Gebehrden

[427] Gebehrden. (Schöne Künste)

Die verschiedenen Bewegungen und Stellungen des Körpers und einzeler Gliedmaaßen desselben, in so fern sie etwas Charakteristisches haben, oder Aeußerungen [427] dessen sind, was in der Seele vorgeht.1 In gar viel Fällen sind die Gebehrden eine so genaue und lebhafte Abbildung des innern Zustandes der Menschen, daß man ihre Empfindungen dadurch weit besser erkennet, als der beredteste Ausdruk der Worte sie zu erkennen geben würde. Keine Worte können weder Lust noch Verdruß, weder Verachtung noch Liebe so bestimmen, so lebhaft, viel weniger so schnell ausdrüken, als die Gebehrden. Also ist auch nichts, wodurch man schneller und kräftiger auf die Gemüther würken kann. Darum sind sie der Hauptgegenstand der Künste, die auf das Aug würken. Der Mahler hat wenig andre Mittel, als dieses, Empfindungen und Gedanken zu erweken; der Redner und der Schauspieler aber kann durch die Gebehrden seinen Vorstellungen ein Leben und eine Kraft geben, die die, welche in den Worten liegt, weit übertreffen. Man kann aus dem, was uns einige Alten von den Pantomimen in Rom erzählen, abnehmen, wie weit die Sprache der Gebehrden sich erstrecken könne. Die Kunst der Gebehrden ist deswegen von den Alten als ein besonderer Theil der schönen Wissenschaften, unter dem Namen Musica Hypocritica, betrachtet worden. Plato erwähnt der Gebehrdenkunst unter dem Namen Orchesis.

Aber so bestimmt jede Empfindung, so gar jede Schattirung und jeder Grad einer Empfindung, sich durch ihre besondern Gebehrden ausdrüken läßt, so unbestimmt und unzureichend hingegen ist jede Sprache, wenn man diesen Theil der Kunst in Regeln fassen wollte. So wie man auch in der reichesten Sprache die verschiedenen Gesichtsbildungen der Menschen nur sehr unvollkommen beschreiben kann, so findet man auch die größten Schwierigkeiten, die Gebehrden bestimmt zu beschreiben. Darum haben auch die besten Lehrer der Redner, als Cicero und Quintilian, nur wenige allgemeine Vorschriften hierüber geben können. Doch sollte man die Hoffnung, den Ausdruk der Sprache in diesem Stük zu einer mehrern Vollständigkeit und zu genauerer Bestimmung zu bringen, nicht verlohren geben. Wenn die spätern griechischen Rhetoren, die sich so viel unnütze Mühe gegeben haben, für jede grammatische oder rhetorische Figur einen Namen und eine Erklärung zu finden, ihr Nachdenken auf die Beschreibung der Gebehrden angewendet hätten, so würde man vielleicht itzt schon nähere Hoffnung haben, von diesem wichtigen Theile der Kunst einmal bestimmt zu sprechen.

Die zeichnenden Künste könnten darin den redenden einen wichtigen Dienst leisten. Es ist zu wünschen, daß ein guter Zeichner eine Sammlung nachdrüklicher und redender Gebehrden anfangen möchte. Wer sich besonders darauf legen wollte, blos die Gebehrden der Menschen zu beobachten, und jedes redende und jeden genauen Ausdruk darin, richtig zu zeichnen, dem würde es nicht schweer fallen, einen beträchtlichen Beytrag zur Gebehrdenkunst zu liefern. Es wär ein, einer Kunstacademie würdiges, Unternehmen, eine solche Sammlung zu veranstalten, und die Künstler zu jährlicher Vermehrung derselben aufzumuntern. Man könnte allenfalls den Anfang der Sammlung damit machen, daß man aus den Antiken und aus den Gemählden der neuern zuerst alle Figuren aussuchte, und in einer Folge herausgäbe, die in der Stellung einen bestimmten Ausdruk zeigen. Hernach könnte jedem Zeichner, der eine genau nach der Natur gemachte und durch Gebehrden sehr redende Figur, zur Sammlung einschikte, eine kleine Belohnung gereicht werden. Dadurch würde die Sammlung in wenig Jahren vermuthlich sehr ansehnlich anwachsen. Wenn alsdenn ein Mann von Genie eine solche Sammlung vor sich nähme, Beschreibungen und Anmerkungen dazu machte, so würde nach und nach der Theil der Kunst, der itzt so wenig bearbeitet ist, zu großer Vollkommenheit kommen können. Wenn man bedenkt, daß mancher Liebhaber der Naturgeschichte vermittelst der Beobachtung, der Zeichnungen und der Beschreibungen, die Gestalt und die Bildung vieler tausend Pflanzen und Insekte, so genau in die Einbildungskraft gefaßt hat, daß er die kleinesten Abändrungen richtig bemerket; so läßt sich auch gewiß vermuthen, daß eine, mit eben so viel Fleis gemachte und in Classen gebrachte Sammlung von Gesichtsbildungen und Gebehrden, und also ein daher entstehender eigener Theil der Kunst, eine ganz mögliche Sach sey. Warum sollte eine Sammlung redender Gebehrden weniger möglich und weniger nützlich seyn, als eine Sammlung von abgezeichneten [428] Muscheln, Pflanzen und Insekten? Und warum sollte man, wenn dieses Studium einmal mit Ernst getrieben würde, die dazu gehörige Kunstsprach und Terminologie nicht eben so gut finden können, als sie für die Naturgeschichte gefunden worden?

