Verkehrsleitung

[111] Verkehrsleitung als solche bezeichnet man die Bestimmung über den Weg, den eine der Eisenbahn zur Beförderung übergebene Sendung von der Versandstation zur Empfangstation zurückzulegen hat. Von V. kann nach dem Sinn des Wortes und der ihm eisenbahntechnisch zukommenden Bedeutung nur im Sachverkehr – im weitesten Sinn, einschließlich des Gepäcks- und des Tierverkehrs – nicht aber im Personenverkehr gesprochen werden. Der Reisende entscheidet über den einzuschlagenden Weg selbst durch die Wahl des Zuges; diese wird von der Eisenbahn ihrerseits durch die Festsetzung der Zugverbindungen, den Fahrplan, die Fahrplanpolitik beeinflußt. Auch scheidet eine Verkehrsleitungsfrage da aus, wo zwischen Versand- und Empfangstation nur eine einzige Schienenverbindung besteht. Sie ergibt sich nur, wo mehrere Wege möglich sind.

Gemäß dem normalen Inhalt des Frachtvertrags, nach dem die Eisenbahn die Verpflichtung übernimmt, ein Gut gegen Entgelt innerhalb bestimmter Zeit von einer Station zur andern zu bringen, ist die V. in erster Linie eine Angelegenheit der Eisenbahn. Der Verfrachter (Absender oder Empfänger) hat im allgemeinen nur Interesse daran, daß das Gut fristgerecht und in ordnungsmäßigem Zustand in der Bestimmungsstation eintrifft, gleichgültig über welchen Weg. Ausnahmen bestehen für gewisse Verfrachtungsarten (Gepäck) oder gewisse Güter (Vieh), auch bestimmte Verkehrsbeziehungen, bei denen aus der Eigenart des betreffenden Transports heraus der Verfrachter auf die Wahl des Weges größeren Einfluß haben muß (s.u.). Indes hat auch im Regelfall der Verfrachter daran, welchen Weg das Gut bis zur Bestimmungsstation einschlägt, dann Interesse, wenn dadurch die beiden wesentlichen Bestandteile des Frachtvertrags, die Höhe der Fracht und die Dauer des Transports, oder einer derselben beeinflußt werden. Das Interesse der Eisenbahn dagegen an der V. entfließt einerseits der Verpflichtung auf Einhaltung der bedungenen, d.h. im Frachtrecht und in den Tarifen festgesetzten Transportfrist, weshalb sie den Weg wählen wird, der ihr die Einhaltung der Frist am besten gewährleistet, anderseits dem naturgemäßen Bestreben nach Wirtschaftlichkeit, das jenen Weg verlangt, der die höchste Frachteinnahme bringt[111] oder bei feststehender Einnahme den niedrigsten Kostenaufwand erfordert.

Da, um auch hier wieder vom Regelfall auszugehen, die Einnahme der Eisenbahn als Ganzes gegenüber dem Verfrachter (die Fracht) durch den veröffentlichten Tarif feststeht, ergibt sich, wenn diese nur einer Eisenbahn zufällt, also bei Sendungen im Binnenverkehr einer Eisenbahnverwaltung, die V. als die Frage der Wahl des raschesten und billigsten Weges, demnach als eine betriebsökonomische Angelegenheit. Ihre Lösung hängt in diesem Fall ab von den baulichen und betrieblichen Einrichtungen der in Betracht kommenden, zur Wahl stehenden Linien sowie von Art und Menge der auf diesen Linien zum Transport anfallenden Güter; eine allgemeine Regel dafür zu geben ist daher unmöglich, auch ist auf Einzelheiten einzugehen entbehrlich; es liegt auf der Hand, daß unter Umständen der Verkehr über eine längere Linie, die in der Ebene verläuft, oder die mehrgleisig oder die für dichten Verkehr ausgebaut und beansprucht ist, gegenüber einer kürzeren, aber gebirgigen, oder eingleisigen oder nur für geringeren Verkehr aufnahmefähigen Linie billiger oder rascher oder sogar billiger und rascher bedient werden kann. Jedenfalls kann auch im Binnenverkehr einer Eisenbahnverwaltung die kürzeste Linie keineswegs immer als die richtigste für die V. gelten. Diese kann je nach der Verkehrslage zeitlichen, sowohl periodischen als unregelmäßigen Wechsel verlangen, auch kann sich eine verschiedene V. je nach der Art der Sendungen – Eilgut, Frachtgut, Wagenladungen – empfehlen.

