Stimme

[1111] Stimme. (Musik)

Dieses Wort hat mehrere Bedeutungen. Es bedeutet 1) die menschliche Stimme an sich; und 2) jede geschriebene Partie eines Stüks, die den Gesang enthält, der gesungen oder gespiehlet werden soll. In diesem Verstand ist ein Quatuor ein vierstimmiges Stük, das aus einer Violin- einer Flöten- einer Bratsche- und einer Baßstimme, oder wenn es ein Singstük ist, aus einer Discant- Alt-Tenor- und Baßstimme, die man auch Singstimmen nennet, bestehen kann. Selbst die verschiedenen Töne, die zu einem Accord gehören, werden auch so viel Stimmen genennet: so sagt man, daß zu einem vollkommenen Dreyklang vier Stimmen gehören. Daher auch die Benennungen: Hauptstimme, Oberstimme, Solostimme, Mittelstimme; oder zweystimmig, dreystimmig, vielstimmig, vollstimmig etc. Aeußerste Stimmen sind die Oberstimme und der Baß gegen einander. Es ist für die Tonsezer eine Regel, daß jede Stimme der Natur des Instruments gemäß, und besonders in Stüken, wo sie mehr als einfach besezt wird, leicht vorzutragen sey; daß die Hauptstimme nicht durch die Mittelstimmen verdunkelt werde; und daß in den äussersten Stimmen die vollkommenste Reinigkeit beobachtet sey.

In Ansehung der menschlichen Stimme gehören physikalische Untersuchungen, über ihre Entstehung und über die Ursachen ihrer Verschiedenheit in den Altern und Geschlechten, nicht in den Plan dieses Werks. Wer davon unterrichtet seyn will, findet in Tosis Anleitung zur Singkunst1 hinlänglichen Unterricht davon. Wir merken nur überhaupt an, daß die weibliche Stimme wegen ihrer Annehmlichkeit [1111] und Dauer einen Vorzug vor der männlichen habe. Die Stimme der Castraten, zu geschweigen, daß sie durch grausame und die Menschheit schändende Mittel erzwungen wird, und selten geräth, verbindet, wenn sie auch am vollkommensten ist, mit ihrer Annehmlichkeit doch so viel unnatürliches, daß sie mit einer schönen weiblichen Stimme nicht in Vergleichung zu ziehen ist. Deutschland zeugt vor vielen andern Nationen vortreffliche Baßstimmen.

Die Stimmen werden überhaupt in hohe und tiefe eingetheilt. Hohe sind: der Discant und Alt; tiefe: der Tenor und Baß. Knaben und Frauenzimmer singen den Discant; Jünglinge von noch nicht reifen Alter haben insgemein eine Altstimme; Männern ist der Tenor und Baß eigen. Der natürliche Umfang jeder Stimme, den ein Tonsezer, der für die gewöhnlichen Menschenstimmen sezt, in Chören nicht überschreiten muß, ist von einer Decime, höchstens einer Undecime in allen Stimmen, wie aus dieser Vorstellung zu sehen ist:

Stimme

In Arien ist ihm eher vergönnt, noch einen Ton höher oder tiefer zu gehen, weil nur ein Sänger, der den Umfang der Stimme habe, dazu nöthig ist. Wenn die Musik von einer Orgel, die im Chorton gestimmt ist, begleitet wird, so ist auch hierauf Rüksicht zu nehmen; der Umfang jeder Stimme ist alsdenn um einen Ton tiefer.

Aber nicht alle Stimmen sind in dem Umfang einer Decime oder Undecime eingeschränkt. Einige gehen noch um einen oder etliche Töne höher; andere tiefer. Mancher hat eine Stimme, die dritte-halb Octaven im Umfange hat. Es giebt Discantstimmen, die bis ins dreygestrichene d und noch höher gehen; es giebt auch hohe oder tiefe Altstimmen. Für solche Stimmen aber sezt der Tonsezer nur in besondern Fällen.

Daß der Klang der menschlichen Stimme großen Vorzug vor jedem Instrument, von welcher Art es sey, habe, fühlt jedes Ohr. Man empfindet bey einer guten Stimme mit dem Klang, der das Gehör rühret, etwas von der Seele der singenden Person: sie hat etwas mehr, als körperliches: was eine Statue gegen einen lebenden Menschen ist, das ist der Ton eines Instruments, gegen den Ton der Menschenstimme. Daher sind die Singstüke die wichtigsten Werke der Musik, und es ist nicht möglich durch Instrumente, so gut sie auch gespiehlt werden, so tief in die Herzen zu dringen, als durch Menschenstimmen. Und doch sollte man aus der Beschaffenheit der gewöhnlichen Concerte das Gegentheil schließen. Sie sind durchgehends so beschaffen, daß man denken sollte, die Tonkünstler sähen das Singen, als eine Nebenfach an; denn man hört allemal zehen Instrumentalstüke gegen ein Singstük, und gegen hundert Liebhaber, die auf Instrumenten spiehlen lernen, findet man kaum einen, der sich auf das Singen legt.

1Nach des Herrn Agricola Uebersezung S. 22 u. f.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1111-1112.
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