Britisch-Nordamerika

[77] Britisch-Nordamerika (Dominion of Canada).


I. Entstehung und Entwicklung der Eisenbahnen. – II. Der Staat und die Eisenbahnen, Eisenbahngesetzgebung. – III. Der neueste Stand der Eisenbahn. – IV. Die elektrische Eisenbahnen.


I. Die englische Kolonie Kanada (Britisch-Nordamerika) erstreckt sich über den ganzen Norden des amerikanischen Weltteils vom atlantischen bis zum stillen Ozean. Ihr Flächenraum übersteigt mit 8,852.583 km2 den von ganz Europa, die Zahl ihrer Einwohner betrug im Jahre 1910 7,489.781. Sie hat sich insbesondere in den letzten Jahren durch Einwanderung stark vermehrt. Das Land zeigt in seinen einzelnen Gebieten ganz verschiedene klimatische Verhältnisse. Oberhalb der Hudsonsbai und am Melvillesund hat es einen durchaus arktischen Charakter, die Gebiete am stillen Ozean zeigen eine üppige Vegetation wie in den südlichen Ländern Europas, in den mittleren Teilen ist eine gemäßigte Provinz mit einem außerordentlich fruchtbaren Boden für alle Arten von Getreide, Gräsern, Blumen und Hölzern. Insbesondere der Weizenbau hat in der letzten Zeit, hauptsächlich in den Provinzen Manitoba, Alberta und Saskatchevan, eine bis dahin ungeahnte Ausdehnung genommen. In diesen drei Provinzen wurden im Jahre 1908 allein an Weizen 100 Millionen Bushels erzeugt und jetzt schon werden große Mengen Weizen nach den Vereinigten Staaten von Amerika ausgeführt. Der Wert der im Jahre 1909 gehobenen Mineralien (Kohlen, Petroleum, Eisen, Gold, Silber, Kupfer, Blei u.s.w.) stellte sich auf mehr als 90 Millionen $ (360 Millionen M.). Die Ausbeute aller dieser Bodenschätze ist wesentlich gefördert worden durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes.

An Verkehrsstraßen hatte die Kolonie vor dem Zeitalter der Eisenbahnen hauptsächlich den mächtigen St. Lorenz-Strom mit seinen zahlreichen Nebenflüssen. Seine Verlängerung bilden die fünf großen mittelamerikanischen Seen, die durch Kanäle miteinander verbunden sind. Bedeutsame Hafenanlagen sind in Quebek und in Montreal (mit fast 600.000 Einwohnern). Wohl zum Teil eine Folge des Vorhandenseins natürlicher Verkehrsstraßen ist, daß die Eisenbahnen[77] sich in den ersten Jahrzehnten des Eisenbahnzeitalters nur langsam entwickelt haben. Die erste Eisenbahn (26 km) wurde 1837 gebaut. Erst mit dem Jahre 1860 beginnt ein lebhafterer Bau von Eisenbahnen, die sich dann in den zwei Jahrzehnten von 1870 bis 1890 gewaltig ausdehnten und von da an sich ständig und regelmäßig weiterentwickelten. Die Länge der Eisenbahnen betrug am 30. Juni der Jahre:


1840 26 km190533.168 km
1850 114 km190634.646 km
1860 3.359 km190736.125 km
1870 4.018 km190837.507 km
188011.087 km190938.783 km
189022.533 km191039.817 km
190028.697 km191140.869 km

II. Die Eisenbahnen sind teils Staatsbahnen, teils Privatbahnen, die fast alle vom Staate unterstützt worden sind. Schon im Jahre 1849 wurde das sog. Garantiegesetz erlassen, das die Regierung ermächtigte, jeder mindestens 70 Meilen (rund 112 km) langen Eisenbahn durch eine Zinsgewähr von 6% für eine Reihe von Jahren zu unterstützen. Bald darauf wurde mit dem Bau von Staatsbahnen begonnen. Die finanzielle Unterstützung einzelner Unternehmungen (so der Grand Trunk-Bahn, der Canadian Pacific- und der anderen Überlandbahnen s.d.) dauerte dabei fort und auch die Provinzialregierungen und die Gemeinden förderten den Bau von Eisenbahnen durch Gewähr von Beihilfen aller Art (vgl. u. III.).

