Entsetzen

[325] Entsetzen. (Schöne Künste)

Ist ein sehr hoher Grad des Schrekens, und also, wie alle Leidenschaften, ein Gegenstand der schönen Künste. Das Entsetzen wird entweder abgebildet, oder es wird durch entsetzliche Gegenstände erweket: das letztere kann nur im Drama oder in der Rede geschehen; denn keine bloße Beschreibung, auch des entsetzlichsten Gegenstandes, wird ein würkliches Entsetzen verursachen; man fühlt blos ein Schaudern, ohne würkliches Schreken. So ließt man in der Odyssee die entsetzliche Scene, die Ulysses in der Höhle des Cyclopen hat ansehen müssen, ohne alles Entsetzen. Nichts könnte entsetzlicher seyn, als die erstaunlichen Scenen der einbrechenden Sündfluth, wie sie in dem achten und neunten Gesang der Noachide beschrieben werden. Um auch zugleich Beyspiele zu geben, wie das Entsetzliche groß zu beschreiben sey, wollen wir einige Stellen dieser Beschreibung hersetzen:


Furchtsam schwebte der Mond im Weste, der Spiegel der Sonne;

Damals mit voller Scheibe –– –– ––

–– –– Statt Licht der Erde zu bringen,

Und für die Menschen Trost, vermehrt er die Schreken des Himmels;

Denn er entwarff in dem Dunstkreis der Erd' ungeheure Gesichte;

Welche die Furcht noch furchtbarer mahlte; Gestalten des Todes,

Sebel und Pfeil und Wagen mit Sensen, und Baaren mit Leichen.

Ueber der Luft und dem Land saß taub, und Unglückweissagend

Fürchterlich Schweigen. ––

–– –– Einbrechende Kälte

Zeugt in dem warmen Clima den Winter; die Thiere des Feldes

Rochen den Tod, der über sie schwebt' und heulten gen Himmel.

Aengstlich reketen diese den spitzigen Kopf aus der Höle,

Andre liefen die Läng' und die Queer, itzt vorwärts, dann rükwärts,

Ohne Ruhe; noch andere drängten sich dicht an einander.

–– –– –– ––

–– Da verließen die Wasser des Oceans ihre Gestade,

Hoben den Rüken empor und schwellten gegen den Stern auf.


Von der Gewalt in der Grundlag' unwiderstehlich erschüttert,

Fielen die Thürme zu Trümmern; die Tempel und hohen Palläste,

Hügel sanken auf Hügel, und Klippen stießen an Klippen.

Als die Planeten so kämpften, zerriß der Dunstball des Schweifsterns. [325] Seiten wie vorgebürgte Gestad' entschlüpften zur Erden,

Wanden um sie sich herum, in schwarzen wolkigten Schläuchen.

–– –– –– ––

Niemals zuvor, noch hernach, hieng solcher eiserner Himmel

Ueber dem Land.


Oefters erhellte die tödtlichen Schatten ein schlängelndes Blitzen

Breit wie ein Strohm und kreuzend vom Aufgang zum Untergang; Donner

Brüllten mit schmetternder Stimm' und unter die Stimme des Donners

Heulte Verzweiflung. Der Tod war in allen Gestalten vorhanden;

Hing in der Luft, und wühlt in der Erd und stürmte vom Meer her;

Wo man hinsah', da droht' allgegenwärtig sein Antlitz.

Aber itzt rissen die Bande der Wolken, die Urnen und Schläuche

Thaten sich auf und gossen cometische Meere hinunter.

Wen nicht die Erde begrub, den ergriffen die Fluthen, sie schleppten

Unerbittlich zum Tod Nationen von Menschen und Thieren.

Von der gehörnten Fluth gespart, auf Berge geflohen

Standen da dünne Schaaren, den Tod nur länger zu schmeken;

Käuchten nach Luft und umschlangen mit beyden Armen die Bäume.

Eine Frist von drey Athemzügen vom Tod zu gewinnen.

Ueber sie rauschte die Fluth mit Riesenschritten; nicht müde

Bis sie die Erde durchwandert hatte, von Pole zu Pole.


Eben so groß ist die Beschreibung der über die Einwohner der Thamista einbrechenden Fluth im IX Gesange.


Als mit dem dämmernden Abend die Nacht vom Abgrund herauf kam,

Hörten sie tief ein dumpfig Gebrüll, das unter der Erde

Kreuzend von Süden nach West hinrollte; von fiebrischem Aufruhr

Bebte die Erde, die Thürmer wankten, wie Trunkene wanken.

Hier und da schwoll das Land, und neue Hügel entstanden,

Die bald rissen und dike cylindrische Säulen gen Himmel

Bleyrecht thürmten; die spaltenden schwarzen Gipfel

Sprützeten Ströhme Gewässers von sich, mit wildem Getöse.

–– –– –– ––

Bald kam schwärzer, als Nacht, von Wirbelwinden getrieben,

Ueber das Land ein eiserner Himmel, und Wolken auf Wolken

Hiengen herab, zusammen gebirgt. Die Menschen auf Erden

Sahen sie hangen, sie sahen die Stirne des Tods in dem Anblik.

Plötzlich zerrissen die äußersten Bande der Wolken, sie platzten

Aufgelöset mit fallenden Seen zur Erde: der Regen

Zog ungeheure Furchen in Auen und sandigten Ebnen,

Neue Bette von Ströhmen, die ihre Gestade verließen,

Und nach kurzem in Meere verwandelt, die Felder bedeckten.

–– –– –– ––

Von der Verzweiflung betäubt, von aller Hülfe verlassen,

Stand Thamista mit stummer Erwartung daniedergeschlagen.

Denn wem wollten sie flehn? –– ––

–– –– –– ––

Wenn sie die Hände noch rungen, die Brust im Staube sich schlugen

Wars nur ein blinder Trieb und ein Winseln ohne Gedanken.

–– –– –– ––

Von der Furcht von der Zukunft betäubt, vom Troste verlassen,

Wünschten sie winselnd den Tod und flohn ihn mitten im Wünschen.

–– –– –– ––

Unter dem Winseln der Sünder vergaß die Fluth nicht zu steigen,

Nicht, sie mit ehernen Hörnern zu fassen und dahin zu reißen,

Wo der Tod sie mit unersättlicher Mordlust erwartet.


Man wird schweerlich etwas Entsetzlicheres erdenken, als die hier beschriebenen Scenen; aber, wie schon gesagt worden, die Beschreibungen des Entsetzlichen erweken nur Schaudern und Bewundrung. Der Dichter muß das Entsetzliche eben so brauchen, wie die Natur das Schrekhafte überhaupt braucht, den Menschen von verderblichen Dingen abzuschreken. Die Natur erwekt Schreken und Entsetzen da, wo der Mensch etwas, das plötzlich seinem Leben droht, gewahr wird; der Dichter muß dasselbe erweken, wo er Gefahr läuft in große Verbrechen zu fallen.

Verschiedene Kunstrichter sprechen von den schönen und lebhaften poetischen Schilderungen solcher Gegenstände, die in der Natur traurige oder ängstliche Empfindungen oder gar Entsetzen erweken, auf eine Weise, als wenn sie glaubten, der Dichter müßte sie blos zur Belustigung seiner Leser brauchen, so wie etwa ein Mahler durch eine sehr gute [326] Abbildung eines häßlichen oder fürchterlichen Thieres zu gefallen sucht. Es ist nicht zu leugnen, daß dergleichen Schilderungen gefallen; nicht nur, weil man die Kunst darin bewundert, sondern auch, weil man überhaupt an aufwallenden Empfindungen, die nur eingebildete, aber uns mit keinem Uebel drohende Gegenstände zum Grunde haben, ein Gefallen hat. Allein es ist schon anderswo1 angemerkt worden, daß dieses doch der geringste oder unerheblichste Gebrauch ist, den Künstler aus ihrem Vermögen, Empfindungen zu erweken, machen können. Weit wichtiger ist es also, daß in den Künsten, so wie in der Natur, die Empfindungen zu ihrem wahren Endzwek gebraucht werden.

So hat Aeschylus das Entsetzen in seinen Eumeniden gebraucht, um tiefe Eindrüke des Abscheues für das erstaunliche Verbrechen des Orestes, der seine Mutter ermordet hatte, in seinen Zuschauern zu erweken, und so braucht es auch Shekesspear in verschiedenen seiner Trauerspiele.

