[293] Mitbetrieb, Peagebetrieb (joint working; co-exploitation; co esercizio), Gemeinschaftsbetrieb, die Benutzung einer Bahnstrecke oder eines Bahnhofs durch 2 öder mehrere Bahnverwaltungen.
Die Bahnstrecke oder der Bahnhof, die Gegenstand des M. sind, gehören entweder allen mitbenutzenden Verwaltungen oder aber nur einer, die den anderen die Mitbenutzung einräumt.
Durch den M. wird die Anlage und der Betrieb einer neuen Bahn neben einer bestehenden, nicht voll ausgenutzten Bahn, bzw. die Errichtung eines zweiten Bahnhofs neben einem bestehenden entbehrlich gemacht und hierdurch Kapital gespart, sowie durch die Zusammenlegung des Dienstes in einem Bahnhof der Verkehr wesentlich erleichtert.
I. M. einer Bahnstrecke.
Die älteste Eisenbahngesetzgebung ging zumeist von der Anschauung aus, daß die Eisenbahn nach Analogie der Straße oder des Wasserweges unter gewissen Voraussetzungen von mehreren Frachtführern benützt werden könne und daher dem Eigentümer einer Bahnstrecke die Verpflichtung auferlegt, die Mitbenutzung der Bahn durch eine andere Unternehmung nach Maßgabe der hierüber erlassenen Vorschriften zu dulden.
In England verpflichtete Art. 92 der Akte vom 8. Mai 1845 die Konzessionäre, auf ihren Schienen Lokomotiven und Wagen jeder andern Gesellschaft verkehren zu lassen, unter Voraussetzung der Bezahlung der hierfür festgesetzten Entschädigung.
Das Gesetz teilte die Höchstsätze, die der Konzessionär einzuheben berechtigt ist, in 3 Gruppen:
1. Péagegeld für die Benutzung der Linie durch einen Frachtführer, der eigene Betriebsmittel besitzt;
2. Zuschlagtaxe zum Péagegeld, wenn die Transporte mit Betriebsmitteln des Konzessionärs ausgeführt werden;
3. Taxe für die Bestellung der Zügkraft durch den Konzessionär.
Mangels gütlicher Vereinbarung sollte das Parlament über die Bedingungen des M. entscheiden die gesetzlichen Running powers blieben indessen, ohne praktische Bedeutung. Die Ausübung einer derartigen Berechtigung erschien schon aus Gründen der Verkehrssicherheit kaum durchführbar und würden die vom Parlament eingeräumten Running powers meist von der berechtigten Gesellschaft nur dazu benutzt, um ein Abstandsgeld von der verpflichteten Gesellschaft zu erhalten. Die zahlreichen in England bestehenden Running powers beruhen durchwegs auf freier Vereinbarung.
In Frankreich ist durch Art. 61 des cahier des charges bestimmt, daß die Gesellschaften, die die Konzessionen für abzweigende oder in der Verlängerung der Bahn liegende Eisenbahnen erhalten, das Recht haben, für den Fall, als die festgesetzten Tarife gezählt und die Bahnpolizei- und Dienstreglements beobachtet werden, ihre Personen-, Güterwagen und Lokomotiven auf die anschließenden fremden Bahnen zu führen. Dagegen können auch letztere ihre Betriebsmittel auf den Zweigbahnen bzw. den Verlängerungsbahnen in Verkehr setzen.
Für den Fäll, als die beteiligten Bahnen bei Anwendung dieses Benutzungsrechts sich über den Dienst nicht zu einigen vermögen, entscheidet die Regierung.
Die Gesellschaft kann verhalfen werden, den Konzessionären von Verlängerungs- oder Zweiglinien, die an die ihr konzessionierte Eisenbahn anschließen, eine Ermäßigung des Weggeldes zu bewilligen, u.zw. je nachdem die Verlängerungslinie (Abzweigung) nicht länger als 100 km oder länger als 100 bzw. 200 und 300 km ist, im Ausmaß von 10, 15, 20 oder 25% des von der Gesellschaft erhobenen Satzes.
