Lauf, Läufe

[677] Lauf, Läufe. (Musik)

Eine Folge melodischer Töne auf eine einzige Sylbe des Textes, die man auch mit dem Italiänischen Worte Passagie, oder mit dem Französischen Roulade nennt. Es ist wahrscheinlich, daß in den alten Zeiten auf jede Sylbe des Textes nur ein Ton, oder höchstens ein paar an einander geschleifte Töne gesezt worden. Doch hat schon der heil. Augustinus angemerket, daß man bey Hymnen bisweilen in solche Empfindungen komme, die keine Worte zum Ausdruk finden, und sich am natürlichsten durch unartikulirte Töne äußern; daher auch schon in alten Kirchenstüken etwas von dieser Art am Ende vorkommt. Ich habe auf der Königl. Bibliothek in Berlin in einem griechischen Gesangbuche, das im achten oder neunten Jahrhundert geschrieben scheinet, schon ziemlich lange Läufe mitten in einigen Versen bemerket.

Es ist, wie schon Rousseau angemerkt hat, ein Vorurtheil alle Läufe als unnatürlich zu verwerfen. Es giebt in den Aeusserungen der Leidenschaften gar ofte Zeitpunkte, da der Verstand keine Worte findet, das, was das Herz fühlet, auszudrüken; und eben da stehen die Läufe am rechten Orte. Aber dieses ist ein höchstverwerflicher Mißbrauch, der in den neuern Zeiten durch die Opernarien aufgekommen, und sich auch von da in die Kirchenmusik eingeschlichen hat, daß lange Läufe, ohne alle Veranlaßung des Ausdruks, ohne andre Würkung, als die Beugsamkeit der Kehle an den Tag zu legen, fast überall angebracht werden, wo sich schikliche Sylben dazu finden; daß Arien gesetzt werden, wo die Hälfte der Melodie aus Läufen besteht, deren Ende man kaum abwarten kann. Sie sollten nirgend stehen, als wo der einfache Gesang nicht hinreicht, die Empfindung auszudrüken, und wo man fühlet, daß eine Verweilung auf einer Stelle nothwendig ist. Der Tonsetzer zeiget sehr wenig Ueberlegung, der sich einbildet, er müsse überall, wo er ein langes a, oder o, antrift, einen Lauf machen. Es giebt gar viel Arien, deren Text keinen einzigen erfodert, oder zuläßt. Vornehmlich sollten blos künstliche Läufe schlechterdings aus der Kirchenmusik verbannet seyn; weil es da nicht erlaubt ist, irgend etwas zu sezen, [677] das die Aufmerksamkeit von dem Inhalt auf die Kunst des Sängers abziehet.

Von dem Vortrag der Läufe findet man in Tosis Anleitung zur Singkunst, und den von Hrn. Agricola daselbst beygefügten Anmerkungen einen sehr gründlichen Unterricht.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 677-678.
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