Es ist vorher angemerkt worden, daß die Beschreibung entsetzlicher Gegenstände kein würkliches Entsetzen mache, also hat der Dichter nicht leicht zu befürchten, daß er damit zu stark rühren werde; wenn er nur das Entsetzliche nicht durch solche Gegenstände zu schildern sucht, die einen physischen Ekel oder Abscheu erweken. Hierüber findet man verschiedene richtige Betrachtungen in den Briefen über die neueste Litteratur.2 Horaz hat in Rüksicht auf diese Mäßigung des Entsetzlichen gesagt:


Nec pueros coram populo Medea trucidet.


und in dem angezeigten Werk wird hierüber diese gründliche Bemerkung gemacht, daß durch dergleichen Vorstellungen das Pantomimische der Poesie die Aufmerksamkeit entzieht, und sich derselben zu ihrem eigenen Besten bemeistert; daß gewaltsame sinnliche Handlungen durch ihre Gegenwart alle Täuschungen der Dichtkunst verdunkeln. Man könnte noch einen andern Grund hinzuthun, der auch zugleich begreiflich macht, in welchen Fällen überhaupt eine große Mäßigung im Entsetzlichen statt habe. Nämlich, wie Solon zur Bestrafung der Vatermörder kein Gesetz gemacht hat, weil er glaubte, der bloße Begriff dieses Verbrechens sey hinlänglich, einen Athenienser davon abzuschreken, so ist es auch mit manchen andern Dingen beschaffen, davon man nicht nöthig hat, die Menschen durch ein künstlich erregtes Entsetzen abzuschreken. So haben die Menschen einen natürlichen Abscheu vor dem Tode, deswegen ist es nicht nöthig ihn in seiner entsetzlichsten Gestalt vorzustellen. Jederman fürchtet sich vor starken Verletzungen der Gliedmaaßen, und braucht darin nicht durch Abbildung eines von Wunden bedekten Menschen bestärkt zu werden. So verhält sich die Sache mit verschiedenen Arten des Entsetzlichen, das unlängst gegen allen Geschmak und gegen die gesunde Critik verschiedentlich auf den französischen und deutschen Schaubühnen ist eingeführt worden. Der bloße Begriff, daß ein Vater den Gedanken bekommt sein geliebtes Kind, um es für der großen Noth, die er selbst fühlt, zu bewahren, umzubringen, ist entsetzlich genug, und der ist ein Barbar und ein ganz unempfindlicher Mensch, der nöthig hat, um dieses Entsetzen recht zu fühlen, die Handlung selbst zu sehen, oder im epischen Gedicht eine lebhafte Beschreibung davon zu lesen.

Also müssen gewisse ganz abscheuliche Dinge, deren bloßer Begriff hinlänglich schrekt, nie lebhaft beschrieben, viel weniger im Gemähld oder gar auf der Schaubühne vorgestellt werden, wo man das Auge davon wegwendet, und also nicht einmal die eigentliche Empfindung, die der Künstler hat erweken wollen, gehörig bekommt. Es ist eine große Schwachheit zu glauben, daß man durch dergleichen Dinge rührender werde, da man blos ekelhaft wird. Wer für Canibalen arbeitet, mag solche gewaltsame Mittel zu rühren vielleicht nöthig haben; aber wer es mit Menschen zu thun hat, deren Gefühl schon etwas verfeinert ist, der scheucht sie mit solchen Dingen von der Bühne weg. Es ist gerade damit, wie mit einer ganz entgegen gesetzten Empfindung, nämlich der Wollust. Wer nur einigermaaßen ein feines Gefühl hat, wird die Gegenstände der Wollust allemal gern mit einem Schleyer bedekt sehen; so bald man ihn durch Wegrükung desselben auf das stärkste rühren will, wird er abgeschrekt und bekommt Ekel für Begierde. Nur ganz grobe Seelen, oder so sehr abgenuzte Wollüstlinge, deren Gefühl durch übertriebenen Genuß völlig stumpf worden, haben so starke Reizungen nöthig. Für solche grobe Seelen sehen uns die an, die uns nie durch feinere Gegenstände rühren, sondern durch die gröbsten erschüttern wollen. Sie gleichen den Köchen, die für ihre schwelgerischen Herren alles [327] mit beissenden Gewürzen zu rechte machen müssen, weil sie sonst gar nichts davon schmeken.

1S. Empfindung.
2im V Th. Br. 83. 84.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 325-328.
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325 | 326 | 327 | 328
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