Das preußische Gesetz vom 3. November 1838 (§ 2633) geht gleichfalls von der dem[293] Landstraßen- und Wasserverkehr entlehnten Anschauung aus, daß zwar die Herstellung und Unterhaltung der Bahnanlage nur in der Hand eines einzigen Unternehmens liegen, aber der eigentliche Bahnbetrieb (Fuhrgeschäft), d.i. die Bewegung der Züge und die Beförderung von Personen und Sachen, neben dem Konzessionär als M. auch anderen konzessioniert werden könne. Das Gesetz unterscheidet 2 Arten von Vergütungen für Benutzung der Bahnanlage zur Beförderung:
1. Das Bahngeld, d.i. die Vergütung, die mangels besonderer Vereinbarung von dem Mitbetriebskonzessionär an den Hauptkonzessionär zu entrichten ist;
2. den Fuhrlohn, den der Unternehmer für die Beförderung erhält.
Konzessionen für den M. sind indessen auf Grund des Gesetzes nicht erteilt worden, die Festsetzung des Bahngeldes hat also keine unmittelbar praktische Bedeutung erlangt. Wo tatsächlich (für kurze Strecken) ein gemeinsamer Betrieb derselben Bahnlinie durch den Konzessionär und einen andern Unternehmer eingerichtet worden ist, hat eine gütliche Einigung unter Zustimmung des Ministeriums stattgefunden.
In Österreich wurde 1883 der Versuch gemacht, im Gesetzgebungsweg einen zwangsweisen M. einzuführen, indem durch die Gesetze vom 1. Juni und 25. November 1883, betreffend die Herstellung einer Abzweigung der Istrianer Staatsbahn von. Herpelje nach Triest, bzw. den Bau der böhmisch-mährischen Transversalbahn die Staatsverwaltung ermächtigt wurde, mit der Südbahn bezüglich der Strecke Laibach-Divacca und mit den in die Hauptrichtung der böhmisch-mährischen Transversalbahn fallenden Bahnen bezüglich der fremden zwischenliegenden Strecken ein Abkommen zu treffen und in Ermanglung eines solchen die Einräumung dieser Mitbenutzung als ein dingliches Recht im Enteignungsweg in Anspruch zu nehmen. Dieser erzwungene M. kam nicht zur Durchführung und hat sich die Staatsbahnverwaltung den M. im Wege gütlicher Vereinbarung mit der Südbahn gesichert.
Durch das Ges. vom 6. Juni 1901 betreffend den Bau der neuen Alpenbahnen wurde angeordnet, daß behufs Verbindung der durch die Südbahnstrecke Spittal-Villach getrennten Staatsbahnstrecken mit der Südbahngesellschaft eine Vereinbarung zu treffen ist, durch die der Staatsbahnverwaltung das Recht eingeräumt wird, unter freier Feststellung der Tarife gegen Entrichtung einer fixen Entschädigung (Bahngeld) entweder ganze Züge der Staatsbahnen mit eigener Zugkraft über die mitbenutzte Strecke der Südbahn zu befördern oder über dieselbe einzelne Wagen für Rechnung des Staatsbetriebs befördern zu lassen.
Eine ähnliche Bestimmung enthält auch das Lokalbahngesetz vom 8. August 1910 (Art. XXV), bezüglich der Mitbenutzung der Lokalbahnunternehmungen für den Verkehr bereits bestehender oder noch zu erbauender, vom Staat betriebener Bahnen. Die Festsetzung der Vergütung hat mangels einer Vereinbarung nach den früher besprochenen Bestimmungen der Nordbahnkonzession vom Jahre 1885 zu erfolgen.
Die Mitbenutzung der Lokalbahn darf nicht in Konkurrenz gegen dieselbe und nur insoweit stattfinden, als hierdurch nicht der regelmäßige Betrieb der Lokalbahn gestört wird.
Aus dem Gesagten erhellt, daß die durch Gesetze vorgesehene Zulassung des M. nirgend praktische Bedeutung erlangt hat. Dagegen ist vor allem in England, wo der Bahnbau äußerst kostspielig ist, der M. von Bahnstrecken in zahlreichen Fällen auf Grund vertragsmäßiger Vereinbarungen zu stände gekommen.
Die Art und Weise, in der der M. in England stattfindet, ist sehr verschieden. In vielen Fällen gehört die mitbenutzte Bahn den benutzenden Teilen gemeinsam. Am häufigsten kommt es vor, daß eine Bahn die Strecke der andern mit eigenen Zügen (Maschinen, Wagen und Personal) befährt. In einigen Fällen beschränkt sich die Mitbenutzung der fremden Bahn auf bestimmte Verkehrsarten, z.B. nur auf den Personenverkehr oder nur auf den Güterverkehr oder auch ausschließlich auf den Kohlentransport.
