Knoten

[597] Knoten. (Schöne Künste)

In der Kunstsprache wird dieses Wort insgemein gebraucht, um in der epischen und dramatischen Handlung eine solche Verwiklung zu bezeichnen, aus welcher beträchtliche Schwierigkeiten entstehen, wodurch die handelnden Personen veranlasset werden, ihre Kräfte zu verdoppeln, um sie zu überwinden, und die Hinternisse aus dem Wege zu räumen: Aber der Begriff muß erweitert, oder allgemeiner gemacht werden.

Wir begreiffen unter diesem Worte alles, was in der Folge der Vorstellungen über eine Sache, eine solche Aufhaltung macht, die eine Aufhäufung der zum Theil gegen einander streitenden Gedanken bewürkt, wodurch die Vorstellung lebhafter und interessanter wird, nach einigem Streit der Gedanken aber, sich entwikelt. Bey unsern Vorstellungen über geschehene Sachen, oder bey Beobachtungen und Untersuchungen, können die Begriffe so auf einander folgen, daß uns nichts reizt auf die Art wie sie auf einander folgen, oder auf die Quellen woraus sie entspringen, Achtung zu geben. Alsdenn fliessen unsre Gedanken, wie ein sanfter durch nichts aufgehaltener Strohm stille fort. Die Vorstellungskraft wird durch nichts gereizt. Findet sich hingegen in der Folge der Vorstellungen irgendwo etwas, das uns aufhält, das uns auf die Folge aufmerksam macht; wobey wir gleichsam stille stehen, um das Gegenwärtige mit dem, was folgen könnte zu vergleichen; wo wir ungewiß werden, wie die Sache fortgehen, oder wie das folgende entstehen wird; da liegt ein Knoten, wobey die Gedanken sich zusammen drängen, gegen einander streiten, bis einer die Oberhand bekommt und der Sache einen Fortgang verschaft.

Knoten sind also bey Unternehmungen, wo Hinternisse aufstoßen, die man aus dem Wege zu räumen hat; bey Untersuchungen, wo sich Schwierigkeiten zeigen, die eine neue Anstrengung des Geistes erfodern, um sich aus denselben heraus zu wikeln; bey Betrachtung der Begebenheiten, wo die würkende Ursache durch große und ungewöhnliche Kräfte, die unsre Aufmerksamkeit an sich ziehen, allmählig die Stärke bekommt, den Ausgang der Sachen zu bewürken. Ein solcher Knoten bewürkt in den bey den Sachen intereßirten Personen eine neue bisweilen ausserordentliche Anstrengung der Kräfte; bey denen aber, die blos Zeugen oder Zuschauer dabey sind, reizet er die Aufmerksamkeit und die Neugierde, wodurch die Sache weit interessanter wird, als sie ohnedem würde gewesen seyn.

In den Werken der schönen Künste hat der Knoten eben diese doppelte sehr vortheilhafte Würkung. Das Werk selbst wird dadurch reicher an Vorstellungen. Handelnde Personen z.B. strengen ihre Kräfte mehr an; ihr Genie, ihr Gemüth und ihr ganzer Charakter zeiget sich dabey in einem vollen Lichte; der Künstler hat nöthig auch sein Genie stärker anzustrengen, um Auswege zu finden: dadurch wird also für den, der das Werk der Kunst geniessen soll, alles interessanter und lebhafter. Darum ist es nöthig, daß wir über eine so wichtige Sache uns hier etwas weitläuftig einlassen.

Man hat hiebey auf drey Dinge Achtung zu geben, auf die Natur des Knotens, auf seine Knüpfung und auf die Entwiklung desselben.

Zuerst muß man auf die Beschaffenheit des Knotens Achtung geben, der bey Handlungen, oder bey Untersuchungen und dem lehrenden Vortrag vorkommen kann. Bey Handlungen kann er von zweyerley Art seyn. Erstlich kann die Handlung an sich selbst ein sehr gefährliches oder mit ausserordentlichen Schwierigkeiten begleitetes Unternehmen seyn, wodurch der Knoten sich von selbst knüpfet, indem es höchst schwer ist, der Unternehmung einen glüklichen Ausgang zu geben. Von dieser Art ist der Hauptknoten der Odyssee, wo die Heimreise des Ulysses und die Wegschaffung einer ganzen Schaar muthwilliger und zum Theil mächtiger Liebhaber der Penelope für einen einzeln Menschen ein höchstschweeres Unternehmen war. Auch gehört der Hauptknoten der Aeneis hieher; worauf der Dichter gleich Anfangs unsre Aufmerksamkeit lenket:


Tantæ molis erat Romanam condere gentem.


