Holländische Schule

[545] Holländische Schule. (Zeichnende Künste)

Holland und andre zum Staat der vereinigten Niederlande gehörige Provinzen, haben eine beträchtliche Anzahl guter Mahler gehabt, die sich durch einen eigenthümlichen Geschmak und eigene Vorzüge von allen andern unterscheiden, auch deswegen würklich eine besondere Schule ausmachen. Die Mahler dieser Schule scheinen bey ihrer Arbeit kein anderes Gesetz gehabt zu haben, als durch Zeichnung und Farben, die gemeine Natur so vollkommen, als möglich, zu erreichen; im übrigen aber, sich um den Werth, oder die Kraft des Inhalts nicht zu bekümmern. Man hat eine große Anzahl Gemählde aus dieser Schule, darin die gemeine Natur bis zur Bewundrung, auch in den geringsten Kleinigkeiten so kopirt ist, daß man kaum seinen Augen traut: man glaubet eine Scene aus der Natur, durch ein verkleinerndes Glas zu sehen, so vollkommen ist Zeichnung, Perspektiv, Haltung und Farbe in dem Gemähld erreicht. Wann man einige der besten Werke dieser Schule vor sich hat, so kann man nicht begreifen, daß es möglich sey, bemeldte Theile der Kunst höher zu treiben. Man kann also sagen, daß die holländischen Mahler in dem Mechanischen den höchsten Gipfel der Kunst erreicht haben.

Diese Schule, die der Herr von Hagedorn mit Recht die Schule des Wahren nennt, hätte die vollkommensten Werke der Kunst aufzuweisen, wenn diese nur die Absicht hätte, dem Auge dasjenige vollkommen gemahlt zu zeigen, was man täglich in der Natur vor sich sieht. Wenn der Endzwek der Kunst durch diese Täuschung des Auges erreicht würde, so würde man weder einen Raphael, noch einen Corregio, noch einen Titian, dem Künstler zum Studiren empfehlen, sondern ihn allein in die holländische Schule verweisen.

In der That ist das, was sie vorzügliches besitzet, ein wichtiger Theil der Kunst; aber nur in so fern diese auf wichtige Gegenstände angewendet wird. Es ist zwar ein Vergnügen, Farben auf einer flachen Leinwand so künstlich aufgetragen zu sehen, daß man sich einbildet, man stehe in einer Kirche, oder man sehe eine würklich lebendige Blume, oder einen athmenden Menschen vor sich; weiter aber hat auch diese bewundrungswürdige Kunst nichts auf sich. Der Endzwek der schönen Künste, wird dadurch nicht erreicht1, sondern diese Werke dienen blos, die Liebhaber zu ergötzen. Wenn aber diese Vollkommenheit mit dem höhern Werth vereiniget ist, wenn wichtige Gegenstände so behandelt werden, so ist alsdenn das Werk vollkommen.

Man muß also den Künstler, der höhere Absichten hat, als zu ergötzen, oder das Aug zu täuschen, doch in diese Schule führen. Die herrlichste Erfindung und der größte sichtbare Gegenstand, den das Genie eines Mahlers hervorzubringen vermag, muß dennoch, wenn er im Gemählde die größte Würkung thun soll, sich so zeigen, als wenn es ein in der Natur vorhandener Gegenstand wäre2, folglich ist das Studium, wodurch die holländischen Mahler groß geworden sind, jedem andern Mahler auch zu empfehlen.

Doch äußert sich dabey eine Bedenklichkeit, wodurch die Wichtigkeit dieser Werke für das Studium der Kunst um ein merkliches verringert wird. Die schätzbarsten Werke sind ohne Zweifel doch die, welche zu öffentlichem Gebrauch aufgestellt werden. Diese müssen ihrer Natur nach groß seyn. Aber kann[545] das Natürliche im Großen, durch dieselben Mittel erreicht werden, wie im Kleinen? daran muß man nothwendig zweifeln. Wenn die Mahler der römischen Schule, den Pensel so geführt hätten, wie die holländischen Meister, so würden ihre Gemählde schweerlich vollkommner worden seyn, als sie durch ihre größere Behandlung des Colorits worden sind. Wenn ein Mahler, wie Gerard Dow, oder Franz Mieris in die Nothwendigkeit gesetzt worden wäre, große Kirchenstüke zu verfertigen, so hätte er nothwendig andre Methoden, als er würklich gehabt hat, ausdenken müssen, um die wahre Haltung und die Farben der Natur zu erreichen. Nicht nur weil der Fleiß in großen Arbeiten ofte schädlich ist,3 sondern weil durch das Kleine die gute Würkung in großen Gemählden nicht einmal kann hervorgebracht werden. Es gehört eine ganz andre Behandlung dazu, daß ein großer Gegenstand, den man von weitem ansieht, ein völlig natürliches Ansehen habe, als die, wodurch ein kleiner und ganz naher Gegenstand natürlich wird. Aber, wer in kleinen Sachen, wie sich ein Kenner ausdrükt4 raphaelisch denkt und zeichnet, der hat Ursache sich die äußerste Mühe zu geben, daß er auch, wie Gerhard Dow, mahle.

1S. Künste.
2S. Natur.
3S. Fleiß.
4Haged. Betracht. S. 419.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 545-546.
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