Prosa; Prosaisch

[926] Prosa; Prosaisch. (Redende Künste)

Man nennt zwar jede Rede die weder ein bestimtes Sylbenmaaß, noch metrische Einschnitte hat,1 Prosa; und dennoch scheinet es, daß der Charakter des prosaischen Vortrages nicht blos hievon abhange; weil man auch gewisse Verse prosaisch, und einen gewissen Vortrag, dem Sylbenmaaß und Metrum fehlen, poetisch nennt. Die prosaische Rede hat neben dem äußerlichen, oder mechanischen, das in dem Mangel des nach einer bestimten Regel abgemessenen Ganges besteht, noch einen innerlichen Charakter, der von dem Ton und der Wahl des Ausdruks herkommt. Es giebt Wortfügungen, Wendungen, einzele Wörter und Redensarten, die dem prosaischen Vortrag entgegen und dem Gedichte vorbehalten sind. Werden diese in der Rede, der das Sylbenmaaß und das Metrum fehlet, gebraucht; [926] so nennt man die Prosa poetisch; fehlen sie aber dem Vortrage in Versen, so werden diese prosaisch genennt.

Es ist bereits in andern Artikeln gezeiget worden2 worin das Poetische der Sprach, in so fern es vom Sylbenmaaß unabhänglich ist, bestehe, und daraus läßt sich auch der innere Charakter der Prosa bestimmen. Doch ist dabey zu merken, daß einzele, hier und da etwa vorkommende poetische Redensarten und Wendungen die Prosa noch nicht poetisch, noch weniger prosaische Wendungen die Poesie prosaisch machen. Man braucht diese Ausdrüke von der Schreibart, oder der Art des Vortrages, darin der eine, oder der andere dieser Charaktere herrschend ist.

Die poetische Prosa, nämlich Gedichte, ohne Sylbenmaaß, sind ein Einfall der neueren Zeit; und es ist verschiedentlich darüber gestritten worden, ob irgend einem prosaischen Werk der Namen eines Gedichts mit Recht könne beygelegt werden. Izt ist die Frage fast durchgehends entschieden, und niemand weigert sich unsern Geßner, dessen Werke fast durchgehends in Prosa geschrieben sind, unter die Dichter zu zählen. Freylich fehlet es dem schönsten prosaischen Gedichte noch an einer Vollkommenheit; und man empfindet den Mangel des Verses desto lebhafter, je schöner man das übrige findet.

Aber zwey Dinge sind, davor sich jeder in den redenden Künsten sorgfaltig in Acht zu nehmen hat: vor dem prosaischen Ton in dem Gedicht und vor dem poetischen in der gemeinen Rede. Jenes ist dem Charakter des Gedichts so sehr entgegen, daß auch im prosaischen Gedichte selbst, der prosaische Ton ganz wiedrig wäre: dieses wiederspricht dem Charakter der gemeinen Rede eben so, wie wenn man bey der alltäglichen, blos nach der Nothdurft eingerichteten Kleidung irgend einen Theil derselben nach festlichem Schmuk einrichten wollte. Wie es abgeschmakte Pedanterie ist, wenn man in den Reden über Geschäfte des täglichen Lebens, oder des gemeinen Umganges ohne Noth Ausdrüke, Redensarten und einen Ton annihmt, die dem wissenschaftlichen gelehrten Vortrag eigen sind; so ist es auch eine ins Lächerliche fallende Ziererey, wenn man in der gemeinen Sprache der Unterredung poetische Blumen, oder etwas von dem feyerlichen Ton der Redner oder Romanenschreiber einmischt: ein Fehler, in den junge für die Sprache der Romane zu sehr eingenommene Personen des schönen Geschlechtes, nicht selten fallen. Dieses ist aber gerade der Fall junger Schriftsteller, die ihren prosaischen Vortrag hier und da mit poetischen Schönheiten ausschmüken. Höchst anstößig ist dieses vornehmlich in dem Dialog der dramatischen Werke, der dadurch seine ganze Natur verliehret.

Ich halte es für wichtig genug bey dieser Gelegenheit unsre Kunstrichter auf diese Fehler, die nicht selten begangen werden, besonders aufmerksam zu machen, damit sie sich ihrem Einreißen mit Fleiß entgegen setzen.3 Es ist für die Dichtkunst sehr wichtig, daß sie eine ihr allein zukommende Sprache behalte. Denn gar ofte hat sie kein anderes Mittel sich über die gemeine Prose zu erheben und die Aufmerksamkeit der Leser in der gehörigen Spannung zu erhalten, als eben den ihr eigenen Ton im Vortrage; und ofte blos den Gebrauch gewisser Worte, die eben deßwegen, weil sie in der gemeinen Sprach unerhört sind, einen poetischen Charakter haben. Sollten diese Mittel auch in dem sonst unpoetischen Vortrag gewöhnlich werden, so würde der Dichter sich bey manchen Gelegenheiten gar nicht mehr über den gemeinen Vortrag erheben können.

Es ist freylich nicht möglich die Gränzen, wo sich das Prosaische des Vortrages von dem Poetischen scheidet, durchaus mit Genauigkeit zu zeichnen. Wer aber ein etwas geübtes Gefühl hat, der empfindet es bald, wenn sie von der einen oder der andern Seite überschritten werden. Wenn also die Kunstrichter dergleichen Ausschweifungen über die Gränzen gehörig rügen, so gewöhnen sich die Schriftsteller, die sich derselben schuldig gemacht haben, zum sorgfältigern Nachdenken, wodurch ihr Gefühl hinlänglich geschärft wird, um solche Fehler künftig zu vermeiden.

Verschiedene Kunstrichter haben angemerkt, daß es schweerer sey in einer durchgehends reinen und den Charakter ihrer Art überall behauptenden Prosa, als in einer durchaus guten poetischen Sprache zu schreiben. Dieses scheinet dadurch bestätiget zu werden, daß bey mehreren Völkern, so wie bey den Griechen, die Sprache der Dichtkunst weit früher eine gewisse Vollkommenheit erreicht hat, als die Prosa. Der Grund hievon liegt ohne Zweifel darin, daß die eine ein Werk der schnellwürkenden Einbildungskraft, die andere aber ein Werk des Verstandes ist, dessen Würkungen langsamer und bedächtlicher [927] sind. Es ist eben der Fall, der zwischen den schönen Künsten und den Wissenschaften den sehr merklichen Unterschied hervorbringt, daß jene ofte sehr schnell, diese durch ein ungemein langsames Wachsthum zur Vollkommenheit empor steigen.

1S. Sylbenmaaß; Metrisch.
2S. Poetisch; Ton.
3Man sehe einige gute Erinnerungen hierüber in der Neuen Bibl. der schönen Wissensch. im St. des X Bandes, auf der 108. Seite.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 926-928.
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