[1090] Solfeggiren. Solmisiren. (Musik)
Bedeutet ursprünglich, vermittelst der sechs aretinischen Sylben, eine Melodie singen; es wird aber auch überhaupt von jedem Notenlesen oder Singen gebraucht, wobey man den Noten gewisse Namen giebt. In diesem weiten Sinne nehmen wir das Wort in diesem Artikel, in welchem von diesen ersten Uebungen der künftigen Sänger soll gesprochen werden. Anfänger der Singkunst machen mit dem Solfeggiren den Anfang, und werden auf mannigfaltige Art so lange darin geübt, bis sie nach Noten singen, oder, wie man sagt, treffen können.
In den mehresten Orten Deutschlands bedient man sich zum Solfeggiren der nämlichen Sylben und Buchstaben, womit die Töne benennet werden. Man singt die Tonleiter von C über c d e f g a h | /, und die Fortschreitungen durch halbe Töne über c cis d dis e u.s.w. ohne dazu andere Sylben zu gebrauchen. Diese Methode hat den Vortheil, daß das Gedächtniß des Singschülers nicht mit zweyerley Benennungen desselben Tones beschweret wird: indessen ist nicht zu leugnen, daß einige Mitlauter und die vielen i in cis, dis, fis u.a. der Stimme im Singen etwas hart und unbequem fallen. Doch so arg ist es hiemit nicht, als Rousseau es vielleicht meint, wenn er sagt, daß die Methode der Deutschen so hart und so voller Verwirrung sey, daß man ein Deutscher seyn müsse, um danach solfeggiren zu können und demohngeachtet ein Meister der Kunst zu werden1. Ein Franzose hat freylich [1090] keinen Begriff von der Leichtigkeit, mit der ein Deutscher das g oder h aussprechen und darauf einen vollen Ton angeben kann, noch das Vermögen es ihm nachzumachen: und was die Unordnung anbetrifft, die mit dieser Methode verknüpft seyn soll, so trifft dieser Vorwurf nur einige wenige eigensinnigen Sangmeister, die die fast durchgängig in Deutschland festgesezte Benennung der Töne nicht annehmen, sondern zween verschiedenen Tönen oft dieselbe Benennung geben, z.B. dis für dis und es, fis für fis und ges etc. wodurch der Schüler freylich verwirrt gemacht werden muß. Bey Vernünftigern hat nach der einfachen Regel: bey allen durch erhöhten Tönen den Namen c, d, e u.s.f. die Endigung is, und bey allen durch b erniedrigten Tönen, außer bey dem h, welches b genennet wird, den Selbstlautern ein s und den Mitlautern ein es zuzusezen, jeder Ton seine ihm eigne Benennung, und kann daher weder mit andern verwechselt werden, noch im Solfeggiren die geringste Unordnung verursachen. Es ist wahr, daß einige von diesen Benennungen, als fürnehmlich eis und ais zum Singen ganz und gar unbequem sind; aber ist es denn ein Gesez, daß der Sänger in allen Tonarten solfeggiren muß? und wenn er in F und B dur solfeggiren und die Noten treffen kann, wird er nicht, wenn man ihm einen Begriff von der Transposition der Tonarten gemacht hat, jedes Singstük aus dem Fis oder H dur, wo diese Benennungen am häufigsten vorkommen, eben so leicht treffen? Da der Sänger mit keiner Applicatur zu thun, sondern blos Intervalle zu treffen hat, die in allen Tonarten dieselben sind, so lehre man ihn solches in den, in Ansehung der Benennung der Töne, leichtesten Tonarten, und um ihn mit den schweereren Tonarten bekannt zu machen, lasse man ihn über verschiedentlich ausgesuchte leicht und schweer auszusprechende Worte singen, und gebe darauf Acht, daß er sie deutlich und verständlich ausspreche. Dieses ist von größerer Wichtigkeit, als die Subtilitäten über die Benennung der Töne, ob es für den Sänger bequemer sey, ut oder do oder c zu singen. Diejenigen, die so sehr für leicht auszusprechende Sylben und wolklingende Vocalen sind, bedenken nicht, daß der daran gewöhnte Sänger dadurch oft untüchtig gemacht wird, in der Folge über ein etwas hartes Wort einen reinen Ton anzugeben. Noch schlimmere Folgen hat die Methode, dem Sänger, wenn er die Noten und Intervalle schon begriffen hat, ganze Stüke über einen einzigen Vocal, wie z. E. über a singen zu lassen; dadurch wird seine Kehle zu einer Pfeife, die nur tönt; er gewöhnt sich zu einer lahmen Aussprache im Singen, und alle Worte, die er ausspricht, verwandeln sich endlich in Sylben, die alle nur das a zum Selbstlauter haben. Statt leben, singt er: laban; statt frölich: fralach etc. Ja bey einigen Sängern, die sich täglich in dieser Art zu solfeggiren, oder vielmehr in Passagen üben, bemerkt man diesen Fehler der Aussprache schon in der gemeinen Rede. Selten ist die deutsche Singpoesie von einigen harten oder wenigstens im Singen schweer auszusprechenden Worten frey; darum muß der angehende Sänger neben dem Solfeggiren zugleich in der deutlichen Aussprache leichter und schweerer Worte und aller Vocalen am sorgfältigsten geübt werden, damit er verständlich singen lerne: werden die Worte des Sängers nicht verstanden, so ist er für weiter nichts, als eine lebendige Pfeife zu halten.
