So nennt man den Saz, der aus mehr als vier Stimmen besteht, deren jede ihre besondere Melodie hat. In so fern bey dem Dreyklang ein Intervall desselben verdoppelt werden muß, sollte der vierstimmige Gesang, der aus Baß, Tenor, Alt und Discant besteht, auch schon zum vielstimmigen gerechnet werden; denn eigentlich ist der Saz vielstimmig, der die Verdoppelung eines oder mehrer zum Accord gehöriger Intervalle erfodert. Da nun der consonirende Accord außer dem Grundton, [1237] der zum Fundamentalbasse gehört, und für keine besondere Stimme gerechnet wird, nur drey Intervalle enthält, die Octav, oder Prime, deren Terz und Quinte, die in drey Stimmen können vertheilt werden, so erfodert die vierte Stimme bey jeder consonirenden Harmonie schon die Verdoppelung oder Wiederholung eines der consonirenden Intervalle. Indessen wird nach dem gewöhnlichen Gebrauch des Worts nur der Gesang, der mehr, als vier Stimmen hat, vielstimmig genennt; daher im vielstimmigen Gesang auf jeden Accord, wenn er gleich, wie der wesentliche Septimenaccord, aus vier Intervallen besteht, wenigstens ein Intervall muß verdoppelt werden.
Beym vielstimmigen Gesang hat man außer den allgemeinen Regeln des Sazes besonders noch nöthig zu wissen, was für Intervalle zur Vermehrung der Harmonie sollen verdoppelt werden. Wir haben deswegen hier vornehmlich zu zeigen, wie diese Verdoppelung am schiklichsten geschehe.
Hier ist vorerst dieses zur Grundregel anzunehmen, daß bey dissonirenden Accorden die Dissonanzen nicht können verdoppelt werden; weil dieses offenbar verbothene Octaven verursachen würde. Denn da die Auflösung der Dissonanzen ihren Gang völlig bestimmt, so müßte die verdoppelte Dissonanz in beyden Stimmen, wo sie vorkommt, einerley Gang nehmen, folglich würden dadurch nothwendig Octaven entstehen.
Es ist also eine allgemeine Regel, daß nur die Consonanzen können verdoppelt werden. Dabey ist dieses die natürlichste Ordnung, daß die Verdoppelung nach der Ordnung, in der die Consonanzen erzeuget werden, geschehe. Wir haben anderswo1 gezeiget, daß diese harmonische Progreßion 1 1/2 1/3 1/4 1/5 u.s.f. alle consonirenden Töne oder Intervalle in ihrer natürlichen Ordnung enthalte. Daher kann man den Schluß ziehen, daß, wo nur eine Consonanz zu verdoppeln ist, am natürlichsten die Octave 1/2 verdoppelt werde; wo zwey zu verdoppeln sind, Octav, und Quinte 1/2 und 1/3. Wo drey zu verdoppeln sind Octav, Quinte und die doppelte Octave 1/2, 1/3, 1/4, und so fort. Dieses ist die wichtigste Grundregel zur Verdoppelung. Doch kann sie nicht allemal genau beobachtet werden, weil dadurch bisweilen in irgend einer Stimme unharmonische Fortschreitungen entstehen könnten. Auch kann man aus der angezeigten Erzeugung der Consonanzen zum vielstimmigen Saz diese wichtige Regel herleiten, daß in den tiefen Stimmen die Consonanzen weiter auseinander, in den obern aber näher an einander zu bringen sind, wie schon anderswo angemerkt worden.2
Das Wichtigste aber, was hiernächst anzumerken ist, ist dieses, daß man bey verwechselten Accorden allemal die wahre Grundharmonie vor Augen habe; weil ohne dieses nicht kann beurtheilt werden, ob ein Intervall könne verdoppelt werden, oder nicht. Durch die Verwechslung nihmt eine Dissonanz oft das Ansehen der Consonanz an, und kann dennoch nicht verdoppelt werden. So ist z.B. in dem Accord, die Quinte die eigentliche Dissonanz3 und kann folglich nicht verdoppelt werden. Wenn man also sagt: daß nur die Consonanzen können verdoppelt werden, so ist dieses von den Consonanzen des eigentlichen Fundamentaltones zu verstehen, auf den man also beständig Rüksicht zu nehmen hat.
Bey den Accorden, die zufällige Dissonanzen haben, muß die Verdoppelung der Consonanzen, in welche die Dissonanzen sich auflösen, vermieden werden. Wo z.B. 9 8. vorkommt, verdoppelt man erst Quint und Terz, die Octav aber nur, wenn dieses noch nicht hinlänglich ist, alle Stimmen zu versehen; bey 4 3. verdoppelt man erst Quint und Octave, und nur bey sehr viel Stimmen die Terz des Baßtones; bey verdoppelt man erst die Quinte, und nur, wenn man noch mehr Töne nöthig hat, hernach die Octave, und denn die Terz; bey dem Sextenaccord, der die Septime zum Vorhalt hat, wird auch erst die Octave des Basses verdoppelt, ehe man die Sexte dazu nihmt.
Eine wichtige Anmerkung zur Lehre des vielstimmigen Sazes, kann aus den sogenannten Mixturen der Orgeln gezogen werden. Denn daher kann man lernen, daß zu einem consonirenden Accord in gehöriger Entfernung und Schwäche des Tones, mancherley Dissonanzen mitgenommen werden können, ohne den Gesang dissonirend zu machen. Wenn in einem Tonstük so viel Stimmen wären, als Register in einer großen Orgel sind, so könnten die Töne in den verschiedenen Stimmen nach Maaßgebung der Mixturen der Orgel sehr füglich vertheilt werden.
Der vielstimmige Gesang hat an sich etwas feyerliches und großes, und ist also vorzüglich bey solchen Gelegenheiten zu gebrauchen, wo die Gemüther [1238] durch große Pracht und Feyerlichkeit ausserordentlich zu rühren sind.
Es ist vielleicht nicht ausgemacht, aber doch höchst wahrscheinlich, daß die Alten keinen vielstimmigen Gesang gehabt haben. Insgemein schreibet man seine Einführung einem englischen Bischoff Dünstan, der im X Jahrhundert gelebt hat, zu. Aber der große Galiläi sagt, daß nach allen von ihm angestellten Untersuchungen sich ergebe, der vielstimmige Gesang sey nicht früher, als 150 Jahre vor seiner Zeit, aufgekommen. Diese Epoche würde gegen das Jahr 1430 fallen.4 Der Abbe Le-Beuf, der sich sehr tief in Untersuchungen über die Beschaffenheit der ältern Kirchenmusik eingelassen, versichert, daß man die ältesten Spuhren des vielstimmigen Gesanges erst gegen Ende des XII Jahrhunderts finde.5 Er soll daher entstanden seyn, daß auf gewissen Stellen der Lieder, besonders am Ende, zwey Stimmen, die sonst durchaus im Unisonus giengen, Terzen gegen einander gesungen haben. Dieses nannte man Organizare in duplo. Wollte man den Schluß auf das Wort Amen, oder Allelujah, dreystimmig machen, so bekam ein dritter Sänger eine Stimme, die um eine Octave höher, als die erste war, und zum vierstimmigen Schluß, wurd auch die zweyte Stimm um eine Octave höher genommen.
Noch im XIV Jahrhundert wurde der vielstimmige Gesang, wie der angeführte französische Schriftsteller beweiset, von vielen für einen Mißbrauch, und für eine Verderbung des alten guten Gesanges gehalten; daher Papst Johannes XXII in einer Bulle vom Jahre 1322 denselben einzuschränken suchte.6