[597] Je größer der Dichter diese Schwierigkeiten zu machen weiß, je mehr Gelegenheit hat er die Fruchtbarkeit seines Geistes und die Größe seines Herzens zu zeigen. Hier liegt also die Schwierigkeit in der Bewürkung des Ausganges.

Es giebt noch eine andre Art des Knotens, der nicht von Hinternissen entsteht, die sich einer Handlung in weg legen, sondern wo die Schwierigkeit darin liegt, daß uns die Größe der würkenden Ursachen, das Fundament, worauf sie sich stützen, deutlich vor Augen gestellt werde. Große Dinge rühren uns entweder durch den Erfolg selbst, den sie haben, oder durch die Kraft wodurch er hervorgebracht worden. Daß Leonidas mit seiner kleinen Schaar bey Thermopylä von einem unermeßlichen Heer Feinde niedergemacht worden, hat in dem Erfolg selbst nichts wunderbares; aber woher dieser kleinen Schaar der Muth gekommen, gegen eine so gar überlegene Macht zu streiten, und ihr einigermaaßen den Sieg zweifelhaft zu machen, dieses begreiflich zu machen, erfodert Kunst.

Die größte Handlung, selbst das größte Wunderwerk, reizt unsre Aufmerksamkeit nur in so fern wir die Schwierigkeit derselben einsehen, oder den Erfolg mit den Kräften vergleichen können. Die äusserste Freygäbigkeit eines Menschen, den wir für einen Goldmacher hielten, würde uns gar nicht merkwürdig scheinen. Aber eine große Freygäbigkeit an einem Menschen, den wir nicht in Ueberflus glauben, wird uns intressant, wir wollen wissen, wie er zu solchen Entschlüssen komme, die ihm natürlicher Weise sehr viel kosten müssen.

Bey Charakteren und Handlungen der Menschen, ist es nicht hinlänglich, daß man sie uns als groß vorstellt; man muß uns ihre Größe begreiflich machen, man muß uns ihre Kräfte und das Fundament, worauf sie sich stützen, sehen lassen, damit wir wenigstens einigermaaßen begreifen, wie sie zu der Höhe, die wir bewundern, aufgeschwollen sind. Dieses macht den Knoten aus, der uns die Sachen interessant vorstellt.

Er entsteht insgemein aus einem Streit der Leidenschaften, oder dem Zusammenstoß entgegenstreitender Interessen.

Von dieser Art ist der Hauptknoten in der Ilias. Es ist eine gemeine Sache, daß zwey Befehlshaber bey einem Heer sich entzweyen, und daß üble Folgen daraus entstehen. Oder, wenn man sich die Sache so vorstellen will: es war in der Begebenheit, daß Achilles und Agamemnon sich entzweyt haben, daß der erstere sich von dem Heer getrennt, daß dadurch die Griechen in Verlegenheit gekommen; daß Achilles zuletzt sich wieder ins Schlachtfeld begeben hat u.s.f. nichts Ausserordentliches: aber der Dichter hat diese Begebenheit von gemeiner Art so zu behandlen gewußt, daß dadurch eine ausserordentliche Verwiklung der Sachen entsteht. Von dieser Art ist auch der Hauptknoten in Geßners Tod Abels. Ein Bruder bringt den andern aus Haß um; hier scheinet keine Verwiklung zu seyn. Aber wodurch konnte Kain, zu einer solchen Wuth des Hasses gebracht werden? Hier entsteht ein Knoten. Der Dichter mußte hinlängliche Ursachen finden, den Haß des Mörders nach und nach anschwellen und bis zu dem entsetzlichsten Uebermaas wachsen zu lassen, der die Würkung desselben begreiflich macht. Das größte Beyspiel eines Knotens von dieser Art, ist Klopstoks Behandlung des Todes Jesu. Es ist eine gemeine Sache, daß ein Mensch unter dem Hasse seiner Feinde erliegt und unschuldiger Weise hingerichtet wird. Hier war die Schwierigkeit nicht in der Bewürkung des Ausganges der Handlung, sondern darin, daß eine gemein scheinende Sache, als die größte und wichtigste aller Begebenheit, an der das ganze Reich der Geister Antheil nihmt, vorgestellt würde.

Bey Untersuchungen und andern Gegenständen des Lehrgedichts und der Beredsamkeit hat ebenfalls diese doppelte Art des Knotens statt. Entweder liegen Schwierigkeiten wesentlich in der Sache selbst und der Redner oder Dichter hat blos darauf zu sehen, daß er sie deutlich vorstelle; oder die Sache ist an sich zwar leicht und offenbar genug, aber um die Aufmerksamkeit mehr zu reizen, muß sie durch das Genie des Redners in einem sehr wichtigen und intressanten Lichte vorgestellt werden. Der letztere Fall hat oft große Schwierigkeiten, und erfodert einem Mann von viel Genie. Man kann z.B. voraussetzen, daß bey der dritten Philippischen Rede des Cicero jeder Zuhörer schon einen Abscheu vor dem Antonius habe und geneigt sey, ihn für einen Feind des Staats zu erklären. In solchen Umständen muß der Redner den Vorstellungen schlechterdings eine neue Wendung geben, und darin einen Knoten, oder eine Aufhaltung suchen, daß er seinen Gegenstand in einem noch nicht bemerkten Lichte [598] zeige. Hat er dieses vergeblich versucht, so bleibt ihm nichts übrig, als blos pathetisch und affektvoll zu seyn.

Diese Arten des Knotens kommen nicht nur in der Hauptsache vor, in welchem Falle man sie Hauptknoten nennen kann, sondern auch in einzelen Theilen; aber ihrer Natur nach sind sie immer einerley. In der Ilias kommen hundert einzele Begebenheiten vor, deren jede ihren besondern Knoten, von der einen oder der andern Art hat; und eben dieses macht das Gedicht so durchaus intressant.

In Ansehung der Knüpfung und Auflösung des Knotens kommt die Hauptsache darauf an, daß alle würkenden Ursachen, es sey, daß sie Schwierigkeiten veranlassen, oder sie überwinden, natürlich und wahrscheinlich seyen. Die Schwierigkeiten müssen nicht willkührlich erdichtet werden, wo keine sind, sie müssen keine große Hindrung machen, wo es leicht ist, ihnen aus dem Wege zu gehen; große Würkungen müssen nicht aus kleinen Ursachen entstehen, es sey denn, daß man deutlich sehe, wie diese kleinen Ursachen, ausserordentliche Stärke bekommen haben. Da muß vorzüglich sich der Verstand und die scharfe Beurtheilung des Künstlers, seine tiefe Kenntnis des Menschen und menschlicher Dinge zeigen. Er muß nichts geschehen lassen, ohne uns deutlich merken zu lassen, daß es nothwendig hat geschehen müssen, oder daß es aus der Lage der Sachen und dem Charakter der Personen natürlich erfolget. Es ist der Mühe werth hierüber einige besondere Beyspiele zur Erläuterung dieser wichtigen Sache, zu betrachten.

Das vornehmste Beyspiel eines wolgeknüpften und glüklich aufgelößten Knotens, haben wir in der Ilias. Der Hauptknoten, ist die Trennung des Achilles von dem Heer der Griechen. Sie entsteht auf eine sehr natürliche Weise, aus den Zwistigkeiten zwischen dem hochmüthigen und gebietherischen Oberbefehlhaber Agamemnon und dem äusserst hitzigen, trotzigen und höchsteigensinnigen Achilles, auf dessen Tapferkeit das meiste ankam. Die Entzweyung entstehet aus einer natürlichen Veranlassung, wird dem Charakter der Personen gemäß, auf das äusserste getrieben; keiner will nachgeben und Achilles, der dem Range nach weit unter dem Agamemnon ist, trennet sich von dem Heere. Dadurch werden die Griechen so sehr geschwächt, daß sie nichts mehr gegen die Trojaner vermögen. Nun entsteht die Hauptschwierigkeit. Auf der einen Seite verbindet sie Ehre, Nationalstolz, heftige Feindschaft, den ihnen angethanen Schimpf durch Trojas Umsturz zu rächen; auf der andern Seite zeiget sich ihr Unvermögen das Vorhaben auszuführen. Sie versuchen das Aeusserste; aber die Gefahr wird immer grösser; jederman erkennet, daß Achilles wieder versöhnt werden, und zum Heer zurükkehren müsse. Aber sein unüberwindlicher Zorn und Eigensinn vereitelt alle Bemühungen, die man zur Aussöhnung anwendet. Man hat das Aeusserste versucht; die Gefahr des Unterganges der Griechen ist nahe, und wie sollen sie sich nun heraushelfen? Hier scheint der Knoten unauflößlich. Aber nun fängt er an sich zu entwiklen, und auf eine sehr natürliche, und völlig ungezwungene Weise. Achilles hat einen Freund, der so gefällig und nachgebend, als er trotzig und eigensinnig ist. Dieser erhält von ihm die Erlaubnis, sich der bedrängten Griechen anzunehmen; aber er fällt im Streit. Und nun wird der heftige Achilles durch den Verlust seines Freundes auf das Aeusserste aufgebracht; jeder Nerve seiner Seele wird zur Rache gespannt; und itzt macht er den Untergang der Trojaner, wenigstens den Tod des heldenmüthigen Hektors, des vornehmsten Beschützers der Angegriffenen, zu seiner eigenen Angelegenheit. Er kehrt wüthend in dem Streit zurüke, und ihm gelinget es itzt, was er vorher so lange vergeblich gesucht hatte; er erlegt den Hektor, die Griechen bekommen die Oberhand, und die Hauptschwierigkeiten sind gehoben.

Eigentlich besteht die mechanische Vollkommenheit der Epopöe und des Trauerspiels eben darin, daß gleich von Anfang der Handlung der Knoten allmählig geknüpft, und nach und nach immer fester werde; daß dadurch eine allgemeine Anstrengung aller würkenden Kräfte entstehe, auf der einen Seite die Schwierigkeiten zu vermehren, auf der andern, sie zu überwinden, bis endlich aus natürlichen, schon in der Handlung oder in dem Charakter der Personen liegenden, aber vorher nicht genugsam erkannten Kräften, der Ausschlag sich auf die eine Seite wendet, wodurch die ganze Handlung beendiget wird.

Diese Behandlung des Knotens hat dem Dichter Gelegenheit gegeben, die handelnden Personen, jeden nach seinem Charakter und nach seiner Sinnesart, in vollem Lichte zu zeigen, seine Verstandes- und [599] Gemüthskräfte in völlige Würkung zu setzen, und dadurch zu zeigen, wie merkwürdige Begebenheiten aus dem Verhalten entstehen.

Man siehet hieraus, wieviel bey der Epopöe und dem Trauerspiel, auf den Hauptknoten ankommt; wie dadurch die ganze Handlung interessanter wird; wie alle würkende und gegenwürkende Kräfte auf einen Punkt vereiniget werden; wie jede handelnde Person gereizt wird, ihre Kräfte zusammen zu nehmen; wie endlich dadurch die nächsten Ursachen sich auf eine natürliche Weise zu Bewürkung einer merkwürdigen Begebenheit vereinigen.

Das Genie des Dichters findet in dem wolgeknüpften Knoten den Gegenhalt, an den es sich stemmet, um alle seine Kräfte aufzubiethen und ihnen den Nachdruk zu geben. Ohne Reizung, die von Hinternissen herkommt, zeiget sich das Genie nie in seiner Stärke. Je mehr Schwierigkeit der Dichter in der Verwiklung der Sachen findet; je stärker strenget er sich an, um sie zu übersteigen. Und darum ist man ofte dem stark verwundenen Knoten die glänzendesten Würkungen des poetischen Genies schuldig. Wenn der Knoten aus zufälligen Ursachen entstehet, und sich auch so auflöset, so wird die ganze Handlung weniger interessant. Wie sehr würde nicht das Interesse der Ilias dadurch geschwächt werden, wenn Achilles Krankheit halber, sich von den Griechen getrennt; oder wenn ein willkührlicher Göttlicher Befehl, ein Orakelspruch, ihn wieder zum Heer gebrachte hätte? Je genauer die Verwiklung und Auflösung aus dem Charakter der Personen, oder aus der Natur der Sachen selbst entsteht, jemehr gewinnt das Interesse der Handlung.

In der Noachide kommen mancherley Schwierigkeiten in der Haupthandlung vor, die, da die ganze Sache eine unmittelbare Veranstaltung der Allmacht war, sich durch Wunderwerke hätten heben lassen: aber der Dichter verwarf diesen uninteressanten Weg. Denn ein Wunderwerk höret auf interessant zu seyn, so bald man an den Begriff der Allmacht gewohnt ist. In dieser Epopöe war es darum zu thun, auf der einen Seite die gottlose Welt durch Wasser zu vertilgen, auf der andern den Stamm des menschlichen Geschlechts in der kleinen Familie des Noah zu retten.

Hier zeigten sich Schwierigkeiten in der Sache selbst und andre wußte der Dichter auf eine höchst natürliche Art zu knüpfen und wieder aufzulösen. Wie konnte die göttliche Gerechtigkeit zu einem so entsetzlichen Schluß gebracht werden? Diese Frage wird durch die abscheuliche Verderbnis aller damaligen Völker, die der Dichter höchst lebhaft schildert, aufgelößt. Wie konnte die Welt im Wasser untergehen? Der Dichter hätte alles auf einen Wink der Allmacht durch Wunder können geschehen lassen; aber dieses Wunder wäre nicht wunderbar genug gewesen; weit wunderbarer und erstaunlicher wird die Sache aus natürlichen Ursachen, aus der Zerrüttung die ein Komet verursachet. Eine neue schon in der Sache liegende Schwierigkeit: wie sollen die Noachiden im Stande seyn die Arche zu bauen? Sie von Engeln bauen zu lassen, wäre nicht so wunderbar, als die schöne Erfindung eine Nation ruchloser Riesen, der Noachiden ärgste Feinde, durch Schreken zu zwingen, das schweerste der Arbeit zu thun. Die Familie des Noah besteht nur aus Söhnen, und doch soll ein neues Geschlecht der Menschen durch sie fortgepflanzt werden. Ein neuer Knoten, den der Dichter selbst, aber auf eine höchst natürliche Weise knüpfet und wieder auflöset. Nach der ganzen Lage der Sachen, war es unvermeidlich, daß die Noachiden und Siphaiten sich von einander verlohren, und daß beyde von der übrigen Welt abgesondert lebten. Aber auch auf eine natürliche, obgleich bewundrungswürdige Weise fanden sie sich wieder, und die Söhne des Noah bekamen Frauen. Diese reizenden Scenen wären matt, wenn der Dichter nicht die Absonderung der beyden Familien, so natürlich gemacht hätte.

Beyspiele von der andern Art des Knotens, wo die Schwierigkeit darin liegt, die Menschen zu ausserordentlichen Entschliessungen zu bringen, finden wir im Meßias an mehrern Orten. Wer bewundert nicht den Charakter eines Philo, eines Caiphas, eines Judas Ischariot, aus denen sich die Hauptunternehmungen begreifen lassen? Und auch unser Geßner hat in dem Tod Abels den Ursprung und allmähligem Wachsthum des Hasses Cains gegen seinen Bruder, worin der Hauptknoten liegt, auf eine meisterhafte Weise geschildert. Dahin gehört auch die Knüpfung des Knotens in der Iphigenia in Aulis des Euripides. Es ist sehr schweer zu begreifen, wie ein Vater seine geliebte Tochter mit Vorsatz aufopfern soll. Wer aber alle Umstände, die in der Sache vorkommen und den Charakter den [600] der Dichter dem Agamemnon giebt, wol in Betrachtung zieht, dem wird die Sache begreiflich.

Gegen die Behandlung dieser Art des Knotens wird doch im Trauerspiel nicht selten gefehlt. Wir sehen bisweilen gute und böse Handlungen in einer fast unbegreiflichen Größe, ohne die Ursachen dieser Größe weder in dem Charakter, noch in den Umständen deutlich zu entdeken. Eine ausserordentliche Entschliessung, die nicht ausserordentliche Veranlaßung hat, nicht durch einem großen Kampf starker Leidenschaften entstanden ist, verliert das Interessante. Was nicht mit Schwierigkeiten verbunden ist, macht keine große Würkung.

Man kann gegen den Hauptknoten in dem verlohrnen Paradies, noch immer den Einwurf machen, daß der Fall der Eva, durch leichte Mittel hätte verhindert werden können; so sehr auch der Dichter sich Mühe giebt, dem Einwurfe zuvorzukommen. Es scheinet immer seltsam, einen Menschen in einen wichtigen Fehler fallen zu lassen, um das Vergnügen zu haben, ihm zu verzeihen. Aber der Fehler lag in dem theologischen System des Dichters, und vielleicht wäre kein Genie groß genug diesen Knoten ganz natürlich zu knüpfen und aufzulösen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 597-601.
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