Wenn dagegen die Frachteinnahme mehreren Eisenbahnen zufällt, weil Versand- und Empfangstation im Bereich verschiedener Verwaltungen liegen, wird die V. neben und innerhalb der Grenzen jener betriebsökonomischen Frage noch wesentlich beeinflußt durch das Bestreben jeder der beteiligten, unter Umständen zahlreichen Eisenbahnen nach Erzielung höchster Frachteinnahme. Die hieraus sich ergebende Notwendigkeit der Ausgleichung der kommerziellen Interessen der an einem Transport beteiligten einzelnen Eisenbahnen untereinander und dieser insgesamt wieder mit dem Bedürfnis raschester und billigster Transportbedienung ergeben die Verkehrsleitungsfragen im engeren Sinn. Sie sind, namentlich wenn es sich um Transporte über lange Wege handelt, an denen viele Eisenbahnen beteiligt sind, und viele im Wettbewerb stehende Linien zur Verfügung stehen, oft recht verwickelt und führen nicht selten zu Wettbewerbskämpfen der beteiligten Eisenbahnen, zu deren Durchführung sich diese insbesondere der Tarifgebung (Konkurrenztarife) oder des Zusammenschlusses bestimmter Linien oder auch besonderer Transportmaßnahmen bedienen. Sie werden durch Verkehrsleitungsvereinbarungen ausgeglichen, die unter den beteiligten Eisenbahnverwaltungen, sowohl den End- wie den Durchgangsbahnen, in der Regel für ein größeres Gebiet – z.B. Österreich-Schweiz – abgeschlossen werden.

Die Ergebnisse der Verkehrsleitungsvereinbarungen sind nach den Gesamtverhältnissen des zu regelnden Gebietes (geographische Lage, Art und Menge des aufkommenden Verkehrs) verschieden. Als die beste Lösung erscheint es wohl stets, wenn sich die Eisenbahnen dahin einigen können, daß für jede Verkehrsbeziehung die V. dauernd und in beiden Richtungen über eine Linie erfolgt, die allen kommerziellen Interessen und zugleich den betriebsökonomischen Anforderungen entspricht. Es können aber auch mehrere Linien gemeinsam für die V. zwischen 2 Stationen oder Stationsgruppen vereinbart werden, die dann entweder richtungsweise oder zeitlich – nach Monaten, selbst nach Wochen oder Tagen – in der V. wechseln. Endlich können die Vereinbarungen auch dahin gelangen, daß die eigentliche Verkehrsbedienung ausschließlich oder überwiegend nach dem betriebsökonomischen Bedürfnis oder nach einem bestimmten, diesem am nächsten kommenden Grundsatz (z.B. dem des kürzesten Weges) eingerichtet und die Ausgleichung der entgegenstehenden kommerziellen Interessen auf andere Weise, z.B. durch bestimmte Art der Frachtverteilung, zeitlichen Verkehrsausgleich oder ähnliches, geregelt wird. In solchem Fall spricht man von Vereinbarungen über Verkehrsteilung, die in der Regel solche über V. mitumfassen.

Das Ergebnis der Vereinbarungen über die V. – nicht aber das über Verkehrsteilung – wird den Eisenbahndienststellen durch »Verkehrsleitungsvorschriften« (Instradierungsvorschriften) zur Beachtung bzw. zum Vollzug mitgeteilt. Sie sind zunächst innere Dienstanweisungen der Eisenbahn. Ob und inwieweit sie den Verfrachtern zugänglich gemacht werden müssen, ist schon mehrfach streitig geworden. Soweit die Tarife darauf Bezug nehmen, kann den Verfrachtern ein Recht auf Mitteilung wohl nicht vorenthalten werden.