Dieses würde den Weg bahnen, dem Redner, dem Schauspieler und dem Mahler, den wichtigsten Theil der Kunst zu erleichtern.

Man kann dem Redner und dem Schauspieler nie genug wiederholen und nicht nachdrüklich genug sagen, daß die Gebehrden redend seyn müssen, noch dem Zeichner, daß seine Figuren allemal verwerflich sind, wenn er ihnen nicht redende Stellungen und Gebehrden geben kann. Demosthenes hielt es für so wichtig, daß er auf Befragen, was in der Beredsamkeit das wichtigste sey, antwortete: Der Vortrag (wodurch er Stimm und Gebehrden verstuhnd): und auf die weitere Fragen, was nach dem zum zweyten und dritten, als das wichtigste zu suchen sey, immer dieselbe Antwort wiederholte. Was man an dem Redner sieht, das wird unmittelbar auf dem Grund der Seele empfunden; aber die Worte kommen erst in den Verstand, und von da durch eine Art der Uebersetzung, wenigstens durch eine zweyte Handlung des Geistes, aber verschwächt, an das Herz. Welche Worte sind vermögend die innigste Sehnsucht eines Verliebten, nach dem Gegenstand seiner Wünsche, so auszudrüken, wie seine Blicke und seine Gebehrden? Einigermaaßen ist es der Sappho in dem bekannten Lied an Phaon gelungen, dieses in Worten auszudrüken: deßwegen auch ein feiner Kenner2 diese Ode unter die erhabensten Werke der Dichtkunst zählt.

Wenn der Künstler durch genaue Beobachtung der in Gebehrden liegenden Kraft, sich von ihrer Wichtigkeit völlig überzeuget hat, so muß er nun das besondere Studium dieses Theils der Kunst vornehmen. Darüber findet er aber bey dem Lehrer der Redner, aus angezeigten Ursachen, nichts, als sehr allgemeine Anmerkungen; sein Genie und sein Fleiß müssen die besondern Mittel finden. Eine der wichtigsten allgemeinen Anmerkungen ist diese: daß er überhaupt den allgemeinen Ton der Rede durch seine Gebehrden ausdrüke, und hingegen sich sehr in Acht nehme, dasjenige, was blos für den Verstand und nicht für die Empfindung ist, gleichsam durch mahlende Zeichen auszudrüken. Man muß, sagt Cicero, nicht einzele Worte, sondern das, was man im Ganzen empfindet, nicht durch Abzeichnung, sondern durch Andeutung, ausdruken3. Was der große Mann in der angezogenen Stelle demonstrationem verba exprimentem nennt, und hier durch Abzeichnung übersetzt ist, muß von dem Redner sehr sorgfältig vermieden werden. Es kann nichts frostiger seyn, als wenn ein Redner jedes Wort mit Zügen und Bewegungen der Hände und der Aerme abbilden, besonders, wenn er bloße Begriffe, die nur den Verstand angehen, wie das Nahe und Ferne, das Hohe und Niedrige und dergleichen Dinge, zeichnen will. Die Gebehrden sollen uns nicht deutliche Begriffe geben, sondern Empfindungen verstärken oder unterhalten.