Um die Mitte der Achzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, bis zu welcher Zeit sich die Eisenbahnen selbständig und ohne Beeinflussung durch die Regierung entwickelt hatten, zeigten sich in Kanada ähnliche Mißstände wie in den benachbarten Vereinigten Staaten. Die immer mehr sich häufenden Beschwerden über die Eisenbahntarife, die Eisenbahnunfälle, Unregelmäßigkeiten bei der Rechnungsführung, der Erstattung der Jahresberichte u.a. gaben Anlaß, daß durch Parlamentsbeschluß vom 14. August 1866 eine königliche Untersuchungskommission eingesetzt und beauftragt wurde, die gesamten Eisenbahnzustände der Kolonie zu prüfen und sich darüber auszusprechen, ob sich der Erlaß eines allgemeinen Eisenbahngesetzes und die Einsetzung einer höchsten Bundes-Eisenbahnaufsichtsbehörde (Railway Commission) empfehle. Diese Untersuchung hat in den Jahren 1886 und 1887 in der in England und den Vereinigten Staaten üblichen Art und Weise stattgefunden. Die Mitglieder der Kommission haben das Land bereist, sie haben England besucht, Zeugen vernommen, Urkunden eingesehen, sie haben angesehene Personen in den Vereinigten Staaten um gutachtliche Äußerungen gebeten und sich über die in England und den Vereinigten Staaten geltenden Eisenbahngesetze unterrichtet. Ein sehr kurzer Bericht über das Ergebnis ihrer Tätigkeit ist am 14. Januar 1888 an den Gouverneur von Kanada erstattet worden, in dem eine einheitliche Regelung der kanadischen Eisenbahnverhältnisse im wesentlichen nach englisch-amerikanischem Muster befürwortet wird (Report of the Royal Commission on Railways with Appendices. Ottawa 1888. 41 Seiten mit Anl.). Das Parlament hat dieser Anregung Folge gegeben und alsbald über ein Eisenbahngesetz beraten, das auch die Zustimmung der Regierung erhalten hat, und seit 22. Mai 1888 unter dem kurzen Titel: »The Railway Act« veröffentlicht ist (51 Victoria, Kapitel 29). Das Gesetz hat 309 Paragraphen und enthält eine vollständige, umfassende, bis ins einzelne gehende Regelung des Eisenbahnwesens der Kolonie. Es bezieht sich indessen nur auf die Privatbahnen. Als höchste Eisenbahnbehörde ist ein Railway Committee of the Privy Council eingesetzt, bestehend aus dem Minister der Eisenbahnen und Kanäle als Vorsitzenden, dem Justizminister und zwei oder mehr anderen Mitgliedern des königl. geheimen Rats für Kanada. Die sehr weitgehenden Befugnisse dieser Behörde werden in den §§ 10–25 festgestellt. Ein großer Teil des Gesetzes betrifft die Bildung der Eisenbahngesellschaften und ihre Beziehungen als Aktiengesellschaften (§§ 31–98), des weiteren enthält es Bestimmungen über den Grunderwerb, Enteignung, den Betrieb, die Bahnpolizei, die Eisenbahnstatistik, die Tarife. Alle früheren Gesetze, insbesondere ein solches aus dem Jahr 1886, werden durch das neue aufgehoben.

An die Stelle des Gesetzes vom 22. Mai 1888 ist das Eisenbahngesetz vom 24. Oktober 1903 getreten. Das neue Gesetz, das sich auch nur auf Privatbahnen bezieht, unterscheidet sich von dem früheren hauptsächlich durch Änderungen in der Fassung und einige Ergänzungen. Die wichtigste sachliche Änderung ist die, daß an Stelle des Railway Committee of the Privy Council ein Board of Railway Commissioners for Canada getreten ist, das aus drei vom Generalgouverneur zu ernennenden Mitgliedern besteht. Das Amt hat seinen Sitz in Ottawa, der Hauptstadt Kanadas. Seine Mitglieder werden auf 10 Jahre ernannt. Es ist sowohl Aufsichtsbehörde über die Privatbahnen[78] als auch Gerichtshof über Streitigkeiten zwischen den Privatbahnen untereinander oder auch dritter Personen und hat hierin die Stellung der höheren Gerichtshöfe. In einzelnen Fällen ist bei Rechtsfragen die Berufung an den obersten Gerichtshof von Kanada zulässig. Der Generalgouverneur kann die Entscheidungen des Eisenbahnrates abändern1.