Bei der großen Bedeutung der V. und den Schwierigkeiten ihrer richtigen Lösung schon im Binnenverkehr eines einzelnen Netzes und noch mehr im Verkehr zwischen mehreren Eisenbahnen müssen diese Wert darauf legen,[112] daß ihnen die Regelung tunlichst weitgehend überlassen bleibt. Zu diesem Zweck ist das oben dargelegte berechtigte Interesse des Verfrachters nach den 2 Richtungen – Höhe der Fracht und Dauer des Transports – möglichst auszuschalten. Der Umfang, in dem dies geschieht, und die Wege dazu sind in den Bestimmungen der einzelnen Länderverschieden. Am schärfsten verfährt das deutsche Frachtrecht. Es gewährleistet dem Verfrachter ein für allemal die billigste Fracht und, wenn diese über mehrere Wege gleich ist, zugleich die günstigsten Transportbedingungen (§ 67, 2 EVO.), gestattet ihm aber dafür eine Wegevorschrift überhaupt nicht, außer bei Eilgütern. In einem andern großen Gebiet mit gemeinsamem Frachtrecht, in Österreich-Ungarn, ist dem Verfrachter ebenfalls für den Fall der Unterlassung einer Wegevorschrift der billigste Tarif und bei gleichen Frachtsätzen über mehrere Wege zugleich die kürzeste Lieferfrist zugesprochen; daneben aber ist ihm gleichwohl das Recht der Wegevorschrift gegeben, von deren Beachtung indes die Eisenbahn unter bestimmten Bedingungen, die auf die Gewährleistung der billigsten Fracht und kürzesten Lieferfrist hinauslaufen, absehen kann (EBR. § 67). Ein drittes System ist das des Berner IÜ., das dem Wechselgüterverkehr zwischen dem größten Teil der europäischen Staaten Norm gibt. Dieses geht zwar grundsätzlich davon aus, daß der Versender die V. vorschreibt (es ist »Angabe des einzuhaltenden Transportweges« im Frachtbrief verlangt – Art. 6,1), gibt aber zugleich unter gewissen Bedingungen einerseits der Eisenbahn das Recht, davon abzuweichen, anderseits Anordnung dahin, daß bei Ermanglung der Wegeangabe des Versenders die Eisenbahn nach bestem Ermessen den Weg zu bestimmen habe und bei dessen Wahl nur für grobes Verschulden hafte. Der Unterschied des Maßes der Haftung hier gegenüber dem zweitgenannten System ist berechtigt durch die verschiedene Größe des Gebiets, für das die eine und die andere Bestimmung Geltung hat; indes lauten im Sinne des letzterwähnten Systems auch die entsprechenden Vorschriften für den inneren schweizerischen und den inneren holländischen Verkehr, also für verhältnismäßig kleinere Netze. Jedenfalls sind auch das zweite und das dritte System geeignet, weitgehend die Mitbestimmung des Verfrachters bei der V. auszuschalten und die Verkehrsleitungsvereinbarungen der Eisenbahn maßgebend sein zu lassen.

Daß da, wo der Verfrachter abweichend von den inneren Anordnungen bzw. Vereinbarungen der Eisenbahnen die V. bestimmt, die Fracht über den von jenem vorgeschriebenen Weg zu berechnen ist, auch wenn sie sich nicht als die billigste darstellt, ist allen einschlägigen Bestimmungen gemeinsam und selbstverständlich.

Bei Sendungen bestimmter Art hat die V. erhöhte Bedeutung für den Verfrachter: beim Reisegepäck ist als Wille des Versenders, des Reisenden, zu vermuten, daß er es auf der Reise immer in greifbarer Nähe haben will. Es bestimmt sich deshalb grundsätzlich der Weg des Gepäcks nach dem des Reisenden; Ausnahmen hiervon sind indes auf besonderen Antrag des Reisenden in einzelnen Verkehrsgebieten zugelassen. Bei Viehsendungen hat der Verfrachter mit Rücksicht auf die Verpflegung und Versorgung der lebenden Tiere während der Dauer der Fahrt ein besonderes Interesse an der Bestimmung der V. Deshalb ist für solche allgemein, auch im deutschen Frachtrecht (§ 49, 1 EVO.), die Wegevorschrift des Verfrachters unbedingt maßgebend. Einen besonderen Wert für den Versender kann die V. endlich auch beim Eilgut aller Art haben, insofern als bei diesem der Beförderungsdauer vom Versender häufig größere Bedeutung beigemessen wird als der Höhe der Fracht, jene aber von der Wahl des Weges sehr stark beeinflußt sein kann. Deshalb pflegt in den geltenden frachtrechtlichen Bestimmungen dieses Interesse besonders berücksichtigt zu werden.

Mittelbar nehmen eine Sonderstellung hin sichtlich der V. die Fälle ein, wo ein Gut während des Transports eine Zoll- oder Steuerlinie überschreiten muß. Da grundsätzlich dem Versender das Recht gewahrt ist, sich bei der Abwicklung der Verzollung zu beteiligen, so ist das Gut immer bei demjenigen Zoll- oder Steueramt zu stellen, das der Versender vorschreibt. Hierdurch wird in gewissem Umfang die V. beeinflußt. Bis und von der bestimmten Zollstation gelten aber die gewöhnlichen Regeln der V.

Morhart.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 10. Berlin, Wien 1923, S. 111-113.
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