Dieses Wort hat mehrere Bedeutungen, die man hier nicht nöthig hat unter einen Hauptbegriff zubringen; wir betrachten deßwegen jede besonders.
Abschnit des Verses. (Cäsur) Ein merkbarer Ruhepunkt, wodurch einige Verse in zwey Hälften getheilt werden. Man lese mit gehöriger Beobachtung des Klanges folgende Verse:
Du bringst früh oder spät ein jedes Vornehmen zum Ende;
Nichts kann dir widerstehn, du überwindest es alles;
Gott von allem und jedem: Siehst mit gleich ruhigen Augen
Hauffen Ameisen und Nationen vergehen; die Sternen
Wägen auf deiner Waage, was einer Mücke Gefieder1
so wird man bemerken, daß jeder von den beyden ersten Versen in zwey Zeiten, wie sich die Tonkünstler ausdrücken, oder mit einer Abänderung der Stimme, gelesen wird. Sie scheinet auf der einen Hälfte des Verses zusteigen und auf der andern zufallen. Im ersten Vers scheint sie allmählig zu steigen, bis man das Wort späth ausgesprochen hat, nach welchem eine kleine Ruhe, oder eine unveränderte Simme bleibt, die in der andern Hälfte des Verses wieder fällt oder nachläßt.
Darinn gleichen solche Verse einem Takt in der Musik, der ebenfalls in zwey Theile oder Zeiten zerfällt, die der Aufschlag und Niederschlag genennt werden. Am merklichsten wird der Abschnit in unsern gewöhnlichen alexandrinischen Versen.
Die Seele macht ihr Glück; ihr sind die äussern Sachen
Zur Lust und zum Verdruß nur die Gelegenheit:
Ein wohlgesetzt Gemüth kann Galle süsse machen,
Da ein verwähnter Sinn auf alles Wermuth strent.
Alle längeren Versarten haben ihre Abschnite, welche der Wohlklang nothwendig macht. Ihren Ursprung müssen wir um so vielmehr untersuchen, da diejenige unsrer Kunstrichter, die den Wohlklang der Verse bis auf die geringste Kleinigkeit scheinen zergliedert zu haben, diesen Punkt versäumet haben.
Schon die ungebundene Rede (um so vielmehr die gebundene) hat etwas von dem Charakter der Musik, oder des Tonstücks an sich. Worinn dieses bestehe, ist an seinem Orte2 deutlich gezeiget worden. Eine Haupteigenschaft der wohlklingenden Rede also, ist das rythmische derselben, wodurch sie in Glieder abgetheilt wird. Daher entstehen in der Musik der Takt3, die Einschnite und die Perioden, in dem Takt aber, die Zeiten des Auf- und Niederschlages. Alles was von dem natürlichen Ursprung dieser Dinge angemerkt worden, gilt auch von der gebundenen Rede, darinn der Vers mit [5] dem Takt, der Abschnit desselben mit den Zeiten des Takts, genau übereinkommen. Wie aber die ungebundene Rede weniger an einen bestimmten Wohlklang gebunden ist, als die Verse, so sind es diese vielweniger, als die Musik. Daher sie zwar ihre abgemessene Takte, aber nicht eben ihre gleichen Zeiten deßelben haben. In dem Takt sind die Zeiten überall durch das ganze Stück darinn er herrscht, vollkommen gleich, in dem Vers aber leidet der Abschnit eine Veränderung. Hiedurch ist also das Wesen und der Ursprung des Abschnits bestimmt.
Wer nicht auf die Natur der Musik, in welcher der wahre Ursprung des Verses und des Abschnits gegründet ist, zurück sehen will, der kann sich seinen Ursprung auch so vorstellen. Wenn wir Verse lesen, so müssen wir der Stimme außer den Wendungen, die ihr schon in der ungebundenen Rede zukommen, noch eine andre geben, die dem Gange des Verses eigen ist. In kurzen Versarten ist das Metrum hiezu hinlänglich, zumal, da dergleichen Verse insgemein durch ihre Ungleichheit eine angenehme Abwechselung machen. Längere Verse aber, zumal solche, die einerley Füße haben, wie unsre Alexandriner, erfodern mehr Abwechselung des Tons, der sich erst allmählig heben und denn wieder sinken muß, so wie im Fortschreiten der Fuß sich hebt und wieder sinkt.
Mit gleich starkem Athem ist es ohnedem nicht möglich einen ganzen Hexameter auszusprechen. Dieses, mit dem dunkeln Gefühl, daß ein solcher Vers zu lang sey, um durchaus mit einerley Stimme vorgetragen zu werden, macht, daß wir jeder Hälfte ihre besondere Schattirung der Stimme geben, wenn uns nur der Dichter die Gelegenheit dazu nicht gänzlich benommen hat. Sobald wir den Vers nicht mehr mit Wohlklang lesen, sondern Scandiren, so verliert sich der Abschnit ganz.
Allein da der Vers ein einziges unzertrennliches Glied ist, dessen Theile nicht von einander abgelöst sind, so muß der Abschnit so seyn, daß man bey der kleinen Ruhe, nach dem ersten Theil desselben, fühlt, es gehöre noch ein andrer Theil dazu. Dieses wird offenbar dadurch erhalten, daß der Abschnit mitten in einen Fuß fällt; denn dadurch werden wir gehindert zu lange auf dem Ruhepunkt zu verweilen, und das Ohr fühlt, daß noch etwas folgen müße. In dem Vers:
Du bringst früh oder späth – ein jedes Vornehmen zu Ende.
kann man sich nach späth einen Augenblick verweilen, um der Stimme zur andern Hälfte des Verses eine neue Modification zu geben; aber man fühlt bey dem Verweilen, da der dritte Fuß noch nicht ganz ausgesprochen ist, daß man noch nicht zum Ende des Taktes sey. Es ist daher eine Unvollkommenheit des Abschnitts, wenn derselbe nicht nur einen Fuß, sondern sogar einen völligen Sinn endiget; wie in dem halben Vers: Die Seele macht ihr Glück. Denn da könnte sich das Gefühl des Fortfahrens verlieren, und würde sich in der That verliehren, wenn wir nicht aus Liebe zum Wohlklang, ohne es zu wissen, diesen jambischen Vers, als einen trochäischen lesen würden, dem eine kurze Sylbe vorgesetzt ist.
Die | Seele | macht ihr | Glück; ihr | sind die | äussern | Sachen.
Auf diese Weise retten wir die völlige Trennung des Verses in zwey Verse. Man kann es also zur Regel machen, daß der Abschnit nicht an das Ende, sondern in die Mitte eines Fusses falle.
Da er auch nothwendig ein Verweilen verursachet, so ist ferner natürlich, daß er nach einer langen Sylbe stehe, weil sich diese zum Verweilen am besten schicket. Dieses nennt man einen männlichen Abschnit. Fällt er nach einer kurzen Sylbe, wie in diesen Versen:
Wie zärtlich klagt der Vogel, und ladet durch den Hayn,
Den kaum der Lenz verjüngert, sein künftig Weibchen ein!
so scheint es weniger natürlich, und würde beynahe ganz unmöglich fallen, wenn nicht der Dichter die Ruhe mit Gewalt hervorbrächte, indem er durch Einschiebung einer, in sein Metrum eigentlich nicht gehörigen, Sylbe, den Fluß des Verses unterbricht. Dadurch aber verfällt er in den andern Abweg, und macht in der That aus einem Vers zwey.
Es scheint aber, als wenn die Dauer oder der Nachdruck einer langen Sylbe noch nicht einmal hinlänglich zum Abschnit wäre, und daß er am Ende eines ganzen Wortes müße genommen werden: finitis partibus orationis fiunt, sagt Diomedes von den Abschniten. Daher kommt es, daß der Abschnit in den drey letzten, der oben aus der Noachide angezogenen Versen ziemlich zweydeutig wird. Der Grammatiker Diomedes sagt, daß die [6] Griechen den Abschnitt an vier verschiedenen Stellen gesetzt haben; allein die Regeln dienen hier zu nichts, wo der Dichter blos dem Gehör folgen kann. Mit dem Abschnit hat der Einschnit der ungebundenen Rede große Aehnlichkeit.
Abschnit in der Melodie. Der vollkommene Gesang muß eben so, wie jedes aus Theilen bestehende Schöne in, Glieder abgetheilt seyn4. Die Hauptglieder werden im Gesang, wie in der Rede, Perioden genennt, an deren Ende eine würkliche Ruhe ist. Die Perioden haben aber auch ihre Glieder, die sich durch kleine unvollkommene Ruhepunkte unterscheiden, bey denen man sich nicht verweilen kann, ohne zu merken, daß noch etwas fehlt. Man singe folgende Periode:
Das Ohr empfindet keine würkliche Ruhe, als bis der Gesang auf den letzten Ton gekommen ist. Sollte es aber in einer solchen Stätigkeit von Anfange bis dahin fortgehen, so wäre dieses Glied, oder diese ganze Periode zu lange, das Ohr würde ihren Gang nicht fassen. Der Tonsetzer hat dafür gesorget, daß diese zu lange Stätigkeit durch Abtheilung der Periode in kleinere Glieder unterbrochen werde. Man empfindet die Eintheilung der Perioden in vier Glieder, durch die Ruhepunkte, die man auf den ersten Tönen des zweyten, des dritten und des vierten Takts setzen kann.
Diese Abschnite haben eben den Ursprung, als die, davon im vorhergehenden Artikel gesprochen worden, daher haben sie auch dieselben Eigenschaften. Sie trennen das vorhergehende Glied von dem folgenden nicht, sie verstatten keine völlige Ruhe, sondern lassen das folgende erwarten; sie fallen auf lange nachdrückliche Sylben, sie können so wenig mitten in eine Figur, als jene mitten in ein Wort fallen. Die Abschnite in der Musik können durch die Verschiedenheit der Figuren, durch verschiedene Modificationen der Stimmen, durch Nachdruck auf gewissen Tönen, durch die Veränderung der Harmonie und andere Mittel bewürkt werden: sie können bald weiter aus einander, bald enger in einander stehen, und dadurch können sie einen sehr vortheilhaften Einfluß in den Ausdruck bekommen. In Singstücken müssen die Abschnite mit den Einschniten des Textes genau übereinkommen.5
Abschnite in der Baukunst, sind in der toscanischen Ordnung einiger Baumeister hervorstehende Theile an dem Fries, welche so wie die Dreyschlitze der dorischen Ordnung die Balken Köpfe des obersten Bodens vorstellen. Die Alten fielen nicht auf diese Abschnite, die Scamozzi zuerst, aber nur über jede Säule einen, angebracht hat. Dadurch hat er dieser ohnedem schon kahlen Ordnung ein noch magerers Ansehen gegeben. Mit mehr Geschmack hat Goldmann sie durch den ganzen Fries angebracht, und sie, weil sie eben so, wie die Dreyschlizze entstanden, auch denselbigen Regeln unterworfen.6
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