In einigen Provinzen von Deutschland wird noch nach den sechs aretinischen Sylben ut re mi fa sol la solfeggiret; daß diese Methode nur bey den alten Tonarten mit Nuzen zu gebrauchen, hingegen in den neuern wegen der unnüzen Schwierigkeiten, die sie verursachen, mit Recht verwerflich sey, wird in dem folgenden Artikel gezeiget werden. Die Franzosen, die diesen sechs Sylben, um die Octave auszufüllen, die siebente nämlich si zugesezt haben, thun sich nicht wenig auf diese sieben Sylben zu gut, und preisen sie als die leichtesten zum Solfeggiren an. Wir finden diese Methode aber aus der Ursache, daß c, ces, cis, ut, d, des, dis, re, heißen, folglich drey Töne in unserm Notensystem immer nur einerley Benennung haben, so unvollkommen, und für den Schüler, zumal wenn er, wie Roußeau will, die Benennung der Töne der Tonart C in alle übrigen Tonarten transponiren soll, so daß ut die Tonica, mi die Mediante, sol die Dominante jeder Tonart sey, ohngeachtet des Nuzens, den man sich von dieser Transposition versprechen könnte, so schweer, daß wir sie den deutschen Sangmeistern mit gutem Gewissen nicht anrathen können. Will man sich aber doch wolklingender Sylben zum Solfeggiren bedienen, so wähle man solche, wo die Benennung der natürlichen und der durch oder b erhöhten und erniedrigten Töne unterschieden und leicht [1091] faßlich sind. Von dieser Art sind folgende von Grauns Erfindung:
deren Anfangsbuchstaben die zwey Buchstaben es zugefüget werden, wenn die Note durch ein um einen halben Ton erhöhet wird, nämlich: des, mes, nes etc. und as, wenn sie durch ein b um einen halben Ton erniedriget wird, das, mas, nas etc. Herr Hiller hat in einer vor kurzer Zeit herausgegebenen Anleitung zum musikalisch - richtigen Gesange von dieser sogenannten Damenisation Gebrauch gemacht; aber er nihmt wieder die Absicht des Erfinders derselben, die blos statt der gewöhnlichen Benennung der Töne eine leichtere und zum Singen bequemere Sylbeneinführung zum Grunde hatte, wovon da allezeit c, me allezeit d, ni allezeit e u.s.w. bezeichnen sollte2, mit diesen Sylben Mutationen, nach Art der Aretinischen Solmisation3 vor, wodurch dem angehenden Sänger die Schwierigkeit, die Intervallen treffen zu lernen, doch gewiß vergrößert wird, weil seine Aufmerksamkeit von den Intervallen abgezogen und auf die Mutation der Sylben gerichtet, wenigstens dadurch getheilet wird.
Die Hauptabsicht des Solfeggirens, es geschehe nun auf welche Art es wolle, ist treffen zu lernen. Ich kann hier nicht umhin, kürzlich einer Methode zu erwähnen, die mir vor allen andern die bequämeste scheinet, um diese Absicht bey angehenden Sängern glüklich und geschwind zu erreichen. Nachdem die Noten und die auf- und absteigende C dur und A moll Tonleiter nach der gewöhnlichen Benennung der Töne gefaßt sind, mache man dem Schüler einen Begriff von der Transposition dieser Tonleitern in andere Tonarten, und der daher entstehenden Nothwendigkeit der Vorzeichnungen. Darauf wird der auf- und absteigende Dreyklang eines jeden Moll- und Durtones, der dem Gesange nach sehr leicht zu lernen ist, gesungen, und der Schüler auf die in jedem Dreyklang enthaltenen Intervalle aufmerksam gemacht. In der Tonleiter und dem Dreyklang sind fast alle Intervallen einer Tonart enthalten. Kleine Exempel, wo diese Intervallen um einen halben Ton erhöhet oder erniedriget vorkommen, üben den Schüler in den übrigen Intervallen. Jede Lection wird endlich mit kleinen Singstüken über Worte untermischt, damit der Schüler sogleich gewohnt werde, von der einförmigen Benennung der Töne zu abstrahiren. Diese Methode empfiehlt sich durch ihre Einförmigkeit und Gründlichkeit; auch währt es nicht lange, daß nicht jeder aufmerksame Schüler, der nur einiges Talent zum Singen hat, in mäßiger Bewegung alles vom Blatt treffen könnte.
Die Transposition der Tonarten ist allerdings das schweereste in der Singkunst. Mancher Sänger singt in C dur alles vom Blatt, und würde in H dur unsicher treffen, weil er mit dieser Tonart nicht bekannt genug ist; und doch singt er ein ihm bekanntes Singstük in jeder Tonart mit gleicher Leichtigkeit. Diese Schwierigkeit könnte leicht gehoben werden, wenn die Singcomponisten sich gefallen lassen wollten, die Singstimme eines Stüks, es gehe aus welchem Ton es wolle, nach Art der Waldhörnerstimmen allezeit in C dur, oder wäre es eine Molltonart, in A moll zu transponiren. Allenfalls könnte noch ein Schlüssel zu Hülfe genommen werden, um die zu vielen Nebenlinien unter und über dem Notensystem zu vermeiden. Der Sänger würde alsdann nur zwey Tonarten und zwey Schlüssel sich bekannt machen dürfen, statt daß er, nach der gewöhnlichen Art zu schreiben, sich in zwölf harten und zwölf weichen Tonarten festsezen muß, wovon die mehresten ihm das Solfeggiren so sauer machen, daß ihm oft die Lust vergeht, treffen zu lernen, ob er gleich der Kunst zu singen nicht entsagt. Daher sind so viele Sänger von Profeßion, die zur Schande der Kunst und der großmüthigen Belohnung oft nicht eine Terz vom Blatt zu singen im Stande sind.
Singstüke ohne Worte, die blos zum Solfeggiren gemacht, und zur Uebung der Singstimme und des Treffens dienen, werden Solfeggi genennet.
Buchempfehlung
In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.
82 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro