Durch dieses Wort bezeichnen wir eine, nur eine kurze Zeit daurende, oder aus gewissen Absichten glüklich veranstaltete Zerstöhrung der Harmonie, oder Ordnung, da ein oder mehr Töne aus ihrer Stelle entweder völlig oder zu früh weggerükt werden. Dergleichen Verrükungen oder Wegrükungen kommen so wol in der Harmonie, als in der Melodie vor.
Die harmonische Verrükung kann auf zweyerley Weise vorkommen: 1. indem man die Grundharmonie auf einen Augenblik zerstöret, aber auch sogleich wieder herstellet; und 2. indem man den Accord nicht gleich in seiner Vollkommenheit hören läßt. In beyden Fällen aber geschiehet es so, daß die Grundharmonie darum nicht aus dem Gefühl gebracht wird.
Im ersten Fall ist die Verrükung in der Harmonie das, was der Durchgang in der Melodie ist, und in den Stimmen, wo die Verrükung geschieht, geht ein Durchgang in der Melodie vor.1 Z.B.
[1218] Verrükungen dieser Art geschehen ohne alle Vorbereitung; sie zerstören die vorhergehende Harmonie auf der schlechten Zeit des Taktes, und stellen sie auf der folgenden guten mit doppelter Annehmlichkeit wieder her. Sie dienen außerdem bald zur Verbindung des Gesanges in den einzelen Stimmen, bald zur Unterhaltung der Bewegung, oder das Stillestehen derselben zu verhindern. Die Intervalle, mit denen diese Art der Verrükung bewerkstelliget wird, sind insgemein gegen die Grundnote dissonirend, und werden auch durchgehende Dissonanzen genennet.
Im zweyten Fall entstehen die zufällig dissonirenden Accorde, die nur auf der guten Zeit des Taktes vorkommen können, und deren Dissonanzen vorbereitet und aufgelöset werden müssen. Hievon aber ist in verschiedenen Artikeln hinlänglich gesprochen worden2. Wir merken nur noch an, daß die harmonische Verrükung in beyden Fällen nur bey solchen Accorden, die von einer beträchtlichen Länge und Gewicht sind, angebracht werden kann.
Eine andere Art der Verrükung, die aber nur in der Melodie statt hat, ist die, wenn ein oder mehrere Töne durch Vorausnahme oder Verzögerung3 früher oder später, als sie sollten, eintreten. Hievon wird in einem besondern Artikel gesprochen4.
Zeit, Rhythmus und Bewegung können auch auf mancherley Weise verrükt werden. Wenn z.B. im 3/8 Takt drey Viertel gesezt werden, die den Zeitraum von zwey Takten einnehmen und gleich schweer vorgetragen werden, wodurch die Taktbewegung auf eine kurze Zeit ganz zernichtet wird. Diese Art der Verrükung kann in Unentschlossenheit, oder in dem Ausdruk der Furcht, oder in ein Singstük bey überaus starken und nachdrüklichen oder trozigen Worten, oder wenn man den Zuhörer nach einer einförmigen und langweiligen Fortschreitung der Bewegung unvermuthet durch etwas fremdes und ungewöhnliches erschüttern und wieder aufmuntern will, von der größten Kraft seyn; wenn sie nur mit Ueberlegung angebracht wird. Oder wenn in einem Allegro ein paar Takte Adagio angebracht werden; oder beyde Bewegungen in entgegengesezten Leidenschaften mit einander abwechseln; oder wenn die Bewegung auf eine kurze Zeit gar stille steht, wie bey Fermaten5. Hieher gehören auch die unvermuthete Ruhe mitten in einem Takt; der ungerade Rhythmus von drey oder fünf Takten, oder die Art der Verrükung, nach der bey nachdrüklichen Worten wesentlich lange Noten zu kurzen, und kurze zu langen Noten gemacht werden, wie in diesem Beyspiehl einer Graunischen Opernarie:
Jedermann erkennt gleich, daß diese Art der Verrükung in Singstüken nur über solche Worte oder Sylben angebracht werden kann, die sie vertragen. In dem Stabat mater des Pergolesi; das der großen Bewundrung, womit so viele davon sprechen, unerachtet von uns für ein sehr fehlerhaftes und schlechtes Werk gehalten wird, findet sich folgende Arie:
wo diese Verrükung so unschiklich angebracht ist, daß jedem Sprachkenner bey Anhörung derselben die Haut schaudert.
Alle diese Verrükungen der Zeit, des Rhythmus und der Bewegung gehen über das Gewöhnliche hinaus, und bringen, wenn sie sparsam und mit Ueberlegung angebracht werden, viel Freyes und Großes in die Schreibart. Große Meister bringen damit die größten Würkungen hervor; Stümper legen damit ihre Unwissenheit und ihre Ungeschiklichkeit an den Tag. Bey jenen stehen sie allezeit am rechten Ort, und die Uebertretung der Regeln wird in ihren Werken ofte zur größten Schönheit; bey diesen stehen sie niemals recht, sie zerstören die Ordnung, und bringen Verwirrung und Unsinn hervor.
Anfängern der Sezkunst ist zu rathen, daß sie sich strenge an die Regeln halten, die die Ordnung zum Endzwek haben, und sich vollkommen darin festsezen, ehe sie anfangen, die Ausnahmen großer Meister nachzuahmen, und sich dieser lezt angezeigten Arten der Verrükungen zu bedienen.