Beweisarten

[160] Beweisarten.

Es ist nicht genug, daß der Redner die Gründe gefunden habe aus welchen die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit einer Sache erkennt wird; er muß diese Gründe so zu behandeln und so vorzutragen wissen, daß sie ihre völlige Würkung thun; dieses ist eigentlich das vornehmste in der Kunst zu beweisen.1 Die Beweisgründe hat der Redner mit dem Philosophen und mit dem gemeinen Mann gemein; aber ihre Behandlung, die Art sich ihrer zu bedienen, ist ihm eigen. Dadurch kann er sich als einen großen Redner zeigen, daß er so gründlich als der Weltweise, obgleich nicht so abstrakt und nicht so genau methodisch; so einfach, als der gemeine Mann, aber nicht so nachläßig und so wankend in seinen Beweisen ist.

Zu dieser rednerischen Behandlung der Beweise gehören verschiedene Dinge; die Form des Beweises an sich selbst; die Ausziehrung und Ausführung; der Ton und Vortrag desselben. Hier ist von dem ersten Punkt, nämlich der Form des Beweises die Rede.

Die Beweisarten sind für den Redner dieselben, die der Philosoph braucht; alle Arten der Vernunftschlüße nach ihren mannigfaltigen Formen und Gestalten. Jede Rede, oder ein Theil derselben, darin der Beweis einer Sache ausgeführt wird, muß sich in einen Vernunftschluß auflösen lassen, der, wenn der Redner gründlich gewesen ist, so wol in der Materie, als in der Form seine völlige Richtigkeit habe. Nun giebt es, wie bekannt, ungemein viel Arten solcher Vernunftschlüsse, deren jeder seine eigene Form und Gestalt hat. Der Redner muß diejenige zu wählen wissen, die der besondern Beschaffenheit seiner Materie am gemäßesten und zugleich für seine Zuhörer die einleuchtendste ist. Der Philosoph sieht in der Wahl der Beweisart auf Kürze und Deutlichkeit, der Redner aber auf Klarheit und Sinnlichkeit.

Also ist der Grundriß einer jeden Abhandlung der beweisenden Rede, oder eines Haupttheils desselben allemal ein Vernunftschluß von drey oder von zwey Sätzen. Diesen zu erfinden ist die erste Arbeit des Redners. Wenn Cicero gegen den Cecilius beweisen will, daß er und nicht dieser zum [160] Ankläger des Verres müsse bestellt werden, so macht er diesen Vernunftschluß. »Wen der Beleidigte zum Ankläger seines Feindes haben will, der muß ihm auch gegeben werden. Nun verlangen die Einwohner Siciliens mich und keinen andern; also muß ich die Klage gegen den Verres führen.« Der erste Theil der Rede ist eine Ausführung dieses Vernunftschlusses, und so verhält es sich mit jeder beweisenden Rede.

Da es unendlich weitläuftig seyn würde, Regeln für die Wahl jeder besondern Form der Vernunftschlüsse zu suchen, so begnügen wir uns, die zwey Hauptarten der Beweise näher zu betrachten, und das wesentlichste, was der Redner dabey zu bedenken hat, anzuführen.

Die zwey Hauptarten der Beweise sind die, welche Cicero mit dem Namen Inductio und Ratiocinatio bezeichnet.2 Die erstere besteht darin, daß man aus ähnlichen Fällen schließt; die andere schließt aus der nothwendigen Verbindung der Begriffe.

Die Induction besteht also darin, daß man für die Wahrheit, welche man beweisen will, Fälle aussucht, in welchen dieselbe ganz unzweifelhaft und offenbar ist, hernach aus diesen besondern Fällen entweder einen allgemeinen, oder auf einen andern besondern, jenen ähnlichen Fall, passenden Schluß macht. Dergleichen ist dieses:

»Wenn ein junger Mensch von einem Flötenspieler in seiner Kunst so unterrichtet worden ist, daß er schon sehr gut gespielet hat, hernach aber von einem schlechten Spieler wieder verdorben worden ist; kann man denn die Schuld, daß er schlecht spielt, auf den ersten Meister legen? – Keinesweges. Oder wenn ein Hofmeister seinem Untergebenen gute und bescheidene Sitten angewöhnt hat, dieser aber sich hernach durch andere wieder zu schlechten und groben Sitten hat verführen lassen, wird man dieser Sitten halber den ersten Hofmeister beschuldigen? – Gewiß nicht. So wird man auch dem Sokrates die Schuld nicht beymessen können, daß die Jünglinge, denen er Lust zur Tugend gemacht hat, nachher von andern verführt worden.«3 Dieses ist die Beweisart, deren sich Sokrates mit so glücklichem Erfolg bedient hat. Ihr größter Vortheil besteht darin, daß sie die Erkenntniß der Wahrheit in ein Gefühl derselben verwandelt. Sie schikt sich sowol für einfältige als gelehrte Zuhörer: jenen wird sie durch ihre Faßlichkeit angenehm, diesen durch das lebhafte Gefühl der Wahrheit und durch den Reiz der Aehnlichkeit.4 Mit der Fabel und mit der Allegorie kommt sie darin überein, daß sie ein lebhaftes und unwandelbares Gefühl der Wahrheit erweket.

Die Induktion kann verschiedene Gestalten annehmen. Sokrates kleidete sie fast allezeit in Fragen ein, so wie es sich zur Beredsamkeit des Umganges am besten schiket. Die Moralisten geben ihr auch eine andere Form, indem sie einen oder mehr ähnliche Fälle, an denen die Wahrheit leicht zu fühlen ist, als Beschreibungen, Gemählde oder Erzählungen, anbringen und so zeichnen, daß der Zuhörer alles vor sich zu sehen glaubt.

Bey Behandlung dieser Beweisart hat der Redner vornehmlich auf folgende Dinge zu sehen: 1. daß die Wahrheit, wovon er überzeugen will, in den ähnlichen Fällen, die er anführt, völlig offenbar sey. 2. Daß diese Fälle eine vollkommene Aehnlichkeit mit dem Falle haben, über welchen eigentlich das Urtheil des Zuhörers soll festgesetzt werden. 3. Daß dieser nicht gleich merke, wohin die angeführten ähnlichen Fälle zielen, damit er desto freyer von allem Vorurtheil, sich dem Gefühl des Wahren überlasse.

Dazu gehören besondere rednerische Gaben, die vielleicht seltener sind, als irgend ein anderes Talent des Redners. So wenig glänzendes die vollkommene Induction hat, so schweer ist es, dieselbe zu erreichen. Wer nicht vorzüglich die Gabe hat, von den gemeinesten Dingen, nicht nur ohne Niedrigkeit, sondern interessant zu sprechen, muß sich nicht daran wagen; denn die ähnlichen Fälle müssen nothwendig von Dingen hergenommen werden, die täglich vorkommen, die also nicht den geringsten Reiz haben, als den sie durch die Kunst des Redners bekommen.

Die zweyte Hauptart der Beweise ist die, welche durch Entwiklung der Begriffe zum Zwek kommt. (Ratiocinatio) Diese haben die Gestalt eines förmlichen und vollständigen Vernunftschlusses (Syllogismus), der aus zwey Vordersätzen und dem daraus fliessenden Schlußsatz besteht. Diese Beweisart ist demnach nicht so popular, als die erstere; sie ist mehr philosophisch, als rednerisch. Die ganze Abhandlung der Rede, in der ein solcher Beweis geführt wird, muß sich auf drey Sätze bringen lassen. Die beyden Vordersätze müssen, wie aus der Vernunftlehre bekannt ist, unläugbar seyn, wenn die [161] Ueberzeugung folgen soll. Daher entstehen also bey dieser Beweisart die fünf Theile der Abhandlung, deren Nothwendigkeit Cicero gegen einige Lehrer der Redner behauptet.5 Der erste Theil enthält den deutlichen Vortrag des Obersatzes. Der zweyte Theil enthält die vollkommene Bestätigung dieses Satzes. Wenn diese so vollendet ist, daß kein Zweifel übrig bleiben kann, so folget der Untersatz, als der dritte Theil; hierauf dessen Bestätigung, die den vierten Theil ausmacht, und endlich der Schluß, als der fünfte Theil. Der zweyte und vierte Theil sind die wichtigsten; deswegen auch die Redner allemal den größten Fleiß auf dieselben wenden.

Diese Beweisart behandelt der Redner anders als der Philosoph, indem er die Begriffe nie bis auf ihre einfachesten Theile entwikelt. Er bleibt bey blos klaren Begriffen stehen, wenn er sie nur dem anschauenden Erkenntniß fühlbar genug machen kann. Hauptsächlich aber unterscheidet er sich durch die Erweiterung seiner Sätze und durch die Art, die Begriffe festzusetzen. Der Philosoph begnügt sich, jeden der drey Sätze seiner Vernunftschlüsse kurz und bestimmt durch das Subjekt und das Prädicat auszudruken. Der Redner drukt den Satz auf mehrere Arten, durch Umschreibung und durch Erweiterung aus; er wiederholt ihn mit andern Worten und in andern Wendungen; er sucht ihn nicht nur dem Verstand, sondern so viel möglich auch der Einbildungskraft und dem Gefühl einzuprägen. In Entwiklung der Begriffe bleibt der Redner bey dem Zusammengesetzten stehen, wo der Philosoph alles, bis auf das Einfache, zergliedert: eine Beschreibung, ein Gemähld, ein Beyspiel, oder ein Bild dienet ihm statt einer Erklärung, wenn nur der Begriff dadurch einen grossen Grad der Klarheit bekommt. Der Philosoph begnüget sich mit einem Beweisgrund zur Bestätigung eines Satzes, er scheinet gegen seine Zuhörer ganz gleichgültig zu seyn; der Redner führt mehrere an, um das ganze Gemüth von der Wahrheit der Sache einzunehmen; ihm ist daran gelegen, daß seine Zuhörer so lange bey jeder Sache verweilen, bis sie sich mit aller möglichen Kraft dem Gemüthe eingeprägt hat. Er läßt kein Mittel unversucht, der Wahrheit neue Kraft zu geben, und füget einen pathetischen Beweis hinzu. Dieser besteht darin, daß in dem Zuhörer solche Leidenschaften erwekt werden, die für den Schluß sprechen; Mitleiden mit dem Beklagten, Zorn gegen den Ankläger etc. So macht er aus einem Vernunftschluß, den der Philosoph in einem Athem vorbringt, eine lange Rede, in welcher wechselsweise Verstand, Einbildungskraft und Empfindung für die Wahrheit der Sachen intereßirt werden.

1Est prudentiæ pæne mediocris, quid dicendum sit videre; alterum est in quo oratoris vis illa divina virtusque cernitur, ea quæ dicenda sunt copiose, ornate, varieque posse dicere. Cic.
2Omnis igitur ratiocinatio aut per inductionem tractanda est, aut per ratio cinationem. de Invent. L. I.
3S. Xenophons Memor. Socr. L. I.
4S. Aehnlichkeit.
5De Invent. L. I.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 160-162.
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