Hiernächst muß der Redner sich auch von dem Schauspieler unterscheiden. Er tritt wol vorbereitet auf, hat auf einmal den ganzen Umfang seiner Materie vor sich, ist ganz und allein davon durchdrungen, und behandelt sie, als ein Mann, der alles auf das genaueste überlegt hat. Darum muß auch Einförmigkeit, Bedachtsamkeit und gute Fassung in seinen Gebehrden seyn. Bey dem Schauspieler verhält sich die Sache ganz anders. Er nihmt jeden Augenblik die Gebehrden desselben Augenbliks an; bald redet er, bald hört er zu. Die Handlung reißt ihn mit fort, da der Redner seines Vortrages Meister seyn muß. Der Schauspieler stellt einen für alles, was auf der Bühne vorgeht, unvorbereiteten Menschen vor, der plötzlich, bald angenehm, bald unangenehm gerührt wird: seine Gebehrden müssen eben die Abwechslungen und die Vermischung des Guten und Bösen, so wie sie im Leben vorkömmt, ausdrüken. Er muß in einem Augenblik sauer oder verdrießlich, und wieder vergnügt aussehen. Also sind die Gebehrden bey ihm weit schnellern Abwechslungen und weit lebhaftern Bewegungen unterworfen, als bey dem Redner. Deßwegen will Cicero auch nicht, daß der Redner [429] die Kunst der Gebehrden, so wie der Schauspieler lernen soll4.

Wenn irgend ein Theil der Kunst ist, der eine lange und sehr fleißige Uebung erfodert, so ist es dieser. Sie muß aber mit genauer Beobachtung der Natur verbunden seyn. Der Redner muß Gelegenheit suchen, lebhafte und empfindsame Menschen zu sehen, und ihre Gebehrden genau beobachten, und durch wiederholte Versuche das, was er nachdrüklich gefunden, sich zueignen. Zu seinen Uebungen muß er sich eine Sammlung vorzüglicher Stellen aus den besten Rednern machen, die er erst wol auswendig lernt, und hernach für sich so lange declamirt, bis er Stellung und Gebehrden, die jedem Stük zukommen, gefunden hat. Wie ein Zeichner nicht leicht einen Tag vorbey gehen läßt, ohne etwas zu zeichnen, so muß auch der Redner täglich, wenigstens eine schöne Stelle declamiren. Es ist ein würklicher Mangel auf unsern Universitäten, daß kein methodisch eingerichteter Unterricht in dieser Sache gegeben wird. Daher kömmt es denn, daß man so sehr selten einen geistlichen Redner findet, der die Kunst versteht, seinen Worten durch die Gebehrden Nachdruk zu geben.

Man hört bisweilen, daß die Sprache der Gebehrden so gar als eine, dem geistlichen Redner ganz unnöthige, Sache verworfen wird. Aber dieses ist gewiß ein schädliches Vorurtheil. Denn selbst da, wo der Redner blos zu unterrichten, oder nur auf den Verstand zu würken hat, sind die Gebehrden von großer Wichtigkeit; weil sie ungemein viel zur Unterhaltung der Aufmerksamkeit und selbst zur Ueberzeugung beytragen. Der Verstand läßt sich eben so, wie das Herz gewinnen; und erst denn, wenn er gewonnen ist, haben die Gründe ihre volle Kraft auf ihn.

Für den Schauspieler und für den Tänzer ist nichts so wichtig, als die Kunst der Gebehrden. Besitzt er diese, so ist er Meister über die Empfindung der Zuschauer; sind seine Gebehrden unnatürlich, so wird sein ganzes Spiel unerträglich. Der Schauspieler kann durch verkehrte Gebehrden das höchste Tragische frostig, und das feinste Comische kläglich machen. Wer diesen Theil der Kunst nicht besitzt, dem ist zu rathen, nie auf Gebehrden zu denken, und sich lediglich der Natur zu überlassen. Natürliche Gebehrden, auf welche man nicht studirt, sind allemal nachdrüklich, wenn man nur einigermaaßen empfindet, was man sagt; die Kunst soll ihnen blos den schönen Anstand geben. Wer ihnen diesen nicht geben kann, der bleibe lieber bey der ganz rohen Natur. Ist sie nicht mit Schönheit verbunden, so ist sie doch nachdrüklich; aber künstliche Gebehrden, deren Anlage nicht aus der Natur entstanden ist, sind allemal frostig.

1Nempe gestus est in Corporis vel totius vel partium ejus quodam motu et conformatione temporaria, affectionibus animi vel veris, vel quas fingere volunt, accomodata, easque exprimens. Cicero de Nat. Deor. L. II. c. 12.
2Longinus.
3Omnes autem hos motus subsequi debet gestus, non hic verba exprimens, scenicus, sed universam rem et sententiam, non demonstratione, sed significatione declarans. Cic. in Bruto. L. III.
4Nemo suaserit studiosis dicendi adolescentibus, in gestu discendo histrionum more elaborare. Cic. de Orat.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 427-430.
Lizenz:
Faksimiles:
427 | 428 | 429 | 430
Kategorien:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon