Odyssee

Odyssee. (Dichtkunst)

Das zweyte epische Gedicht des Homers, von einem ganz andern Charakter, als die Ilias. Diese beschäftiget sich mit öffentlichen Handlungen, mit Charakteren öffentlicher Personen: die Odyssee geht auf das Privatleben, dessen mannigfaltige Vorfälle, und die in demselben nothwendige Weisheit. Wie die Ilias alle Affekte öffentlicher Personen schildert, so liegen in der Odyssee alle häuslichen und Privataffekte; das ganze Werk sollte moralisch und politisch seyn, Leute von allerley Ständen zu unterrichten. Ulysses selbst wird in das gemeine Leben heruntergesetzt. Also ist der ganze Ton der Odyssee um ein merkliches tiefer gestimmt, als in der Ilias. Aber wenn man sie durchgelesen hat, so ist man von dem Charakter des Ulysses eben so immerwährend durchdrungen, als von dem Charakter des Achilles, nachdem [839] man die Ilias gelesen hat. Es ist sehr offenbar, daß die große Ungleichheit zwischen beyden Gedichten in den verschiedenen Absichten des Dichters und nicht in dem Abnehmen seines Genies liegt. Die Odyssee sollte ihre eigene Natur, ihren eigenen Plan haben. Hier ist indessen dieselbe Mannigfaltigkeit der Charakter, eben die genaue Zeichnung derselben, nach der Verschiedenheit des Temperaments und der Neigung jeder Person. Alle Affekte und alle Grade derselben hat der Poet in seiner Gewalt. Hier ist überall dasselbe Leben und dieselbe Stärke der Ausbildung. In den Beschreibungen, Bildern und Gleichnissen herrscht die Erfindungskraft beständig, und in dem Ausdruk leuchtet sie in dem hellesten Licht hervor. Niemals fehlet es dem Dichter an Bildern, oder Farben zu seiner Mahlerey. Alles, was er hat sagen wollen, hat er gewußt in eine einzige genau verknüpfte Handlung zusammen zu sezen, welche keiner Unterbrechung unterworfen ist, und wo die Gemüthsbewegungen der Personen zu ihrer vollen Höhe erhebt werden.

Der Held dieser Epopöe ist ein Mann von ganz außerordentlichem Charakter, den uns der Dichter im höchsten Lichte, bey unzähligen Vorfällen sich immer gleich, bis auf den kleinesten Zug ausgezeichnet, in einer bewundrungswürdigen Schilderung darstellt. Die Fabel scheinet an sich sehr einfach und unbeträchtlich. Ulysses will nach vollendetem Kriegszug gegen Troja, wieder nach Hause ziehen. Aber er findet auf seiner Fahrt unzählige und oft unüberwindlich scheinende Schwierigkeiten, die er alle übersteigt. Er kommt mehrmal in Umstände, wo es unmöglich scheinet, daß er auf seinem Vorhaben bestehen, oder Mittel finden werde, die Hindernisse zu überwinden. Aber er ist immer standhaft, verschlagen, listig und erfinderisch genug, sich selbst zu helfen. Man erstaunt über die Mannigfaltigkeit der Vorfälle, die ihm in Weg kommen, wie über die Unerschöpflichkeit seines Genies, über jeden, bald durch Standhaftigkeit und Muth, bald durch Verschlagenheit und List, wegzukommen.

Während der langen und höchst mühesamen Fahrt des Helden, führet uns der Dichter auch in sein so lange Zeit von ihm verlassenes Haus ein, macht uns mit seiner Familie, und mit allen seinen häuslichen Umständen bekannt. Sein Haus und sein Vermögen werden ein Raub einer Schaar junger muthwilliger Männer, die unter dem Vorgeben, daß er längst umgekommen sey, oder gewiß nicht wieder erscheinen werde, seine Gemahlin zu einer zweyten Heyrath zu zwingen, seinen einzigen Sohn aus dem Wege zu räumen, und sich seiner Herrschaft und seiner Güter zu bemächtigen suchen. Nachdem also der Held durch tausend Wiederwärtigkeiten endlich in der armseligsten Gestalt in seinem Wohnsiz glüklich angekommen, entdeket die ihn nie verlassende Vorsichtigkeit neue Hindernisse sich den Seinigen zu erkennen zu geben, und die verwegene Rotte, die in seinem Hause schon lange den Meister gespielt hatte, herauszutreiben, sich und die Seinigen in Ruhe zu sezen. Da finden wir ihn aufs Neue so scharfsinnig in Entdekung jeder Gefahr, als erfindrisch und bis zur Bewundrung geschmeidig, in Abwendung derselben, bis er endlich zur völligen Ruhe kommt.

Bey Ausführung dieses Plans wußte der Dichter, dessen Genie nichts zu schweer war, eine unendliche Mannigfaltigkeit von Gegenständen aus der Natur und Kunst, aus den Sitten und Beschäftigungen der Menschen, Gegenstände der Betrachtung und Empfindung, in seine Erzählung einzuflechten. Man bekommt tausend Dinge zu sehen, die bald die Phantasie ergezen, bald die Empfindung rege machen, bald zum Nachdenken Gelegenheit geben, und dennoch behält man den Helden, auf den alles dieses eine Beziehung hat, beständig, als den Hauptgegenstand im Auge.

Wenn also die Ilias verlohren gegangen wäre, so würde die Odyssee noch hinlänglich seyn, Homer als einen Dichter von bewundrungswürdiger Fruchtbarkeit des Genies kennen zu lernen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 839-840.
Lizenz:
Faksimiles:
839 | 840
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika