in Rußland. Riga 1889. – Promyschlennost i Torgowljä (Industrie und Handel). St. Petersburg (russisch). Organ der Vereinigung von Industrie und Handel. – Sheljesnodoroshnoje djelo (Das Eisenbahnwesen). St. Petersburg (russisch). Journal, herausgegeben von der VIII. Sektion der kaiserlich russischen technischen Gesellschaft. – W. Graf Reutern Baron Nolken, Die finanzielle Sanierung Rußlands nach der Katastrophe des Krimkrieges 1862–1878 durch den Finanzminister Michael v. Reutern. Berlin 1914. – W. W. Ssalow, Natschalo sheljesnoroshnawo djela w Rossii (Der Beginn des Eisenbahnwesens in Rußland). Wjestnik Jewropy, St. Petersburg 1899 (russisch). – Aperçu des chemins de fer Russes depuis l'origene jus qu'en 1892. Elaboré et publie de la societé imperiale technique de Russie. Bd. II, Bruxelles 1897. – Die russischen Eisenbahnen und ihr Ausbauprogramm. Ztschr. f. d.i. Eisenbtr. 1916, S. 258.

Tafel VIII.
Tafel VIII.
1

Die Zahlen in ( ) geben die Werstbahnlänge an (1 Werst = 1067 m).

2

s. Sibirische Eisenbahn.

3

s. Mittelasiatische Bahn, Bd. VII, S. 296.

4

Die Zahlen in ( ) geben die Länge der Bahn zur Zeit der Verstaatlichung an.

5

s. Große Gesellschaft der russischen Eisenbahnen, Bd. V, S. 392.

6

s. Nicolai-Bahn, Bd. VII, S. 345.

7

s. Warschau-Wiener Bahn.

8

s. Finanzierung, S. 267.

9

Das Einzelne über die Bahngruppen ist bei den Sonderartikeln nachzulesen.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 8. Berlin, Wien 1917, S. 256-278.
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