Einheit

[302] Einheit. (Schöne Künste)

Dasjenige, wodurch wir uns viel Dinge als Theile eines Dinges vorstellen. Sie entsteht aus einer Verbindung der Theile, die uns hindert einen Theil als etwas Ganzes anzusehen. Viele auf einem Tisch neben einander stehende Gefäße, die man blos zum Aufbehalten dahin gesezt hat, haben keine Verbindung unter einander; man kann jedes für sich, als etwas Ganzes betrachten: hingegen haben die verschiedenen Räder und andere Theile einer Uhr eine solche Verbindung unter einander, daß eines allein, von den übrigen abgesöndert, nichts Ganzes ist, sondern ein Theil von etwas anderm. Also ist in der Uhr Einheit; in den auf einem Tische zusammengestellten Gefäßen aber ist keine Einheit.

Eigentlich ist das Wesen eines Dinges der Grund seiner Einheit, weil in dem Wesen der Grund liegt, warum jeder Theil da ist, und weil eben dieses Wesen eine Veränderung leiden würde, wenn ein Theil nicht da wäre. Also ist Einheit in jeder Sache, die ein Wesen hat, folglich in jeder Sache, von der es möglich ist zu sagen, oder zu begreifen, was sie seyn soll. Daß eine solche Sache das ist, was sie seyn soll, kommt daher, daß alles was dazu gehöret, würklich in ihr vorhanden ist.

Also ist die Einheit der Grund der Vollkommenheit und der Schönheit; denn vollkommen ist das, was gänzlich und ohne Mangel das ist, was es seyn soll; schön ist das, dessen Vollkommenheit man sinnlich fühlt oder empfindet.1 Daher also kommt es, daß uns von Gegenständen unsrer Betrachtung nichts gefallen kann, darin keine Einheit ist, oder dessen Einheit wir nicht erkennen, weil wir in diesem Fall nicht beurtheilen können, ob die Sache das ist, was sie seyn soll. Wenn uns irgend ein Werkzeug gewiesen würde, von dessen Gebrauch wir uns gar keine Vorstellung machen können, so werden wir niemal ein Urtheil darüber fällen, ob es vollkommen oder unvollkommen sey. So ist es mit allen Dingen, deren Betrachtung Gefallen oder Mißfallen erwekt. So oft unsere Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand gerichtet wird, so haben wir entweder schon einen hellen oder dunkeln Begriff von seinem Wesen, nämlich von dem was er seyn soll, oder wir bilden uns erst einen solchen Begriff. Mit diesem Ideal vergleichen wir die vorhandene Sache, eben so, wie wir ein Bildniß mit dem Begriff, den wir von dem Original haben, vergleichen. Die Uebereinkunft des Würklichen mit dem Idealen erwekt Wolgefallen, die Abweichung des Würklichen vom Idealen erwekt Mißfallen, weil wir einen Widerspruch entdeken, und, welches uns unmöglich ist, auf einmal zwey sich widersprechende Dinge uns vorstellen sollen.

Diese Entwiklung der zur Einheit gehörigen Begriffe hat das Ansehen einer Subtilität; sie ist aber zu genauer Bestimmung einiger Grundbegriffe der Aesthetik nothwendig. Wenn die Philosophen sagen, die Vollkommenheit, und in ganz sinnlichen Sachen die Schönheit, bestehe aus Mannigfaltigkeit in Einheit verbunden, so kann der Künstler durch Hülfe der vorhergegebenen Entwiklung diese Erklärung leicht fassen. Er sagt sich, daß jedes Werk, das vollkommen oder das schön seyn soll, ein bestimmtes Wesen haben müsse, wodurch es zu Einem Ding wird, davon man sich einen bestimmten Begriff machen kann; daß die mannigfaltigen Theile desselben so seyn müssen, daß eben dadurch das Werk zu dem Ding wird, das es nach jenem Begriff seyn soll. So wird der Baumeister, wenn ihm aufgetragen [302] wird, ein Gebäude zu entwerfen, sich zuerst bemühen, den Begriff desselben bestimmt zu bilden; hernach wird er die mannigfaltigen Theile des Gebäudes so erfinden und so zusammen ordnen, daß aus ihrer Vereinigung das Gebäude gerade zu dem wird, was es seyn sollte. Der Mahler wird zuerst sich angelegen seyn lassen, den Begriff der Sache, die er vorstellen soll, festzusetzen; hernach wird er in seiner Einbildungskraft jedes einzele aufsuchen, wodurch die Sache dazu wird, was sie seyn soll.

Der Begriff von dem Wesen einer Sache, wodurch sie die Einheit bekommt, ist nicht immer klar, und es ist auch zu Bemerkung der Vollkommenheit oder Schönheit einer Sache nicht allemal nothwendig; er kann ziemlich dunkel und dennoch hinreichend seyn, die Vollkommenheit und Schönheit der Sache zu empfinden. So empfinden wir die Vollkommenheit und Schönheit des menschlichen Körpers bey einer sehr dunkeln Vorstellung seines Wesens2. Eben so kann ein blos dunkeler Begriff von einer gewissen Lage des Gemüths schon hinlänglich seyn, daß wir einen Gesang, eine Ode, oder eine Elegie, welche diese Gemüthslage ausdruken soll, sehr schön finden. Aber, wo wir uns gar keinen Begriff von Einheit machen können, wo wir gar nicht fühlen, wie das Mannigfaltige, das wir sehen, sich zusammen schikt, da können uns einzele Theile gefallen, aber der ganze Gegenstand kann kein Wolgefallen in uns erweken.

Hieraus folget denn auch dieses, daß jeder einzele Theil eines Werks, der in den Begriff des Ganzen nicht hineinpaßt, der keine Verbindung mit den andern hat, und also der Einheit entgegen steht, eine Unvollkommenheit und ein Uebelstand sey, der auch Mißfallen erweket. So macht in einer Erzählung ein Umstand, der zu dem Geist der Sache, zu dem Wesentlichen nichts beyträgt; im Drama eine Person, die mit den übrigen gar nicht zusammenpaßt, einen Fehler gegen die Einheit.

Ein noch weit beträchtlicherer Fehler aber ist es, wenn mehr wesentliche Einheiten blos zufällig in ein einziges Werk verbunden werden. Ein solches Werk beruhet auf zwey Hauptvorstellungen, die keine Verbindung, als etwa eine blos zufällige, unter einander haben, die doch auf einmal sollten in eine einzige Vorstellung zusammen begriffen werden. Da ist es unmöglich zu sagen, was das Werk seyn soll. Zu einem Beyspiel hievon kann das berühmte Gemählde des großen Raphaels von der Verklärung Christi angeführet werden, oder das Gemählde des Ludwig Caraccio, da der Erzengel Michael die gefallenen Geister in den Abgrund stürzt, zugleich aber der Ritter St. George den Drachen umbringt. So ist in manchem Drama mehr als eine Handlung, daß es unmöglich wird zu sagen, was das Ganze seyn soll.

Alles, was bis dahin über die Einheit angemerkt worden ist, betrift die Einheit des Wesens eines Gegenstandes. Es giebt aber ausser dieser Einheit noch andre, die man einigermaaßen zufällige Einheiten nennen könnte. So könnte ein historisches Gemähld in Ansehung der Personen und der Handlung eine völlige Einheit haben, und in zufälligen Dingen ganz ohne Einheit seyn; der Mahler könnte z. E. für jede Figur ein besonders einfallendes Licht annehmen, und dadurch würde die Einheit der Erleuchtung aufgehoben; oder er könnte für jede Gruppe des Gemähldes einen besondern Ton der Farbe wählen. Auch in dem Zufälligen beleidiget der Mangel der Einheit. Denn indem wir eine Geschichte vorgestellt sehen, so entsteht auch zugleich in uns der Begriff von der Einheit des Orts und der Zeit. Findet sich nun in dem, was wir sehen, etwas, das diesen Begriffen widerspricht, so müssen wir nothwendig Mißfallen daran empfinden. Also muß sich der Künstler, der ein vollkommenes Werk machen will, nicht nur die Einheit seines Wesens, sondern auch die Einheit des Zufälligen bestimmt vorstellen.

Aus den hier angeführten Anmerkungen läßt sich leicht abnehmen, daß auch zu Beurtheilung eines Werks die Entdekung oder Bemerkung seines Wesens und seiner daher entstehenden Einheit schlechterdings nothwendig ist. Wer nicht, wenigstens dunkel, fühlt, was ein Ding seyn soll, und wohin das einzele darin sich vereiniget, der kann seine Vollkommenheit weder erkennen noch empfinden. Daher kommt es ohne Zweifel, daß über eine Sache oft so sehr verschiedene Urtheile gefällt werden. Ohne allen Zweifel beurtheilen wir jede Sache nach einem Idealbegriff, der in uns liegt, nach welchem wir jedes, das in der Sache ist, als dahin einpassend oder ihm widersprechend annehmen oder verwerfen. Wer sich ein solches Ideal nicht bilden kann, der weiß auch nicht, woher er jedes, das er hört oder sieht, beurtheilen soll. Daher bemerkt er blos den Eindruk jedes einzelen Theiles, als eines für sich [303] bestehenden Dinges. Ist er damit zufrieden, so urtheilt er, daß auch das Ganze schön sey. Auf diese Art findet mancher eine Rede schön, weil ihm darin viel einzele Redensarten und Ausdrüke an und für sich selbst gefallen; da ein anderer, der einen gänzlichen Mangel des Plans im Ganzen entdekt, diese Rede mit großem Mißfallen anhöret.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 302-304.
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