Haltung

[507] Haltung. (Mahlerey)

Man sagt von einem Gemähld es habe Haltung, wenn jeder Theil in Ansehung der Tiefe des Raumes, oder der Entfernung vom Auge, sich von den neben ihm stehenden merklich absondert, so daß die nahen Sachen gehörig hervortreten, die entfernten, nach Maaßgebung der Entfernung, mehr oder weniger zurüke weichen. Es ist die Würkung der Haltung, daß eine flache Tafel einen tiefen Raum vorstellt, daß eine gemahlte Kugel nicht wie eine zirkelrunde Fläche, sondern wie ein diker Körper erscheinet. Hingegen macht der Mangel der Haltung alles flach, so wie ein runder Thurm von Ferne als eine flache Mauer erscheinet. Demnach ist die Haltung das, was eigentlich dem Gemählde das Leben und die wahre Natur giebt; weil ohne sie kein Gegenstand als ein würklicher Körper erscheinen kann, sondern ein bloßes Schattenbild ist.

Sie hängt von vielerley Ursachen ab; von der perspektivischen Zeichnung; von der Luftperspektiv; von dem einfallenden Lichte; von der Stärke und Austheilung des Lichts und Schattens, des Hellen und Dunkeln; und von der Ausführlichkeit, so wol in Zeichnung, als im Colorit. Das, was zur Perspektiv gehöret, ist bestimmten Regeln unterworfen, und hat also keine Schwierigkeit; auch das, was die Ausführlichkeit, so wol in Zeichnung, als im Colorit zur Haltung beyträgt, läßt sich durch mittelmäßiges Nachdenken finden. Es fällt gar bald in die Augen, daß alles, was an einem Körper sichtbar ist, undeutlicher werde, je weiter er sich vom Aug entfernet; daß an ganz nahen Gegenständen die kleinesten Beugungen im Umriß, die geringsten Erhöhungen und Vertiefungen, die feinesten Schattirungen der Farben, die kleinesten Lichter und Widerscheine können bemerkt werden, daß alle diese kleinern Dinge allmählig unmerkbar werden, so wie man sich von dem Gegenstand entfernt, bis endlich der ganze Umriß ungewiß, die Form des Körpers nur überhaupt merkbar wird, alle Schattirungen der Farben und die Schatten selbst verschwinden, so daß der Körper einfärbig, an Farbe matt und gänzlich flach scheinet. Diese Dinge haben wenig Schwierigkeit und können durch fleißige Beobachtung der Natur gelernt werden. Desto schweerer aber ist es die andern Umstände so zu beobachten, wie die Vollkommenheit der Haltung es erfodert.

Wie sehr die Haltung von dem einfallenden Lichte, von der Richtung und Stärke desselben, überhaupt vom Hellen und Dunkeln abhange, kann man sehr deutlich bemerken, wenn man eine Aussicht oder Landschaft bey allen möglichen Abwechslungen des Lichts fleißig beobachtet. Bey hellem Sonnenscheine hat ein und eben dieselbe Außsicht jede Stunde des Tages eine andre Haltung, weil Licht und Schatten jede Stunde nicht nur auf andre Stellen fallen, sondern stärker oder schwächer sind. Man wird bald gewahr werden, in welchem Fall das hohe oder das niedrige Licht, und wenn das gerade oder Seitenlicht vortheilhaft sey. Durch eben diese Beobachtung einer Gegend wird man auch den Einfluß kennen lernen, den der Ton auf die Haltung hat. Darum soll der Mahler das, was zur Haltung gehöret, durch genaue Beobachtung der Natur studiren. Er kann sich hierin den Leonhard da Vinci zum Muster nehmen, der mit der Genauigkeit und dem Scharfsinn eines Naturforschers jede Würkung des veränderten Lichts auf das genaueste beobachtet hat. Der Historienmahler wird auch bey Gelegenheit der Schauspiele manche wichtige Beobachtung über die Haltung machen können. Man sieht bisweilen Scenen, da die Haltung ausnehmend gut ist, und andre sind in dieser Absicht sehr matt. Ein [507] nachdenkender Mahler wird bald entdecken, wie viel die Farbe des Grundes, oder der Hinternwand der Schaubühne, die Kleidung der Personen, die Stärke oder Schwäche des Lichts, in welchem sie stehen, zu der guten oder schlechten Haltung beytragen.

Durch dergleichen Beobachtungen lernt man den Haupttheilen des Gemähldes, ganzen Gruppen, vermittelst einer geschikten Austheilung des Lichts und Schattens, und einer verhältnißmäßigen Stärke derselben, die gute Haltung geben. Es können aber hierüber keine Regeln festgesetzet werden, weil die Fälle unendlich abwechseln, und bald jede Anordnung der Gruppen oder der Haupttheile des Gemähldes ihr besonderes Licht erfodert. Manches Gemähld bekömmt seine Haupthaltung von einem etwas hoch einfallenden Seitenlicht, da diese Würkung in einem andern, weil es anders gruppirt ist, durch ein flach einfallendes Licht erhalten wird. Die Scharfsinnigkeit des Künstlers muß die wahren Ursachen der besten oder schlechten Haltung in jedem besondern Falle zu entdeken wissen; dabey muß er aber auf alle Umstände zugleich sehen. Wenn er z. B. in einem besondern Falle finden sollte, daß ein hohes und dabey starkes Licht sehr gute Würkung thut, so muß er auch genau auf die Anordnung der Gruppen dabey acht haben; denn eben dasselbe Licht könnte, wenn sonst alles übrige gleich wäre, bey einer andern Anordnung gerade eine schlechte Würkung thun.