III. Der Umfang der kanadischen Eisenbahnen stellte sich, wie oben bemerkt, am 30. Juni 1911 auf 40∙869 km, davon waren 2483 km doppelgleisig. Das gesamte Anlagekapital der Privatbahnen betrug 1.528,689.201 $ = rund 6 Milliarden M., wovon 749,207.687 $ (rund 2∙9 Milliarden M.) Aktien und 779,481.514 $ (rund 3∙1 Milliarden M.) Obligationen verschiedener Gattungen. Die Herstellungskosten der Staatsbahnen stellten sich auf 118,617.751 $ oder rund 500 Mill. M.

Die den kanadischen Bahnen von der Regierung der Kolonie, von den einzelnen Provinzen und von einzelnen Gemeinden geleistete Beihilfe stellte sich wie folgt:


durch die Regierung der Dominion 146,932.180 $

durch die Provinzen 35,837.606 $

durch die Gemeinden 17,983.823 $

zusammen 200,753.983 $


oder 840 Mill. M. Der größte Teil der Unterstützungen besteht in Gewährung von verlorenen Zuschüssen und von Darlehen. Ein Teil der Linien der Canadian Pacific-Bahn ist von der Regierung für rund 38 Mill. $ gebaut und der Bahn geschenkt worden. An Landschenkungen haben die kanadischen Bahnen insgesamt 55,292.321 Acres = rund 200.000 km2, d. s. ungefähr 2/5 des Umfangs des Deutschen Reichs. Zinsbürgschaften sind insgesamt gewährt für 127,326.157 $ = rund 530 Mill. M. Durch diese sehr ansehnliche Beihilfe ist selbstverständlich der Eisenbahnbau sehr gefördert worden.

Der Gesamtumfang der Staatsbahnen betrug 2041 Meilen (= 3228 km). Die größte Staatsbahn ist der Intercolonial Railway (s.d.) mit einem Umfang von 1450 Meilen (2337 km), deren Hauptlinie von Halifax nach St. Rosalie geht. Außerdem sind Staatsbahnen die Eisenbahnen auf der Prinz-Eduard-Insel (266 Meilen = 429 km), die Temis Kaming and Northern Ontario-Eisenbahn (267 Meilen = 427 km) und die Neu-Braunschweig-Kohlen- und Eisenbahngesellschaft (58 Meilen = 83 km). Die übrigen Eisenbahnen sind Privatbahnen, deren Eigentümer oder Betriebsleiter im ganzen 89 Gesellschaften sind. Die größte dieser Gesellschaften ist die kanadische Überlandbahn (Canadian Pacific Railway, s.d.), deren Gesamtnetz einschließlich der Zweigbahnen, der gepachteten und der im Bau befindlichen Bahnen in Kanada einen Umfang im Jahre 1911 von 11.756 Meilen (= rund 19.000 km) hat. Ihr folgt in Umfang die Canadian Northern-Eisenbahn mit 4147 Meilen (= 6675 km) und die Grand Trunk-Eisenbahn, von der einzelne Strecken in den Vereinigten Staaten liegen, in Kanada mit 3529 Meilen (rund 5672 km). Von den übrigen Bahnen seien hier folgende, mit einem Netz von mehr als 100 Meilen2 angeführt:


