[861] Originalgeist. (Schöne Künste)
Diesen Namen verdienen die Menschen, die in ihrem Denken und Handeln so viel Eigenes haben, daß sie sich von andern merklich auszeichnen; deren Charakter eine besondere Art ausmacht, in der sie die einzigen sind. Hier betrachten wir den Originalgeist in so fern er sich in den Werken der Kunst zeiget, denen er ein eigenes, sich von der Art aller andern Künstler stark auszeichnendes Gepräg giebt. Der Originalgeist wird dem Nachahmer entgegen gestellt, wie wir schon anderswo erinnert haben.1 Es ist in verschiedenen Stellen dieses Werks2 angemerket worden, daß der wahre Ursprung aller schönen Künste in der Natur des menschlichen Gemüthes anzutreffen ist; daß Menschen von mehr als gewöhnlicher Lebhaftigkeit der Phantasie und der Empfindung, die zugleich ein schärferes Gefühl des Schönen haben, als andere, aus eigenem Trieb und nicht durch fremdes Beyspiehl gereizt, gewissen Werken, oder Aeußerungen des Genies und der Empfindung durch überlegte Bearbeitung eine Form und einen Charakter geben, wodurch sie zu Werken der schönen Kunst werden. Diese sind in den schönen Künsten Erfinder, auch denn, wenn sie in ihrer Gattung nicht die ersten sind, sondern bereits Vorgänger gehabt haben: sie sind Originalgeister, in so fern sie nicht aus Nachahmung, sondern aus Trieb des eigenen Genies Werke der schönen Kunst verfertiget haben. Gemeiniglich werden dergleichen Genie in ihren Erfindungen und auch in ihrem Geschmak, genug Eigenes haben, daß sie auch darin Original sind. Wenn diese Köpfe keine Vorgänger gehabt hätten, so würden sie die ersten Urheber ihrer Kunst gewesen seyn, weil die Natur ihnen alles dazu nöthige gegeben hat. Sie sind, wie Young sagt, zufällige Originale.
Man erkennet dergleichen Originalgeister daran, daß sie einen unwiederstehlichen Trieb zu ihrer Kunst haben; daß sie alle Hindernisse, die sich ihnen gegen die Ausübung derselben in den Weg legen, überwinden; daß ihnen Erfindung und Ausübung leicht wird; daß die zu einem Werk nöthige Materie ihnen gleichsam in vollem Strohm zufließt, und daß sie, wenn gleich die Natur mehrere ihnen ähnliche Genie sollte hervorgebracht haben, doch allemal in einigen Theilen viel eigenes und besonderes zeigen. Es giebt zwar auch hierin Grade, und ein solcher Originalgeist hat vor dem andern mehr Muth und Kühnheit: daher kann es kommen, daß einige Erfinder neuer Arten sind, andere sich an die Formen und Arten halten, die sie eingeführt finden, und in diesem Punkt Nachahmer sind. So ist in der Dichtkunst Horaz ein Originalgeist, der in den Formen das Bekannte nachgeahmt hat; Klopstok aber hat neue Formen erfunden: in der Musik war unser Graun unstreitig ein Originalgeist, aber er hat in den Formen nichts Neues: in der Mahlerey war Raphael gewiß Original, aber in den Formen hat er sich ungleich mehr an das gewöhnliche gehalten, als Hogarth. Man kann also ein Originalgeist seyn und doch in gar viel Dingen sich nach dem gewöhnlichen richten: so ist auch Virgil in vielen Stüken ein bloßer Nachahmer, und doch ist er in eigenem reich genug um unter die Originalgeister gesezt zu werden.
Die Originalgeister, in welchem Stük der Kunst sie es seyen, sind aus mehr, als einem Grunde, wie Young sich ausdrükt, unsre großen Lieblinge, und sie müssen es auch seyn; denn sie sind große Wolthäter; sie erweitern das Reich der Wissenschaften und vergrößern ihr Gebieth mit einer neuen [861] Provinz3; sie öffnen uns neue Quellen des Vergnügens und neue Minen, aus denen die zu Lenkung der menschlichen Gemüther nöthige Mittel gezogen werden.