In dem gewöhnlichen Fall, daß eine Bahn auf einer fremden Strecke das Recht zur vollen Mitbenutzung hat, ist dieselbe im Betrieb in der Regel ebenso unbeschränkt, wie die Eigentumsbahn; sie kann namentlich die Tarife durchaus frei bilden. Die Eigentumsbahn erhält als Vergütung eine feste Miete (rent or toll) oder einen prozentualen Anteil der Einnahme, der zwischen 65 und 75% schwankt.
Die großen englischen Bahnen haben rund 3000 km Bahnen im M., darunter die Midlandbahn allein gegen 1100 km.
In Frankreich haben die Staatsbahnen (Westbahn) den M. u.a. auf der Strecke der Nordbahn Amiens-Rouen (114 km).
In den Niederlanden hat die holländische Eisenbahngesellschaft auf Grund des Vertrags vom 22. Juli 1890 das Mitbenutzungsrecht auf mehreren Staatsbahnlinien und anderseits die Betriebsgesellschaft der Staatseisenbahnen den M. auf einigen im Betrieb der holländischen Eisenbahngesellschaft befindlichen Bahnstrecken[294] erworben und wurden mittels Übereinkommens vom 27. August 1890 die näheren Bedingungen dieser Mitbenutzung festgestellt. Die Gesamtlänge dieser Strecken beträgt rund 400 km.
Den Zugdienst besorgt jede Verwaltung für ihre Züge. Die mit einem Höchstbetrag festgestellten Zinsen des Anlagekapitals der mitbenutzten Strecken werden von beiden Verwaltungen nach Maßgabe der Personen- und Tonnenkilometer, die Kosten für Erhaltung des Bahnkörpers und der sonstigen Bahnanlagen, der 4%ige Zins der Auslagen für Erweiterungsbauten und die Entschädigungen, welche anläßlich der gemeinschaftlichen Betriebsführung zu zahlen sind, nach Verhältnis der gefahrenen Wagenachskilometer getragen. Die Einnahmen, mit Ausschluß jener aus dem Lokalverkehr, werden zwischen den mitbenutzenden Gesellschaften nach bestimmten Grundsätzen verteilt.
In Deutschland ist der M. von Bahnstrecken nur von geringem Umfang und beschränkt sich auf die Mitbenutzung von Grenzstrecken und Verbindungsbahnen sowie auf die Mitbenutzung kurzer Strecken durch einmündende Neben- und Straßenbahnen. Die längsten Strecken, auf denen ein M. stattfindet, sind jene der preußischen Staatsbahn von Ihrhove nach Leer und von Osnabrück nach Ewersburg (12∙3 km), auf denen der oldenburgischen Staatsbahn ein M. eingeräumt ist.
In Österreich betrug die Länge der Bahnstrecken im M. im Jahre 1912 342 km. Unter anderm haben folgende Bahnen M. auf fremden Linien: die österreichischen Staatsbahnen auf der Linie Innsbruck-Wörgl (59∙6 km) und Spittal-Villach (35∙9 km) der Südbahn, die Eisenbahn Wien-Aspang auf einer Strecke (9∙6 km) der Südbahn u.s.w.
In Ungarn üben den M. aus: die Staatsbahnen auf einer Strecke (29 km) der Kaschau-Oderberger Eisenbahn, die Marosludas-Beszterczeer Lokalbahn auf einer Strecke (38 km) der Szamosthalbahn, die Czakathurn-Agramer Lokalbahn auf einer Strecke der Südbahn (13 km), die Szamosthalbahn auf einer Strecke der ungarischen Staatsbahn (12∙4 km).
II. Mitbetrieb auf einem Bahnhof (Gemeinschaftsbahnhöfe).
Die Fälle dieses M. sind in allen Staaten sehr zahlreich, sie kommen dort vor, wo eine neue Bahn an eine bestehende anschließt und man es vorzieht, an Stelle der Anlage eines getrennten Bahnhofs für die anschließende Bahn den Dienst in dem bestehenden Bahnhof zu vereinigen.
Gemeinschaftsbahnhöfe kommen sowohl für den Dienst von Bahnen desselben Landes als auch an den Landesgrenzen zur Abwicklung des Dienstes der anschließenden Bahnen der beiderseitigen Staaten vor.
Die Fälle gemeinschaftlicher Grenzbahnhöfe sind in neuerer Zeit seltener geworden und pflegen dieselben nunmehr zumeist getrennt gebaut zu werden.
Die Gestattung des Anschlusses ist durch die Gesetzgebung der meisten Staaten (s. § 10, lit. g des österreichischen Eisenbahnkonzessionsgesetzes, § 45 des preußischen Eisenbahngesetzes vom 3. November 1838, Art. 30 des schweizerischen Bundesgesetzes vom 23. Dezember 1872 u.s.w.) den Eisenbahnen zur Pflicht gemacht und entscheidet mangels einer Einigung der beteiligten Bahnen die Regierung oder das Gericht über die Bedingungen des Anschlusses. Bei Grenzbahnhöfen wird der Anschluß durch einen Staatsvertrag festgestellt, auf Grund dessen die anschließenden Bahnverwaltungen die näheren Bestimmungen über die gemeinsame Benutzung des Grenzbahnhofs vereinbaren.
Der Dienst in Gemeinschaftsstationen wird entweder von jeder mitbenutzenden Bahnverwaltung für sich besorgt oder von einer derselben für die anderen mitversehen. Im ersteren Fall sind jeder Verwaltung gewisse für ihren Dienst erforderliche Räumlichkeiten in den Stationsgebäuden, Gleise sowie sonstige Stationsanlagen zur ausschließlichen Benutzung zugewiesen; andere Räumlichkeiten in dem Bahnhofsgebäude, wie z.B. Wartesäle, Wirtschaftsräume u.s.w. sowie einzelne Gleise und andere Anlagen werden dagegen zur gemeinschaftlichen Benutzung bestimmt. Jede Verwaltung besorgt ihren Dienst selbständig durch ihr eigenes Personal. Sie gibt Fahrkarten in eigenen Schaltern aus und besitzt eigene Abfertigungsstellen für Gepäck und Frachtgut.
Eine solche selbständige Mitbenutzung eines Gemeinschaftsbahnhofs durch die beteiligten Verwaltungen erfordert größere Bahnhofsanlagen und macht auch den Betrieb kostspieliger; man zieht es daher im allgemeinen vor, die Betriebsführung auf dem Gemeinschaftsbahnhof für gemeinsame Rechnung einer Verwaltung, u.zw. in der Regel der Eigentümerin des Bahnhofs zu überlassen. In diesem Fall wird der gesamte Dienst auf dem Gemeinschaftsbahnhof durch ihre Bediensteten versehen und behalten sich die übrigen Verwaltungen lediglich vor, die Wahrung ihrer Interessen durch einen Vertreter zu überwachen.
Die Anzahl und die Bezüge der Bediensteten in dem Gemeinschaftsbahnhof werden durch Vereinbarungen festgesetzt.
Für die Anlagekosten des Gemeinschaftsbahnhofs bezahlt die mitbenutzende Bahn der Eigentümerin einen Anteil der Zinsen des Anlagekapitals, der entweder im vorhinein bestimmt oder nach dem Verhältnis des Verkehrs jeder Verwaltung ermittelt wird.[295]
Kosten für Erweiterungs- und Erneuerungsbauten werden entweder dem Anlagekapital zugeschlagen öder von den Bahnverwaltungen gemeinschaftlich, u.zw. nach festgesetzten Anteilen oder in gleichem Verhältnis wie die Betriebskosten, getragen.
Die Verteilung der Betriebskosten, zu denen meistens auch die Bahnerhaltungskosten gerechnet werden, erfolgt entweder nach Verhältnis des Verkehrs oder mit fixen Beträgen, u.zw. im ersten Fall unter Zugrundelegung von Einheitspreisen für gewisse Einheiten oder unmittelbar nach Verhältnis des in letzteren ausgedrückten Verkehrs.
Als Einheiten kommen vor:
1. Reisende (100 Reisende) und die Tonne Gut;
2. die Achsen der in den Bahnhof eintretenden oder denselben verlassenden Personen- und Güterwagen;
3. die Güterwagen, die am Gemeinschaftsbahnhof verkehren;
4. die für jede Verwaltung verkehrenden Züge.
Die Grundsätze über die Haftung für Unfälle und Beschädigungen oder Verlust an Gütern sind sehr verschiedenartig festgestellt.
Für Frankreich, Belgien, die Niederlande, die Schweiz, Italien, Spanien, Schweden, Norwegen, Rußland enthält der Bericht zur Frage XXVII A (Répartition des dépenses des gares communes) für den IV. internationalen Eisenbahnkongreß (Petersburg 1892), zahlreiche Beispiele von Gemeinschaftsbahnhöfen, unter Klassifikation derselben nach Maßgabe der Bedingungen, unter welchen der M. erfolgt.
Röll.
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