Alberta-Eisenbahn und

Bewässerungs-Gesellschaft 113 Meilen

Atlantic & Lake Superior 100 Meilen

Bay von Quinté 108 Meilen

Canada Southern 382 Meilen

Canadian Northern Ontario 346 Meilen

Canadian Northern Quebec 407 Meilen

Central Ontario 150 Meilen

Dominion Atlantic 293 Meilen

Grand Trunk (Canada Atlantic) 456 Meilen

Halifax & Southwestern 372 Meilen

Kingston & Pembroke 110 Meilen

Lake Erie & Detroit, Père Marquette 335 Meilen

Montreal & Atlantic 163 Meilen

Quebec Railway, Light & Powers Cy. 222 Meilen

Quebec Lake St. John 286 Meilen

Quebec, Montreal & Southern 192 Meilen

Temiscuata 113 Meilen

Vancouver, Victoria & Eastern 221 Meilen


Von den kleineren Bahnen seien besonders erwähnt die beiden Linien, die nach den neu entdeckten Goldfeldern in Kanada und Alaska am Klondike-Fluß führen. Die eine ist die British Yukon-Bahn (90 Meilen) vom White Pass nach Whitehorse Spur mit einer Zweigbahn nach Whitehorse und die Klondike-Bergwerks-Bahn (32 Meilen) von Dauron City nach Sulphur Springs. Durch die beiden Bahnen ist die Landreise nach den Goldgebieten wesentlich erleichtert.

Über die Betriebsergebnisse der kanadischen Bahnen im Jahre 1910 geben folgende Zahlen Auskunft:


Anzahl der gefahrenen Personen 35,894.575

Anzahl der Personenmeilen 2.466,729.664

Personenzugmeilen 35,022.541 [79]

Einnahmen aus dem

Personenverkehr rund 99,000.000 $

Gefahrene Gütertonnen 74,482.866

Gefahrene Gütertonnenmeilen 15.712,127.701

Güterzugmeilen 56,625.548

Einnahmen aus dem Güterverkehr 116,229.894 $

Gesamteinnahmen 173,956.217 $

Gesamtausgaben 12,040.544 $

Verhältnisse der Einnahmen

zu den Ausgaben 69∙2%


An Betriebsmitteln waren vorhanden: 4079 Lokomotiven, 4320 Personenwagen und 118.713 Güterwagen.

Die Anzahl der Eisenbahnbediensteten betrug 123.768, die ein Einkommen von 67,167.792 $ bezogen. An Steuern hatten die Eisenbahnen 1,792.649 $ an die einzelnen Provinzen zu zahlen.

Weitere Einzelheiten finden sich in dem alljährlich von der Regierung herausgegebenen Blaubuch: Railway Statistics of the Dominion of Canada (Ottawa).

IV. Das Netz der elektrischen Bahnen Kanadas hat sich insbesondere in den letzten Jahren sehr lebhaft entwickelt. Im Jahre 1902 hatte es einen Umfang von 898 km, im Jahre 1910 einen solchen von 1687 km. Das Gesamtanlagekapital betrug 102 Mill. $ (428 Mill. M.), wovon rund 59 Mill. $ (248 Mill. M.) Aktien und 43 Mill. $ (180 Mill. M.) Obligationen. Die Anzahl der beförderten Personen ist von 120 Millionen im Jahre 1901 auf 361 Millionen im Jahre 1910 gewachsen. An Gütern wurden im Jahre 1910 852.294 t gefahren. Die Gesamteinnahmen stellten sich im Jahre 1910 auf 17 Mill. $ (rund 70 Mill. M.), darunter 16 Mill. $ (65 Mill. M.) für die Beförderung von Personen.

Es bestehen zurzeit 49 Gesellschaften. Die größte, mit einem Umfang von rund 100 Meilen (161 km) betreibt das Bahnnetz in Britisch-Kolumbien.

Umfangreiche Straßenbahnnetze sind in Montreal und Vororten (rund 91 Meilen), in Ottawa (23 Meilen), in Quebec (42 Meilen), in Teronto und Vororten (62 Meilen), in Winnipeg (65 Meilen).

Quellen und Literatur: Railway Statistics of the Dominion of Canada. (Erscheint jährlich.) – Pieck, Die Eisenbahnen in Kanada und der kanadische Eisenbahnbau. Arch. f. Ebw., 1890, S. 203 ff. – Carting, Canada, his history, production and natural resources. Ottawa 1886. – Kupka, Kanada und seine Eisenbahnen. Arch. f. Ebw. 1909, S. 353 ff.

v. der Leyen.

1

Vgl. Über das Eisenbahngesetz, seine Entstehung, seine Fassung und seine Bedeutung. Dr. Pieck im Archiv für Eisenbahnwesen 1890, S. 220–235. Ferner das. 1904. S. 757–758.

2

Von einer Umrechnung der englischen Meilen in km ist hier abgesehen (1 Meile = 1∙61 km).

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 3. Berlin, Wien 1912, S. 77-80.
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