[20] Aesthetik.
Die Philosophie der schönen Künste, oder die Wissenschaft, welche sowol die allgemeine Theorie, als die Regeln der schönen Künste aus der Natur des Geschmaks herleitet. Das Wort bedeutet eigentlich die Wissenschaft der Empfindungen, welche in der griechischen Sprache [20] Αιϑησες genennt werden. Die Hauptabsicht der schönen Künste geht auf die Erwekung eines lebhaften Gefühls des Wahren und des Guten,1 also muß die Theorie derselben auf die Theorie der undeutlichen Erkenntniß und der Empfindungen gegründet seyn.
Aristoteles hat angemerkt, daß alle Künste vor der Theorie gewesen seyn. Auch die besondern Regeln sind eher bekant gewesen, als die allgemeinen Grundsätze, auf welche sie gebauet sind. Das glükliche Genie einiger Menschen hat verschiedene Werke hervor gebracht, welche gefielen, ehe man den Grund dieses Wohlgefallens erkannte. Aristoteles ist einer der ersten gewesen, der aus einzelnen Fällen Regeln hergeleitet: aber weder seine Dichtkunst, noch seine Redekunst, können als vollständige Theorien dieser Künste angesehen werden. In den besten Reden und Gedichten der ältern Griechen und seiner Zeitverwandten, hatte er dasjenige genau bemerkt, was allemal gefällt, und daraus Regeln gemacht. Er blieb bey der Empfindung stehen, ohne sich zu bemühen, den Grund derselben zu entdeken, und ohne zu untersuchen, ob die Redner oder Dichter alle Fächer der Kunst erfüllt haben, oder nicht.
Die Kunstrichter, welche nach diesem griechischen Weltweisen gekommen, haben seinen Fußstapfen gefolgt, neue Bemerkungen gemacht, die Anzahl der Regeln vermehrt, ohne neue Grundsätze zu entdeken. Unter den Neuern hat dü Bos, so viel ich weiß, zuerst versucht, die Theorie der Künste auf einen allgemeinen Grundsatz zu bauen, und aus demselben die Richtigkeit der Regeln zu zeigen.2 Das Bedürfniß, das jeder Mensch in gewissen Umständen fühlt, seine Gemüthskräfte zu beschäftigen, und seinen Empfindungen eine gewisse Thätigkeit zu geben, ist das Fundament seincr Theorie. Er hat sich aber begnügt, einige Hauptregeln auf dieses Fundament zu bauen, und ist im übrigen eben so empirisch verfahren, wie seine Vorgänger. Doch ist sein Werk voll fürtrefflicher Anmerkungen und Regeln.
Unser Baumgarten in Frankfurth ist der erste gewesen, der es gewagt hat, die ganze Philosophie der schönen Künste, welcher er den Namen Aesthetik gegeben hat, aus philosophischen Grundsätzen vorzutragen. Er setzt die Wolffische Lehre, von dem Ursprung der angenehmen Empfindung, den dieser Weltweise in der undeutlichen Erkenntniß der Vollkommenheit zu finden geglaubt hat, zum Voraus. In dem theoretischen Theil, dem einzigen, den er ans Licht gestellt hat, handelt dieser scharfsinnige Mann die ganze Lehre vom Schönen oder sinnlich Vollkommenen in allen seinen verschiedenen Arten ab, und zeiget überall die denselben entgegengesetzten Arten des Häßlichen. Es ist aber zu bedauren, daß seine allzu eingeschränkte Kenntniß der Künste ihm nicht erlaubt hat, die Theorie weiter, als auf die Beredsamkeit und Dichtkunst auszudehnen. Er hat auch bey weitem nicht alle Gestalten des Schönen beschrieben.
Man muß deswegen die Aesthetik unter die noch wenig ausgearbeiteten philosophischen Wissenschaften zählen. Da das gegenwärtige Werk nach der Absicht des Verfassers den ganzen Umfang dieser Wissenschaft enthalten sollte, wiewol es keine systematische Gestalt hat, so gehört die Entwiklung des Plans der Aesthetik hieher.
Zuförderst mußte die Absicht und das Wesen der schönen Künste festgesetzt werden.3 Nachdem gezeiget worden, daß die Lenkung des Gemüths, durch Erregung angenehmer und unangenehmer Empfindungen, die Hauptabsicht der schönen Künste sey, so mußte der Ursprung aller angenehmen und unangenehmen Empfindungen aus der Natur der Seele gezeiget, oder aus den Untersuchungen der Weltweisen angenommen werden.4 Hiernächst mußten nun die verschiedenen Hauptgattungen der angenehmen und unangenehmen Gegenstände angezeiget, und ihre Würkungen auf das Gemüth bestimmt werden.5 Die besonderen Arten des Angenehmen und Unangenehmen, bis auf die kleinesten Umstände, so viel deren, so wol durch die Theorie, als durch die aufmerksamste Betrachtung der Werke des Geschmaks, zu entdeken, oder auch blos zu errathen gewesen sind, mußten in hundert besondern Artikeln sorgfältig zergliedert werden. Alle diese Artikel zusammen machen den theoretischen Theil der Philosophie der Künste aus.