Ein Künstler, dem es sonst nicht an gehöriger Scharfsinnigkeit fehlet, wird durch dergleichen Beobachtungen zu einer gründlichen Kenntnis der Ursachen einer guten Haltung kommen, in so fern diese von Licht und Schatten, vom Hellen und Dunkeln, und von der geschikten Wahl der Localfarben abhängt. Mit der Beobachtung der Natur aber muß er auch das Studium der besten Kunstwerke, besonders der niederländischen Schulen verbinden. Wegen des besondern Einflusses, den die Localfarben auf die Haltung haben, und welcher bisweilen nicht gering ist, kann man einem fleißigen Mahler ein Mittel vorschlagen, wodurch er in diesem besondern Theile der Kunst gewiß hinter die Geheimnisse kommen wird. Er müßte einige Gemählde von vollkommener Haltung mehreremale copiren, und überall, wo es sich thun läßt, die eigenthümlichen Farben ändern, hier einer Figur, die ein helles Kleid hat, ein dunkeles geben, ein rothes Gewand in ein grünes u. s. w. verwandeln. Bey jeder Abänderung der Localfarben wird er eine merkliche Veränderung in der Haltung wahrnehmen, und dadurch wird er in diesem Theile der Kunst zu einer gründlichen Kenntnis gelangen. Der Weg ist freylich mühesam, aber die Mühe wird denn dadurch belohnt, daß man seiner Sachen gewiß wird. Wer nicht mit einem ausnehmenden Genie für seine Kunst gebohren ist, muß sich nicht einbilden, daß er ohne viel Mühe und großes Nachdenken es darin zu irgend einem beträchtlichen Grad der Vollkommenheit bringen werde.

Die größten Schwierigkeiten finden sich da, wo die Haltung nicht durch Entgegensetzung des Lichts und Schattens, sondern blos durch eine geschikte Brechung der hellen Farben zu erreichen ist. Man sieht bisweilen Portraite, besonders unter denen von van Dyk, wo die Gesichter eine bewundrungswürdige Ründung haben, ohne daß man Schatten darin gewahr wird. Dieses ist aber auch das Höchste in der Kunst des Colorits, und es läßt sich kaum begreifen, wie diese Würkung erreicht worden. Es ist unendlich leichter die Haltung durch Licht und Schatten zu erreichen, als durch bloße Brechung der hellen Farben. Hier muß man durch ein glükliches Gefühl alles errathen, da man dort ziemlich bestimmten Regeln folgen kann. Titian und van Dyk sind hier die großen Muster, die der Mahler zu studiren hat.

Der Begriff der Haltung muß nicht blos auf die Werke der zeichnenden Kunst eingeschränkt werden; er erstrekt sich auf alle Werke der Kunst. Ein Gedicht oder eine Rede, durchaus in einem Ton und mit einerley Stimme gelesen, würde für das Gehör eben so ohne Haltung seyn, als ein Gemählde ohne Haltung der Farben. Und die Rede, in welcher alle einzele Gedanken gleich stark und gleich ausführlich vorgetragen sind, ist dem Gemähld ähnlich, dem die Haltung in der Zeichnung fehlet. Es ist anderswo1 angemerkt worden, daß die redenden Künste ihre Vorstellungen eben so gruppiren müssen, wie es die zeichnenden Künste thun, und so sind diese beyden Zweyge der Kunst auch in Absicht auf die Haltung der Dinge denselbigen Regeln unterworfen. Auch wird sie durch einerley Mittel erreicht. Daß nahe Gegenstände genau ausgezeichnet, und im Colorit ausführlich bearbeitet, entfernte aber nur im Ganzen angezeiget und nur schwach ausgemahlt [508] werden, hat auch in den redenden Künsten statt. Man kann auch durch die Ausführlichkeit, die uns die kleinesten Theile sehen läßt, einen Gegenstand nahe bringen, und durch blos allgemeine Andeutung andre vom Aug entfernen. Dieses sehen wir beym Homer überall auf das genaueste beobachtet. In jedem einzelen Gemählde sehen wir die Hauptpersonen dichte vor uns stehen, wir hören sie reden, unterscheiden gleichsam den ihnen eigenen Ton der Stimme, sehen jedes Einzele in ihren Gesichtszügen, und auch in ihrer Rüstung, da andre so weit aus dem Gesichte weggerükt sind, daß wir nichts einzeln darin unterscheiden.

1S. Art. Gruppe.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 507-509.
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Faksimiles:
507 | 508 | 509
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