Bald jeder Originalgeist verursachet in dem Reich des Geschmaks beträchtliche Veränderung, die sich auch wol bis auf die allgemeine sittliche Verfassung seiner Zeit erstreken kann. Denn der große Haufen wendet sich allemal dahin wo er die wenigen kühneren Menschen sieht, die sich neue Bahnen eröffnet haben. Diese sind die eigentlichen Führer der Menschen. So hat Luther, ein großer Originalgeist, viel Völker von der gewöhnlichen Bahn des Glaubens und der gottesdienstlichen Verrichtungen abgeleitet und eine neue Heerstraße errichtet. In Sachen des Geschmaks sind dergleichen Veränderungen noch viel leichter, weil da die Freyheit durch nichts eingeschränkt ist. Diejenigen von unsern Dichtern, die den Muth hatten, den deutschen Vers von den Fesseln des Reims zu befreyen4, haben in unsrer Dichtkunst eine wichtige Revolution veranlasset; und Gleim, obgleich selbst ein Nachahmer des Anakreons, aber genug original, hat eine ganz neue Schule von Dichtern gestiftet. Bodmer und Breitinger waren auch nur zufällige Originalkunstrichter; aber sie haben dem Reich des Geschmaks in Deutschland eine ganz neue Verfassung geben. Was der Ruhm am glänzendsten hat, ist allemal den Originalgeistern auf behalten; aber sein bestes Kleinod gebühret denen, die in den wichtigsten Theilen der schönen Kunst Original sind.
Zwar hat jedes Original etwas, wodurch es einen Werth bekommt, den die fürtrefflichste Nachahmung nicht hat; die Kunst selbst gewinnt dadurch: aber die Nachahmung kann so seyn, daß die Erreichung des Zweks der Kunst dadurch befördert wird, den nicht jedes Original erreicht. Es giebt in den zeichnenden Künsten Kenner, die jedes Originalwerk, jeder Copey vorziehen; und sie haben recht in so fern die Werke zum Studium der Kunst gebraucht werden: wenn aber die Frage darüber ist, was man mit einem Werke, zur allgemeinen Absicht der Künste bewürken könne, so kann eine Nachahmung unendlich mehr werth seyn, als ein Original. Eben dieses muß man auch bey die Schäzung der Originalgeister bedenken, wo der, welcher am meisten Original ist, nicht allemal jedem andern vorgezogen werden kann. La Fontaine ist in Erzählung der Fabel höchst original, Aesopus ist es vornehmlich in der Anwendung, das ist, im wichtigsten Theile derselben. Es wäre gar wol möglich, daß ein Fabeldichter, der ein bloßer Nachahmer des Phrygiers wäre, an Werth den französischen Fabulisten weit überträfe. In Romanen sind Richardson und Fielding Originale, der eine in einer, der andre in einer andern Art; jener arbeitet immer auf das Herz, dieser auf den Verstand und auf die Laune. Vielleicht ist Fielding mehr Original in seiner Art, als Richardson in der seinigen; aber die Art des lezteren ist wichtiger.5 Eben so große Originale sind Montesquieu und Roußeau in dem, was sie über die Verfassungen der bürgerlichen Gesellschaften geschrieben haben; jeder hat ein neues Feld, oder neue Aussichten eröffnet: für den Staatsmann, den das Wol oder Wehe der Menschen wenig rühret, ist jener wichtig; der moralische Philosoph wird diesem weit den Vorzug geben.
Selten ist ein Künstler in allen zur Kunst gehörigen Talenten so original, wie Klopstok in jedem dichterischen Talent es ist. Einer ist blos durch die Phantasie, oder blos durch Laune original; ein andrer ist es durch seine Art sittliche Gegenstände zu empfinden, und ein dritter durch den Verstand, die Wichtigkeit, oder die weite Ausdehnung des Gesichtspunkts, aus dem er die Sachen betrachtet; und denn kann das Originale mehrerer Talente vielfältig gemischt seyn. Swift und Buttler sind beyde sehr Original durch Phantasie und Laune, die bey jedem ihre eigenen Mischungen mit andern Gemüthsgaben hatten. Die wichtigsten Originale sind ohne Zweifel die, deren Erfindungen nicht blos den Künstlern in einzeln Theilen der Kunst vortheilhaft sind, sondern dem Geschmak eines ganzen Volkes eine neue und vortheilhafte Wendung geben; die neue Quellen eines sich über ein ganzes Volk verbreitendes Vergnügens eröffnen; die den allgemeinen Gemüthskräften [862] einen neuen vortheilhaften Schwung geben. In frevelhaften Dingen6 original zu seyn und einem ganzen Volke dadurch seinen Geschmak mitzutheilen, bringt Schimmer, aber keinen dauerhaften Glanz des Ruhmes. Voltaire ist von mehr, als einer Seite wahrhaftig Original; aber dadurch, daß er den Geschmak eingeführt hat, aus ernsthaften Dingen ein wiziges Possenspiehl zu machen, wird sein Ruhm nicht sehr vermehrt; ob gleich auch darin nicht alles zu verwerfen ist. So hat der Originalgeist, der in Frankreich die Parodien eingeführt hat, dem Geschmak und dem sittlichen Gefühl eben keine vortheilhafte Wendung gegeben.
Unter den vorzüglichsten Originalen der neuern Zeiten behauptet der nicht längst verstorbene Engländer Sterne, einen ansehnlichen Rang. In einigen Stüken ist er so sehr original, daß er keine Nachahmer finden wird Sein Leben des Tristram Shandy wird wol das einzige Werk seiner Art bleiben: aber seine empfindsamen Reisen haben Nachahmer gefunden und verdienen es auch. Denn diese Sternische Art die gemeinesten Vorfälle des täglichen Lebens anzusehen, ist gewiß wichtig und wird manchen Menschen zur genaueren Selbsterkenntniß führen, als jeder andere Weg den man dazu einschlagen könnte.
Wir können hier die Frage nicht mit Stillschweigen übergehen, warum die Originalgeister so selten sind. Es ist wahrscheinlich, daß mehr die Nachahmungssucht, als eine gewisse Kargheit der Natur in Austheilung ihrer Gaben daran Schuld sey. Man sieht Genien, die vollkommen aufgelegt sind, selbst Originale zu seyn, und dennoch von jener Sucht angestekt werden. Deutschland selbst besizt einen Mann von großem Genie, der von der Natur mit mancherley sehr vorzüglichen Gaben versehen ist, und der in mehr als einem Fach ein fürtrefliches Original seyn könnte: und doch sehen wir ihn in mancherley nachgeahmten Gestalten, erscheinen, durch welche der Originalgeist immer durchscheinet. Bald reizt ihn der jüngere Crebillon, bald Diderot, bald Sterne zur Nachahmung. Einigen Originalköpfen mag es auch an Muth fehlen. Indem sie sehen, wie allgemein schon vorhandene Werke bewundert werden, wie die Kunstrichter dieselben zu Mustern aufstellen; wie so gar aus dem, was diese Werke an sich haben, allgemeine Regeln für die ganze Gattung abgezogen werden; so getrauen sie sich nicht einen anderen Weg einzuschlagen. Sie besorgen eine Ode, die nicht horazisch, oder pindarisch, ein Trauerspiehl, das nicht nach den griechischen Mustern gemacht ist, möchte blos darum keinen Beyfall finden; und darum zwingen sie ihr eigenes Genie unter das Joch eines fremden Gesezes. In Frankreich mag mancher Originalgeist durch diese Besorgnis unterdrükt werden. Denn diese Nation scheinet nichts für gültig erkennen zu wollen, als was den Werken ähnlich ist, die in den so sehr gepriesenen Zeiten Ludwigs des XIV gemacht worden. Wir urtheilen zwar freyer; weil wir selbst noch nicht lange genug große einheimische Muster vor uns haben: aber es scheinet doch bisweilen, daß einige Kunstrichter gewissen Werken deswegen ihren Beyfall versagen, weil sie von den gewöhnlichen Formen abgehen. Etwas Stolz, wenigstens Zuversicht in seine Kräfte, steht dem Genie wol an, und es nihmt daher neue Kräfte; gegen den Tadel nachahmender Kunstrichter, ruft ihm ein unpartheyisches Publicum das sapere aude des Horaz zur Aufmunterung zu.
1 | S. ⇒ Nachahmung. |
2 | S. ⇒ Künste, ⇒ Dichtkunst, ⇒ Gesang, ⇒ Musik u.a. |
3 | Gedanken über die Originalwerke. S. 16. nach der zweyten Ausgabe der deutschen Uebersezung. |
4 | S. ⇒ Lyr. Versarten. |
5 | Hier ist von der Art den Roman zur Bildung des Herzens anzuwenden, überhaupt die Rede; denn was sich sonst gegen das Besondere der Richardsonischen Behandlung einwenden läßt, ist allerdings erheblich. Der Verfasser des Agathons hat wichtige Erinnerungen dagegen vorgebracht. |
6 | Frivolités. |
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