Klein

[594] Klein. (Schöne Künste)

Man hat in der Theorie der schönen Künste zwey Arten des Kleinen zu betrachten, die eine ist ihrem Zwek zuwider und verwerflich; die andre ist angenehm und gehört zu dem guten ästhetischen Stoff. Jene entsteht aus Mangel und Unvollkommenheit; diese hat nichts mangelhaftes.

Das verwerfliche Kleine findet sich bey Künstlern, denen es entweder an Verstand, oder an Empfindung fehlet. Aus Mangel des Verstandes kommen geringschätzige, jedem, auch nur halbklugen Menschen, einfallende Gedanken und Betrachtungen; subtile Spitzfündigkeiten, sophistische Urtheile und Witz der in bloßen Wortspielen liegt. Dahin gehören auch alle übertriebene Metaphern, alle mühesamen und doch nichtsbedeutenden Gemählde, und die ängstliche Ausbildung kleiner Umstände, alle difficiles nugæ. Aus Mangel der Empfindung und aus einem kleinen, kindischen, furchtsamen, oder phantastischen und ausschweiffenden Herzen kommen kindische Bewundrung nichtsbedeutender Dinge, niedrige Schmeicheleyen, List, der alles durch Umwege sucht und sich nie getraut gerade zu urtheilen, oder zu handeln, Prahlereyen, übertriebene Affekte sowol in dem Künstler, als in den von ihm eingeführten Personen. Es wäre sehr leicht aus dem Ovidius und aus dem Seneka Beyspiele fast jeder Art dieses Kleinen anzuführen, und auch aus einheimischen Schriftstellern könnte hiezu ein beträchtlicher Beytrag geliefert werden.

Schon aus dem, was von den Quellen des Kleinen angemerkt worden ist, erhellet, wie es zu vermeiden sey. Der Künstler muß seinen Verstand und sein Herz zum Großen bilden. An mehrern Stellen dieses Werks ist schon erinnert worden, daß zu einem guten Künstler mehr, als nur das eigentliche Kunstgenie erfodert werde; nämlich Verstand und Größe des Herzens. Wiewol nun die Natur hiezu das beste thut; so müssen doch noch Erfahrung und Uebung dazu kommen. Um also das Kleine zu vermeiden, muß der Künstler sich aus der Sphäre der Menschen bey denen noch Unwissenheit, Vorurtheile und die gemeinesten Schwachheiten herrschen, in eine höhere Sphäre empor schwingen; er muß genaue Bekanntschaft mit dem Menschen haben, die durch Vernunft und große Gesinnungen weit über dem niedrigen Kreis des großen Haufens, gleichsam in einer reinern Luft leben.

Schon in früher Jugend sollte der künftige Künstler mit den Hülfsmitteln bekannt werden, wodurch er zu einer gründlichen Kenntnis der Welt und der Menschen alter und neuer Zeiten gelangen kann. Durch einen fleißigen Gebrauch dieser Hülfsmittel muß er sich eine genaue Bekanntschaft mit den größten und besten Menschen aller Zeiten erwerben. Die Geschichte der Völker und die Beobachtung seines Zeitalters muß ihn lehren, was in dem Genie und Charakter der Menschen klein, oder groß ist. [594] Dadurch muß er zu einer solchen Kenntnis seiner selbst kommen, daß er beurtheilen kann, ob seine Art zu denken und zu empfinden über die gemeine Art des großen Haufens erhaben ist. Durch diese Mittel muß er ein solcher Beurtheiler und Kenner der Menschen werden, daß er auch das Kleine im Denken und Empfinden, was seinen Zeitgenossen noch anklebet, zu bemerken im Stande sey.

Die andere Gattung des Kleinen, das unter den guten ästhetischen Stoff aufgenommen zu werden verdienet, ist eine Art des Schönen, die Cicero übersehen hat, da er nur von zwey Arten spricht.1 Der einen Art legt er männliche Würde, der andern weibliche Annehmlichkeit bey. Diese Vergleichung hätte ihn auf die dritte Art führen sollen, die er mit Anmuthigkeit und Artigkeit des kindischen Alters hätte vergleichen können. Vielleicht hat ihn das Ansehen des Aristoteles verhindert, diese Art zu bemerken; weil dieser philosophische Kunstrichter sagt, daß das Kleine nicht schön seyn könne. Fürnehmlich hat die Natur nur dem Guten Schönheit beygelegt, damit es uns desto sicherer reize, aber sie findet sich auch schon in der Blüthe des Guten. Die Schönheit der Blumen ist blos Annehmlichkeit, und so ist die Schönheit des Kindes.

Zu dieser Gattung rechnen wir alles blos Angenehme, das sonst zu keinem andern Genuß bestimmt ist, keine Begierde reizt, keine von den würksamen Nerven der Seele rühret, nichts als eine sanfte in sich selbst begränzte Empfindung erweket. Dieses ist also das Kleine, dessen sich auch die Künste, als Nachahmerinnen der Natur bedienen.

In der Dichtkunst, rechnen wir hieher, das was die anakreontische Art unschuldiges hat; alle kleine auf unschuldigen Scherz und Vergnügen abziehlende Lieder; in der Mahlerey die Blumen und Fruchtstüke, artige Landschaften; Vorstellungen gesellschaftlicher Ergötzlichkeiten u. d. gl.; in der Musik alles blos Angenehme und sanft Einwiegende, das sonst keinen leidenschaftlichen Charakter hat, und verschiedene der gesellschaftlichen Tänze von ebem diesem Charakter; in der Baukunst, alles was zur Annehmlichkeit unsrer Wohnungen veranstaltet wird. Diese ganze Gattung hat keinen andern Zwek, als Anmuthigkeit und sanftes Vergnügen. Sie ist weniger schätzbar, als die höhern Arten des Schönen, aber darum nicht zu verachten. Man muß sie zur Erholung des Gemüths brauchen, das immer gewinnt, wenn es anstatt in völliger Unthätigkeit zu seyn, angenehme Eindrüke von sanfter Art genießt. Das Große dienet zur Erwekung, das Kleine zur Besänftigung der Leidenschaften; jenes zur Stärkung, dieses zur Milderung des Gemüths. Ehemals hatten die Großen in Rom die Gewohnheit ganz kleine Kinder von schöner Bildung, die nakend in ihren Zimmern spielten, zu halten, um sich an der kindischen Anmuthigkeit zu ergötzen. Solche sanfte unschuldige Gegenstände mögen doch bisweilen die durch so manche Unruh und Sorge halb verwilderten Gemüther dieser Herren der Welt, auf eine Zeitlang besänftiget haben.

Es gehört ein besonderes Genie dazu, das Kleine in den Werken des Geschmaks gut zu behandeln, und man hat vielleicht in jeder andern Gattung mehr vollkommene Muster, als in dieser. Wer nicht einen feinen zärtlichen Geschmak, eine für jeden sanften Eindruk empfindsame Seele hat, würde sich vergeblich in dieses Feld wagen. Ernsthafte nach großen Gedanken und Empfindungen strebende Seelen, müßten in einer ausserordentlichen Gemüthsruhe seyn, um das Schöne im Kleinen zu erreichen. Es würde einem Michael Angelo leichter gewesen seyn, ein Gemählde vom Weltgericht, als ein schönes Blumenstük zu verfertigen. Doch sehen wir an dem Beyspiel des großen Shakespear, daß diese beyden Gemüthslagen, die zum Großen und zum Kleinen tüchtig machen, bisweilen mit einander abwechseln. Man hat ehedem geglaubt, daß das Genie der Deutschen für die kleine Schönheit zu rohe sey. Aber diesen Vorwurf haben sie durch die That von sich abgelehnt. Schon Hagedorn hat fürtrefliche Lieder in dieser Gattung; nach ihm haben Gleim, und neulich Jacobi und einige andere bewiesen, daß das deutsche Genie auch hierin andern nichts nachgebe.

Aber das Vergnügen, daß einige Kunstrichter über diese neuen Proben des feinern deutschen Witzes empfunden haben, hat sie zu weit verleitet. Sie haben nach dem Beyspiel einiger französischen Kunstrichter diesem Kleinen einen so großen Werth [595] beygelegt, daß es scheinet sie halten es für die vornehmste Gattung, wenigstens in der Dichtkunst. Sie haben sich nicht gescheuhet, einige von unsern Dichtern, die in dem Kleinen hier und da glüklich gewesen sind, unter die größten und verdienstlichsten Männer Deutschlands zu zählen. Das heißt eben so viel, als einem guten Vergulder, oder sogenannten Staffirer, zum großen Baumeister machen. Es zeiget einen großen Mangel des Verstandes an, wenn man Dinge schätzen will, ohne das Maaß oder Gewicht, wonach sie geschätzt werden sollen, zu kennen. Wir lassen gerne dem Kleinen seinen Werth, und erkennen, daß seltene Talente dazu gehören, darin vorzüglich glüklich zu seyn. Wir sind den Künstlern im Kleinen für die Anmuthigkeit des Sonnenscheines, den sie bisweilen über unsre Gemüther verbreiten, nicht wenig verbunden; denn auch die Tugend könnte die Seele verfinstern. Aber wir können sie darum nicht für die großen Männer halten, denen wir eine männliche Art zu denken, oder die Standhaftigkeit und Rechtschaffenheit unsrer Gesinnungen zu danken haben. Diese verehren wir, als unsre Lehrer und Väter, jene lieben wir als unsre jüngere Brüder, die uns bey müßigen Stunden manches Vergnügen machen.

In der Bearbeitung erfodert das Kleine großen Fleis und den feinesten Geschmak, weil der geringste Fehler darin sichtbar wird, den man beym Großen übersieht. Die Künstler können überhaupt den ausnehmenden Fleis der holländischen Mahler für das Kleine zum Muster nehmen.

1Pulchritudinis duo sunt genera quorum in altero venustas sit, in altero dignitas; venustatem muliebrem ducere debemus, dignitatem virilem. Offic. L. I.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 594-596.
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594 | 595 | 596
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