In dem praktischen Theil derselben mußten die verschiedenen Arten der schönen Künste angezeiget, der besondre Charakter und der Umfang einer jeden festgesetzt werden.6 Zugleich mußte die besondere Wendung des Genies, die nähere Bestimmung so wol des angebohrnen, als des durch Nachforschung und Unterricht angenommenen Geschmaks, der zu jeder besonders erfodert wird, beschrieben, die vornehmsten[21] Hülfsmittel, zu einer glüklichen Fertigkeit in jeder Kunst zu gelangen, angezeiget werden.7
Jede schöne Kunst bringt Werke hervor, welche in ihrer innerlichen Einrichtung und durch ihre näher bestimmte Endzweke sich von andern unterscheiden. Alle Arten derselben sind besonders beschrieben. So ist in Ansehung der Dichtkunst die Natur des epischen, des lyrischen, des lehrenden Gedichts und anderer Arten; in Ansehung der Mahlerey das historische, das allegorische, das moralische und andre Gemälde, besonders beschrieben, und der Charakter jeder Art aus sichern Grundsätzen bestimmt worden.
Aus diesen Quellen sind denn endlich die Regeln zur Ausführung der Kunstwerke hergeleitet worden; so wol die allgemeinen, zur Erfindung, Anordnung und einförmigen Bearbeitung des Ganzen, als die besondern von der Wahl oder Erfindung, von der Richtigkeit, der Uebereinstimmung und der bestimmten Würkung eines jeden einzelnen Theiles.
Dieses ist der Inhalt der ganzen Aesthetik, einer Wissenschaft, welche dem Künstler in der Erfindung, Anordnung und Ausführung seines Werks nützlich zu Hülfe kommen, den Liebhaber in seiner Beurtheilung leiten, und zugleich fähiger machen kann, allen Nutzen, auf den die Werke der Kunst abzielen, aus ihrem Genuß zu ziehen. Ein Nutzen, der die Absichten der Weltweisheit und der Sittenlehre vollendet.
Die Aesthetik gründet sich, so wie jede andre Theorie, auf wenige und einfache Grundsätze. Man muß aus der Psychologie wissen, wie die Empfindungen entstehen, wie sie angenehm oder unangenehm werden. Zwey oder drey Sätze, welche die allgemeine Auflösung dieser Fragen angiebt, sind die Grundsätze der Aesthetik. Aus diesen wird auf der einen Seite die Natur der ästhetischen Gegenstände bestimmt; auf der andern aber die Art oder das Gesetz, nach welchem sie sich dem Geiste vorstellen müssen, oder die Lage des Gemüthes, um ihre Würkung zu empfinden. Dieses alles kann auf wenige Sätze gebracht werden, welche hinlänglich wären, jeden guten Kopf bey Verfertigung eines Werks der Kunst zu leiten.
Es ist mit dieser Wissenschaft, wie mit der Vernunftlehre, deren Grundsätze, wenig und einfach sind. Aristoteles, der diese wenige Grundsätze auf alle mögliche besondere Fälle angewendet, und alle mögliche Abweichungen davon entwikelt hat, gab der Philosophie eine Vernunftlehre, die vollständig, aber wegen der großen Mannigfaltigkeit der Fälle, worauf die Grundsätze angewendet wurden, mit einer erstaunlichen Menge Kunstwörter und besonderer Regeln angefüllt war. Der Schwarm der nach ihm gekommenen Philosophen vom zweyten Rang, übersah das Einfache darinn, und die Terminologie vertrat die Stelle der Wissenschaft.
Soll die Aesthetik nicht in einen bloßen Wortkram ausarten, welches Schiksal die Logik und die Moral unter den Händen der Scholastiker erfahren haben; so muß man sehr sorgfältig bey jeder Gelegenheit die abgezogenen Begriffe auf die besondern Fälle, wodurch sie veranlasset worden, und ohne welche sie selbst keine Realität haben, zurüke führen. Jedes System von allgemeinen Begriffen wird ohne diese Vorsichtigkeit zu einem bloßen Lustgebäude, in welchem seichte Köpfe bauen, niederreißen und viel alberne Veranstaltungen machen, die den Verordnungen eines blödsinnigen Kopfes gleichen, der im Tollhaus sich einbildet, ein Regent und Gesetzgeber zu seyn.
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